Einführung
Die 1995 erschienene CD-ROM Historische Demographie I führte anhand zahlreicher Schaubilder in die Bevölkerungsvorgänge der letzten Jahrhunderte ein. Als hauptsächlichstes Quellenmaterial dienten dort "harte" Daten: Geburts- und Sterbeeintragungen aus Kirchenbüchern, Angaben zu Lebenserwartungen und Todesursachen aus Statistischen Ämtern, von anderen Forschern publizierte oder eigene Berechnungen über Kinderzahl und Müttersterblichkeit und dergleichen mehr. Kennzeichnend für historische Bevölkerungen ist - wie sich in der ersten CD-ROM immer wieder zeigte - die verglichen mit heute hohe Mortalität und als Folge davon die niedrige durchschnittliche Lebenserwartung. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts betrug sie - mit grossen Abweichungen nach unten und oben - bloss um die 30 bis 40 Jahre. Säuglinge, Kinder, Mütter, Erwachsene allen Alters wurden aufgrund von "Pestilenzen, Hunger, Krieg" immer wieder vorzeitig hinweggerafft.Die CD-ROM Historische Demographie II greift diesen Sachverhalt auf. Im Gegensatz zur ersten CD liegen hier jedoch "weiche" Daten zugrunde. Eine Vielzahl ausgewählter Votivtafeln aus der Wallfahrtskirche von Sammarei (= Sankt Marien; nahe bei Passau in Niederbayern) führt uns drastisch vor Augen, weshalb die durchschnittliche Lebenserwartung in vergangenen Tagen keine 40 Jahre betrug. Dabei wird das gesamte Spektrum alltäglicher Notsituationen illustriert, also nicht nur solche, die unmittelbar zu einem vorzeitigen Tod führten. So sehen wir rührende Bitten um Befreiung aus jahrelanger Schwermut ebenso wie eine grosse Zahl von Haushalts-, Arbeits-, Transport- und Verkehrsunfällen, viele mit lebensqualitätsmindernden Langzeitauswirkungen. Andere Tafeln wiederum zeigen durchbrennende Pferde oder wild gewordene Stiere, beissende Hunde oder ausschlagende Rösser in grosser Zahl; noch andere räuberische An - und Überfälle, Schlägereien und Messerstechereien. Das Spektrum umfasst des weiteren bedrohte Haustierbestände ebenso wie Blitzeinschläge und Feuersbrünste, Lungen - und sehr häufig Augenleiden oder Sehbeschwerden genauso wie Gehbehinderungen wegen Knie- oder Fersenschmerzen, Brandwunden, Verbrühungen, Verbrennungen, in Kriegsgefangenschaft geratene Soldaten und chirurgische Eingriffe mit ungewissem Ausgang. Rührend ist die grosse Besorgtheit um Säuglinge und Frauen in Kindsnöten, überhaupt um alles Irdische und nicht zuletzt um das ewige Seelenheil. Es gibt keine andere Quelle, die uns gleichermassen bildhaft die überall und jederzeit gefährdete Existenz vergangener Zeiten so eindrücklich vor Augen führen und in Erinnerung rufen könnte. Entsprechend umfangreich ist die - meist opulent illustrierte - Literatur zum Votivtafelwesen, insbesondere von volkskundlicher Seite, denn grosse Votivtafel-Sammlungen von oft mehreren hundert Exemplaren befinden sich heute, sofern sie nicht länger wie in Sammarei oder in Andechs an Ort und Stelle aufbewahrt werden, in den volkskundlichen Abteilungen zentraler Museen, so im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, im Bayerischen Nationalmuseum in München beziehungsweise in dessen Zweigmuseum Straubing oder im Staatlichen Museum für Volkskunde in Berlin. Unübertrefflich ist auch die Formulierung eines Volkskundlers, was denn Votivtafeln seien. Edgar Harvolk vom Institut für Volkskunde der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften München nannte sein diesbezügliches Werk im Untertitel kurz und prägnant Bildzeugnisse von Hilfsbedürftigkeit und Gottvertrauen. Gemeinsam mit der früher erschienenen Arbeit des Altersmeisters auf diesem Gebiet, Lenz Kriss-Rettenbeck, erhält man hier eine vorzügliche Einführung in die gesamte Votivtafelthematik. Zu ergänzen wären diese beiden grundlegenden Arbeiten, vor allem im Hinblick auf neuere Literatur, durch eine Publikation aus dem Jahre 1995 von Nina Gockerell, der wissenschaftlichen Betreuerin der Sammlung Religiöse Volkskunde am Bayerischen Nationalmuseum in München, im Hinblick auf ein prinzipiell anderes, nämlich quantitativ-seriell ausgerichtetes Vorgehen allerdings auch durch Arbeiten aus der französischen Mentalitätsgeschichte.
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Votivtafeln
Ihr Zustandekommen verdanken Votivtafeln einem Gelübde ("ex voto" = aufgrund eines Gelöbnisses). In Notsituationen wandte man sich seinerzeit - mangels anderer Möglichkeiten - an überirdische Helfer, an bestimmte Heilige oder an die Muttergottes, damit sie beim Allmächtigen eine Linderung oder Abwendung der Not erwirkten. Wurde die erflehte Hilfe gewährt, musste dies öffentlich bekundet werden. Man gab die Anfertigung der als Dank versprochenen Votivtafel meist bei einem lokalen Handwerker in Auftrag und brachte sie anschliessend für jedermann gut sichtbar in einer (Wallfahrts-) Kirche an.Votivtafeln bestehen in der Regel aus vier Teilen:
Über den Aufbau von Votivtafeln, ihre zeitlich-räumliche
Verteilung, die Hauptvotationsanlässe, die vornehmlich angerufenen überirdischen Helfer und Helferinnen
sowie die wichtigste Votivtafelliteratur geben die folgenden Publikationen erschöpfend Auskunft:
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Die Votivtafeln von Sammarei
In der niederbayerischen Wallfahrtskirche von Sammarei sind noch heute über 1200 Votivtafeln aus dem 17. bis 20. Jahrhundert von oben bis unten dicht an dicht an den Wänden angebracht. Zeitlich konzentrieren sie sich, wie aus der Übersicht hervorgeht, auf die Jahre von etwa 1660 bis gegen 1900, mit einer deutlichen Häufung ab 1770. Verständlicherweise hat denn auch die hier gezeigte Auswahl von Tafeln und Tafelausschnitten ihren Schwerpunkt in diesem rund zweihundertfünzigjährigen Zeitraum. Zusätzliche Beispiele, so etwa in der Diaschau, stammen aber auch aus dem 20. Jahrhundert, das heisst aus einer Zeit, als eine zunehmende Stereotypisierung die Aussagekraft der Bilder - wie neulich am Beispiel Mariazell gezeigt wurde - in unserem Zusammenhang stark vermindert. Immerhin lassen Darstellungen wie der übergrosse Krebs auf einer Tafel von 1986 nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Ein weiteres Phänomen unserer Tage ist das "Recycling" von Votivtafeln. Auf altehrwürdige Bildflächen werden, quasi im Vorübergehen, die Namen heutiger "Votanten" - mit oder ohne Jahreszahl - gekritzelt. Gelegentlich wird dabei auch explizit der "Votationsanlass" mitaufgeführt, so auf einer Tafel von 1770 mit einer Kritzelei aus dem Jahre 1961: "O Maria hilf, daß ich den richtigen Freund finde". Ganz neu ist das Phänomen allerdings nicht. So findet man auf ein- und derselben Tafel von 1840 Zusatzkritzelein von 1842 und von 1942.Im Hinblick auf die vorliegende Auswahl spielte der Erhaltungszustand der Tafeln ebenso eine Rolle wie die jahresmässig exakt datierbare Entstehung. (Man vergleiche nochmals die zeitliche Gliederung mit einer Vielzahl von Tafeln ohne genaue Jahresangabe; Stapel ganz rechts.) Ferner wurde eine angemessene Verteilung auf die wichtigsten Notsituationen angestrebt: Krankheiten unter Mensch und Tier, Gefährdung von Mutter und Kind, Unfälle, Naturgewalten, Krieg und Verbrechen, psychische Leiden, Sorge um das Seelenheil (vgl. den abscrollbaren unteren Teil der Grafik). Ein weiteres Kriterium waren - wenn immer möglich - inhaltlich aussagekräftige Bildtexte. Zwar erklären sich manche Tafeln "von selbst", so insbesondere die zahlreichen minutiös dargestellten Unfälle. Bei anderen hingegen sind schriftliche Zusatzangaben für das Verständnis unerlässlich. Dies trifft vor allem bei inneren Krankheiten oder psychischen Leiden zu, wo im Bild oft nur eine bettlägrige oder eine betende Person abgebildet ist. Wie sollte man da ohne Erläuterungen auf die Ursache der Bettlägrigkeit oder des Betens schliessen können? Die erwähnten Auswahlkriterien machen deutlich, dass eine wie auch immer geartete "Repräsentativität" keine Richtschnur war. Repräsentativ wofür? Für das zeitliche Aufkommen von Votivtafeln? Für Votationsanlässe? Für Votanten aus bestimmten Schichten? Für die Anrufung der Muttergottes von Sammarei, oder derjenigen von Passau, oder von Altötting (alle werden unterschiedlich dargestellt)? Wer weiss denn schon - was für die Beantwortung dieser Fragen unerlässlich wäre -, wieviele Votivtafeln in der Wallfahrtskirche von Sammarei aus welchen Anlässen von wem jemals für wen gelobigt und aufgehängt wurden? Welche wann aus welchen Gründen wohin verschwanden? Dass sie sich ab 1770 häufen, kann möglicherweise ganz einfach damit zusammenhängen, dass ab damals aus Platzgründen ältere Tafeln den neuhinzukommenden sukzessive weichen mussten. Für die Selektion ausschlaggebender waren handfeste Gründe. Wie bei Hans Roth nachzulesen ist, fand 1993 eine im Jahre 1976 begonnene Inventarisierung der Sammareier Votivbilder ihren Abschluss. Zu einem Grundbestand von 1232 Stück waren mittlerweile noch welche hinzugekommen, so dass schliesslich insgesamt 1264 Objekte unter Aufsicht des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege München abgenommen, gereinigt, allenfalls restauriert, nach einheitlichem Schema inventarisiert und dokumentiert sowie vor der Wiederanbringung von Gregor Peda aus Passau fotografiert worden waren. Es ist der Grosszügigkeit dieses Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege unter seinem Geschäftsführer Hans Roth sowie dem verständnisvollen Entgegenkommen weiterer involvierter Kreise wie dem Volkskundler Professor Walter Hartinger von der Universität Passau, dem Leiter des dortigen Bistumsarchivs Dr. Herbert W. Wurster sowie dem ebenfalls in Passau residierenden Generalvikar Lorenz Hüttner und nicht zuletzt dem für Sammarei zuständigen Pfarrer von Rainding, Hans Spielmann, sowie dem Wallfahrtskirchen-Mesner-Ehepaar Lins zu verdanken, dass ein kleines Team von freien Projektmitarbeitern der Universität Berlin weitgehend uneingeschränkten Zugang zu diesem einzigartig aufbereiteten Material in München sowie an Ort und Stelle in Sammarei unter anderem zwecks Neufotografierens von rund 300 Objekten durch Alexander Dannenberg, Berlin, erhielt. Im Hinblick auf die Verwendung ihrer Aufnahmen für die vorliegende CD gebührt den beiden Fotografen Peda und Dannenberg grosser Dank für ihr Entgegenkommen. Bedacht werden muss hier, dass für die Realisierung des Projekts bislang keinerlei Personal- oder Sachmittel verfügbar waren. Nun könnte man einerseits zwar geneigt sein, die vielfältigen Restriktionen zu bedauern, die sich aus den bescheidenen, privat-persönlich aufzubringenden Finanzen ergeben haben. Andererseits kann man indes auch eine alte Redewendung beherzigen und aus der Not eine Tugend machen. Bescheidene Mittel zwingen zur Konzentration auf Wesentlichstes. Wesentlich für eine Bild-CD zur Historischen Demographie aufgrund von Votivtafeln aber ist, einsichtig zu machen, weshalb der Abstand zwischen Geborenwerden und Sterben noch bis vor wenigen Generationen durchschnittlich nur halb so lang war wie heute. Diesbezüglich aber ist die Auswahl der hier gezeigten Tafeln und Tafelausschnitte überaus repräsentativ für die alltäglichen Notsituationen unserer Vorfahren: in erster Linie Krankheiten und Unfällen aller Art. Wen wundert es da angesichts damaliger Ärztewüsten und mangelnder medikamentöser Möglichkeiten, dass die Lebenserwartung nicht höher war? Konzentration auf das wesentliche meint bei einer Bild-CD aber auch, in erster Linie die Bilder - hier die Votivtafeln - sprechen zu lassen. Die eingeblendeten oder aufrufbaren Texte beschränken sich auf knappe Kommentare. Wem das nicht genügt, geht jedoch nicht leer aus. Allenthalben sind Verweise auf weiterführende Literatur eingebaut. Per Mausklick erhält man Einblick in Aufbau und Inhalt der einzeln vorgestellten Werke. Es handelt sich dabei im wesentlichen um neuere Arbeiten zur Bevölkerungsgeschichte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Weiss 1993, Pfister 1994), zum Krankheits- und Todesursachenspektrum sowie zum Gesundheitswesen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Tamm 1992, Bleker et al. 1995, Münch 1995), zur ländlichen Welt vor Anbruch der Moderne (Beck 1993), zur Kultur und zum Alltag in der Frühen Neuzeit (van Dülmen 1994), zu den dörflichen Lebensbedingungen und Lebensstilen (Maisch 1992, Schnyder-Burghartz 1992), zu Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne (Sabean 1990, Hennings 1995), zu Bauern und Heuerleuten, ihren Höfen, Familien, Lebensläufen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schlumbohm 1994), zur historisch-anthropologischen Protestforschung (Fenske 1999) sowie schliesslich zum Alltag von Bäuerinnen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Bidlingmaier 1993). - Neben diesen Hinweisen traditioneller Art auf gedruckte Literatur findet sich am Ende überdies eine Zusammenstellung weiterführender Online-Links.
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Die "gute alte Zeit": Wer möchte mit ihr tauschen?
Bei einer Durchsicht der präsentierten Literatur ergibt sich bald, dass zwar der Zeitraum, aus dem die ausgewählten Votivtafeln stammen, weitestgehend abgedeckt ist und dass auch inhaltlich ausgiebig über den bäuerlich-dörflichen Alltag und somit über den Hintergrund der meisten Votationsanlässe sowie über die damalige volksreligiöse Glaubenswelt (Schreiner 1994, Hartinger 1992, Lefèvre 1995) als Votationsnährboden gehandelt wird (Angenendt 1994). Doch nur relativ wenig davon hat direkt etwas mit Sammarei zu tun (wie Kalhammer 1989, Schäffer/Peda 1990, Roth 1993). Während Rainer Becks umfangreiche Untersuchung zur ländlichen Welt vor Anbruch der Moderne (1993) immerhin noch im bayerischen Unterfinning spielt, so sind tiefschürfende andere Studien auf der schwäbischen Alb, in württembergischen Gemeinden oder auf der Basler Landschaft angesiedelt (Medick 1996, Maisch 1992, Bidlingmaeier 1918/1993, Schnyder-Burghartz 1992). Noch andere handeln gar in Schleswig-Holstein oder im Osnabrückischen (Hennings 1995, Schlumbohm 1994) beziehungsweise im Dorf Waake bei Göttingen (Fenske 1999). Und die Angaben zu Kranken und Krankheiten, zu den zeitgenössischen medizinischen und medikamentösen Möglichkeiten sowie zum Gesundheitswesen schliesslich beziehen sich - hauptsächlich aus Quellengründen - auf städtische Verhältnisse in Hannover, Würzburg und Berlin (Tamm 1992, Bleker 1995, Münch 1995).In unserem Zusammenhang ist dieser Sachverhalt indes kein Nachteil, heissen Titel und Untertitel der CD-ROM doch Historische Demographie II. Unsere Vorfahren in Notsituationen - eine Bilddatenbank zum Alltag vom 17.-20. Jahrhundert. Visualisiert werden folglich die alltäglichen Notsituationen, mit denen unsere Vorfahren zu ihrer Zeit fertig werden mussten, in Bayern genauso wie in Württemberg, auf der Basler Landschaft nicht anders als im Osnabrückischen: mit Unbilden der Natur, mit fehlgeschlagenen Ernten, mit kriegerischen Auswirkungen, mit Schwangerschaftskomplikationen und schweren Geburten, mit Unfällen und schliesslich immer wieder mit Krankheiten aller Art, die in und um Sammarei nicht prinzipiell andere waren als in Hannover, Würzburg und Berlin. Insofern passen die "auswärtigen" Schilderungen sehr wohl ins Bild. Was die CD-ROM mitsamt Farbmonitor indes zusätzlich können, ist das beispielhafte Voraugenführen jener lebensbedrohenden Krankheiten unter Mensch und Tier, jener lebensqualitätsvermindernden Arbeits- und Verkehrsunfälle, jener Mutter- und Kindgefährdungen, jener verbrecherischen Überfälle, Unbilden der Natur, kriegerischen Auswirkungen. Und wozu das hierdurch mögliche geduldige Betrachten und Sichvertiefen schliesslich führen sollen, ist, in uns die Frage zu wecken, was wir zwischenzeitlich gewonnen haben. Historisch-demographisch lässt sich die Frage leicht beantworten. Allein seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei uns mehr als verdoppelt. Die Sterbealter liegen gebündelter denn je auf einer nie zuvor erreichten Höhe von 70, 80 und mehr Jahren. Lapidar spricht Reinhard Spree vom Rückzug des Todes. Wiewohl vor solchem Hintergrund wahrscheinlich niemand mehr mit der angeblich "guten alten Zeit" tauschen möchte, bleibt eine Frage ganz anderer Art doch offen. Votivtafeln sind schliesslich nicht nur Bildzeugnisse von Hilfsbedürftigkeit, sondern - wie es Edgar Harvolk in einem Atemzug nennt - auch von Gottvertrauen. Die vielfältigen Hilfsbedürftigkeiten früherer Zeiten sind mittlerweile grossenteils verschwunden - und mit ihnen bei den meisten von uns auch das Gottvertrauen. Es ist nicht Aufgabe der CD-ROM, die Frage zu beantworten, wie wir nach dem Wandel von der unsicheren zur sichereren Lebenszeit nunmehr Stabilität in unseren ja keineswegs sorgen- und nötefreien Existenzen erzielen. Wenn der Umgang mit der Bilddatenbank indes bei vielen nicht nur zu dieser Frage, sondern auch zur Suche nach einer Antwort führt, dann hat sie eines ihrer wesentlichsten Ziele erreicht.
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Damit wir uns nicht falsch verstehen
Obwohl es für eine CD-ROM ein leichtes wäre, mit farbigen Hochglanzpublikationen über das vermeintlich "unbeschwerte Alltagsleben" unserer Vorfahren in der "guten alten Zeit" zu konkurrieren, ist das hier - wie mittlerweile deutlich geworden sein müsste - nicht die Absicht. Ebenso wenig geht es allerdings darum, konterkarierend laufend ausgemergelte, verbitterte, verängstigte Menschen aus "Pest, Hunger und Krieg"-geprägten Tagen vor Augen zu führen; Menschen, die häufiger als nicht in Hütten hausten, die von Hygiene wenig Ahnung hatten, die das von Missernten und Seuchen gleichermassen gezeichnete Vieh in übelriechende Ställe pferchten, die ihre Kinder barfuss und in Lumpen herumlaufen liessen, die jeden Schicksalsschlag gottergeben auf sich nahmen, die gläubig - oft auch abergläubisch -, gewiss aber nicht gebildet waren. Selbst wenn und wo dem so gewesen sein mochte, hätten die Votanten sich und ihre Umgebung doch niemals entsprechend "realistisch" darstellen lassen. Schliesslich wurden die Votivtafeln nach Fertigstellung in einem geweihten Gotteshaus angebracht, und zwar zur grösseren Ehre des hilfreichen Vermittlers oder der erfolgreichen Vermittlerin. Wie auch hätte man sich dabei den überirdischen Patronen in Lumpen präsentieren können? Genauso wenig sähe man je eine an Durchfall leidende Person abgebildet, obwohl der Sachverhalt an sich gewiss häufig genug der Anlass einer Votation gewesen sein mochte. Das ziemte sich nicht. Eine im Bett liegende Person musste als Versatzstück genügen.Selbst wenn die CD-ROM solch naserümpfenden Hochmut von Nachgeborenen vermeidet, soll dadurch doch nie die brutale Tatsache verniedlicht werden, dass die damalige durchschnittliche Lebenserwartung nun einmal nur die Hälfte der unsrigen betrug, und dass dies Gründe hatte. Kiloschwere Hochglanzpublikationen tendieren dazu, verkaufsträchtige Inhalte zu bieten. Anstössiges, Unappetitliches, Irritierendes lässt man lieber beiseite. So wird man im umfangreichen, thematisch unser Gebiet betreffenden Band Deutsche Geschichte in Bildern vergeblich nach Darstellungen des mühsamen Lebens auf dem Lande in früheren Jahrhunderten suchen - obwohl die Mehrheit unserer Vorfahren dort lebte. Fündig wird man dagegen bei Themen wie "Luxusgewerbe in Sachsen" oder "Barocke Hofkultur". Nicht ganz so exklusiv wird im österreichischen Band Alltag im Barock verfahren. Er enthält reich illustrierte Kapitel unter anderem zu "Säuglingspflege und Kinderalltag" oder "Körperpflege und Hygiene". Doch auch hier betrifft der Inhalt eher die städtischen (Wiener) Mittel- und Oberschichten als die Bauern auf dem Land. Ein weiterer schwergewichtiger Band mit dem neugierig machenden Titel Bilderwelt des Alltags aus der Reihe Studien zur Geschichte des Alltags hat die Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zum Hauptgegenstand. Dafür taugen unangenehme Situationen ebenfalls wenig. So bleibt auch dieses Werk für unsere Belange eher unergiebig. Wird man nach hartnäckigem Suchen endlich doch fündig und stösst auf die eine oder andere Hochglanzpublikation zum bäuerlichen Alltag vergangener Tage, dann wird einem bald klar, dass die darin enthaltenen Bildreproduktionen (höchst selten Photographien; wer photographierte denn schon Bauern?) kaum je als bare Münze genommen werden dürfen. Je nach Zeitraum, Maler und anvisierter Käuferschaft sollten die Bilder eine Botschaft vermitteln, das eine Mal allegorisch, ein andermal nostalgisch, ein drittes Mal symbolisch-moralisch, ein viertes Mal realistisch-appellativ. Wer auch wollte es den Künstlern verübeln, dass sie beim Entstehen ihrer Werke (seit Jahrhunderten) eine gut betuchte Kundschaft im Auge hatten, denn schliesslich wollten sie ihre Arbeiten auch verkaufen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gelang dies einer Reihe von ihnen so gut, dass am Ende des 20. ihrer Produktion ein eigenes Museum gewidmet wurde. Nach seiner Eröffnung 1995 zeigte das Dahesh Museum in New York als eine der ersten Sonderausstellungen Pleasures of Rural Life. Domestic Scences and Animals in Academic Art. In ihren Idyllen erinnerten manche Werke (so etwa von Adolphe-William Bouguereau, 1825-1905) an die zeitlich parallelen und von harten Alltagsrealitäten oft nicht weniger weit entfernten Arbeiten der Impressionisten oder an entsprechende Bilder der Worpsweder Maler. In diesem Umfeld ist die CD-ROM Historische Demographie II angesiedelt. Sie gibt sich nicht pathetisch, nicht entrüstet, nicht anklagend, aber sie präsentiert auch keine "gute alte Zeit". Vielmehr ruft die Bilddatenbank 300 Mal in Erinnerung, wie prekär der Alltag unserer Vorfahren war, wie ungleich ungesicherter ihre Existenz im Vergleich zu heute. Sie hatten im Durchschnitt ein halbes Leben zu leben; und auch diese eine Hälfte sah nicht gut aus. Und trotzdem liessen sie sich nicht unterkriegen. Die Absicht der CD-ROM ist es, uns diesen Sachverhalt unter Zuhilfenahme neuer Technologien noch und noch vor Augen zu führen. Wir haben wenig Grund, uns über unsere Vorfahren zu mokieren.
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Der HTML-Text als Brücke zwischen CD-ROM und World Wide Web
Eine CD-ROM mit ihren Speichermöglichkeiten von über 600 Megabytes ist derzeit zwar ein ideales Medium für eine Bilddatenbank wie die vorliegende. Die darauf ein- für allemal festgehaltenen Votivtafeln beziehungsweise Votivtafelteile ändern ihr Aussehen auch im Original nicht mehr. Insofern behält die CD ihre Gültigkeit über Jahre hinweg.Anders verhält es sich mit den Erläuterungen zu den Tafeln, mit wissenschaftlichen Kommentaren zum Votivwesen oder zur Volksfrömmigkeit, mit neuen Forschungsergebnissen aus der eigenen oder ergänzenden Aspekten aus einer benachbarten Disziplin, ganz zu schweigen von immer neu hinzukommenden bibliographischen Angaben. Was heute noch aktueller Stand ist, kann morgen schon überholt sein. Um diesem Dilemma des raschen Veraltens zu entgehen, wird hier mit der Kombination von CD-ROM und World Wide Web ein neuer Weg beschritten. Als Brücke zwischen beiden Technologien dient dieser Text, der in der WWW-üblichen HTML-Sprache geschrieben und folglich mit Hilfe eines marktüblichen WWW-Browsers (empfohlen wird Netscape) zu lesen ist. Die darin enthaltenen Basisinformationen verstehen sich als Plattform, die jederzeit durch (ebenfalls im HTML-Format geschriebene) Partien aus dem World Wide Web ergänzt, aktualisiert oder gemäss eigenen Interessen erweitert und vertieft werden kann. Ohne je das geöffnete Browser-Fenster am heimischen Monitor verlassen zu müssen, kann beliebig zwischen CD-ROM-offline und WWW-online hin- und hergewechselt werden: von den Votivtafeln und Basisinformationen ab der CD zu den alleraktuellsten Ergänzungen beziehungsweise Illustrationen aus dem World Wide Web - und wieder zurück.
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Bern: Berner Lehrmittel- und Medienverlag / Paul Haupt 1997.
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Begonnen: 8. Dezember 1995 |