MUSEUM FÜR VOLKSKUNDE BERLIN |
|
Votivtafeln
|
|
---|
Text: Edgar Harvolk (Bilderheft 32, 1977) |
Inhalt |
VorwortDass das Museum für Volkskunde heute über einen grossen Bestand an bayerischen und österreichischen Votivtafeln verfügt, darf angesichts der hohen Kriegsverluste dieses Museums als besonderer Glücksfall bezeichnet werden. Die wertvolle Sammlung, hauptsächlich Schenkungen von Marie Andree-Eysn, befand sich in den ausgelagerten Kisten, die 1959 aus Wiesbaden nach Berlin zurückgeführt wurden.In den folgenden Jahren des Wiederaufbaus trat das Museum mit zwei Ausstellungen an die Öffentlichkeit. Die Jubiläumsausstellung "Volkskunst und Volkshandwerk" 1964 zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen des Museums im Uraniahaus zeigte in ihrer Abteilung "Malerei und Graphik" 62 Votivbilder, wovon 58 aus dem Vorkriegsbestand stammen. Unter den 11 Tafeln, die in der Ausstellung des Jahres 1967, "Kostbares Volksgut", zu sehen waren, befanden sich bereits 7 Nachkriegserwerbungen, vornehmlich Ankäufe aus der Sammlung Busse. Auch in der Folgezeit nahm der damalige Direktor Lothar Pretzell immer wieder Möglichkeiten zur Erweiterung des Votivbetands wahr. Zur Volkskunstausstellung anlässlich der Olympischen Spiele 1968 in Mexiko entsandte er 31 Tafeln als Leihgabe und schrieb den Katalog. Damit war die Bedeutung der Berliner Sammlung auch auf internationaler Ebene dokumentiert. Zur Wiedereröffnung des Museums für (Deutsche) Volkskunde im April 1976 war im neuen Haus in Dahlem die befristete Sonderausstellung "Votivtafeln aus Bayern und Österreich" aufgebaut worden, die 120 Exponate aus der mittlerweile auf nahezu 300 Tafeln angewachsenen Sammlung zeigte. Es erscheint sinnvoll, dem Thema auch ein Bilderheft zu widmen, das zur Betrachtung einzelner Beispiele anregen will. Dies kann das zur jüngsten Ausstellung erschienene Führungsblatt nicht leisten, da es dem Besucher nur in knapper Form die zum Verständnis der Exponate nötigen Informationen gibt. Das Bilderheft mit seiner gezielten Auswahl dagegen will als Einführung in die Thematik verstanden werden. |
Votation
Wir bezeichnen die Votivbilder als Tafeln. Damit ist bereits etwas über die gebräuchlichste Art ihrer Herstellung ausgesagt: unter einem Tafelbild versteht man ein Gemälde auf Holz. Das Votivbild ist also gewöhnlich ein kleinformatiges Tafelbild. Gelegentlich wurde jedoch auf Leinwand oder Blech gemalt. Auch andere Materialien und Techniken kommen vor. Abbildung 1 beispielsweise zeigt ein Hinterglasbild. Die Hinterglasmalerei erfordert einige Übung, denn da das Bild sozusagen auf der Rückseite gemalt wird, müssen Buchstaben spiegelverkehrt geschrieben werden. Als der Maler unseres niederbayerischen Votivbildes seine fertige Arbeit umdrehte, musste er erkennen, dass ihm die beiden N in ANNO missglückt sind. Nicht alle Votivbilder sind also eigentlich Tafeln, aber der Begriff Votivtafeln ist als Sammelbezeichnung so geläufig, dass wir ihn hier trotzdem als Überschrift beibehalten dürfen.Nun zu dem Wort Votiv. Es leitet sich ebenso wie Votant und Votation von dem lateinischen Wort für Gelübde ab: votum. Der Votant ist die Person, die ein Gelübde ablegt. Mit dem Votiv, das der Votant an heiliger Stätte darbringt, löst er das im Gelübde gegebene Versprechen vor aller Welt sichtbar ein. Der gesamte Vorgang heisst Votation. Votive sind nicht immer Bilder. Es kann sich dabei um wertvolle Gegenstände handeln, von denen man sich "ex voto" (auf Grund eines Gelübdes) trennt, indem man sie dankend oder bittend am Gnadenort hinterlegt. Andere Votive sind kleine Plastiken aus Wachs, Holz oder Metall. Sie stellen dar, was den Votanten zu seinem Gelübde veranlasst hat. Da gibt es menschliche Körperteile, Arme und Beine, Augen und Ohren, Lungen und andere Organe. Die Darbringung eines derartigen Votivs ist das sichtbare Zeichen einer Bitte um Genesung oder eines Dankes für die Heilung. Neben erkankten Körperteilen wurden ganze Figuren nachgeformt. Ein Beispiel sind die kleinen wächsernen Wickelkinder. Angesichts der früher sehr hohen Säuglingssterblichkeit drückte sich nicht selten die Sorge um das Neugeborene auf diese Weise aus. Schliesslich gibt es noch Miniaturnachbildungen von Häusern und von Haustieren, mit denen Schutz des bedrohten Eigentums erbeten oder Dank für dessen Rettung abgestattet wurde. Zu den Votiven, denen man den Grund der Votation ansehen kann, gehören auch die meisten Votivtafeln. Die als Abbildung 2 vorgestellte Tafeln entspricht dem modelgeformten Wachsaugenpaar (vgl. Abbildung 3). Die Gefährdung neugeborener Kinder wird in wächsernen Statuetten ebenso sichtbar wie auf den Tafeln, auf denen Wickelkinder dargestellt sind (vgl. Abbildung 4). Merkwürdig ist eine Tafel aus der Weltenburger Gegend (vgl. Abbildung 10), mit der ein erwachsener Mann seine Rettung gleich nach der Geburt durch folgenden Text publik macht:
Mit der Formulierung "anempfehlen" oder "anheimstellen" (sich, jemand, etwas) ist der Charakter der Votation gut beschrieben. Die Anheimstellung an eine höhere Macht kann aus verschiedenen Gründen vollzogen werden. Ein plötzlicher Arbeitsunfall, wie ihn Abbildung 13 zeigt und beschreibt, kann der Grund zur Anheimstellung sein. Laut Text ist 1752 folgendes vorgefallen:
Eine sehr alte Bittafel stammt aus Niederbayern (vgl. Abbildung 17). Der Grafenauer Glashändler Keizl hat sich darauf mit seinem Fuhrwerk darstellen lassen. Unter dem Bild steht folgender Text:
|
Anno 1875 verlobten sich zwei gewisse Personen wegen zwei kranken Pferde, und wurden durch die Fürbitte der sl. Gottes-Mutter v. Maria Blain wiederum gesund. Gott u. der sl. Mutter-Gottes sei ewig Dank. |
Das ist aber nicht immer so. Sehr ausführlich beschreibt die als Abbildung 15 gezeigte Votivtafel das Geschehen:
Anna Nimmerfall, Bauers Tochter von Hiegiessing der Pfarr Aukirchen, verlobte sich zu der Gnadenvolen Mutter zu Altenötting, wegen einen grossen Unglück, weil sie ihr den 16ten July 1837 unvorsichtig eine Nadl in Hals gerent hat, die Docktor haben sie tief in Hals geschnitten und 2 Stund gearbeittet, die Nadl doch nicht heraus gebracht, aber durch die Vorbitt Maria nach 3 Wochen von sich selbst glücklich heraus komen, wie es noch zu sehen ist. Gott u. der seligsten Jungfrau Maria sey ewigen Danck gesagt. Anno 1837. |
Manche Tafeln wären ohne Text gar nicht verständlich. Dass es sich bei Abbildung 22 um die Anheimstellung eines Toten handelt, ist nur der Beschriftung zu entnehmen:
Anno 1703; den 13. december ist georg N. zu Amkhofen vnder die Pferdt gefallen vnd dodt gebliben, Ist Alhero verlobt vnd versprochen. |
Abbildung 7 ist ein ähnlicher Fall. Das Bild mit der zu Bett liegenden Frau lässt an ein Gelübde wegen Krankheit denken. Tatsächlich aber war, wie uns der Text verrät, nicht das Leiden der Patientin, sondern die Bedrohung des Viehbestandes der Anlass zur Votation:
Zu Maria Hilf, und den H. Leonard, haben zwey Eheleute ihre Zuflucht genohmen, wegen grossen Anliegen ihres Viehes, sind erhöret worden. 1843. |
Der Verzicht auf die gesonderte bildliche Wiedergabe oder Beschreibung des Vorfalls, dessentwegen das Gelübde abgelegt wurde, muss aber nicht unbedingt die völlige Unkenntnis des Votationsgrundes zur Folge haben. Zwar können wir mangels Darstellung und Text nicht entscheiden, ob der Votant auf Abbildung 20 sich bei einem Sturz verletzt oder ob eine Entzündung ihn gehunfähig gemacht hat, ob der Knöchel gestaucht oder angebrochen ist, doch immerhin lassen sich die nicht näher begründeten Beinbeschwerden als Anlass für die Anheimstellung ablesen.
Einer derart eingeschränkten Kennzeichnung des Votationsgrundes stehen wir auch bei den zahlreichen Tafeln mit der Darstellung Bettlägeriger gegenüber, falls nicht der Text oder ein Bilddetail näheren Aufschluss geben. So wissen wir beispielsweise nicht, welcher Art die langwierige schwere Krankheit war, die im Jahre 1689 die Salzburger Witwe auf Abbildung 14 zur "Verlobung" nach Maria Gern bei Berchtesgaden veranlasst hat.
Wir haben schon beobachtet, dass die Votanten sich in betender Haltung befinden: meist kniend, die Hände gefaltet, oft mit dem Rosenkranz, den Blick nach oben gerichtet. Aufmerksamkeit verdient auch die Umgebung des Votanten. Sie kann Teil der Kennzeichnung des Votationsgrundes sein, etwa wenn es sich um ein Krankenzimmer, eine Gefängnis oder einen bestimmten Kriegsschauplatz handelt. Oft aber befinden sich die Votanten in neutralen Räumen oder Landschaften. Die obere Bildhälfte gehört der Erscheinung der himmlischen Person. Betrachten wir nochmals unser Musterbeispiel Abbildung 21. Der Himmel wirkt geradezu aufgerissen; hell leuchtet das ringförmig von Wolken gesäumte Lichtloch, heller noch strahlt der Heiligenschein der Gottesmutter. Wenn auch der Durchbruch des Überirdischen nicht auf allen Tafeln gleichermassen eindrucksvoll verbildlicht ist, so kehren doch meist die Elemente Licht und Wolken wieder. Das Gnadenbild steht auf einer Wolkengirlande (vgl. Abbildung 15), einer Wolkenbank (vgl. Abbildung 18) oder einem kleinen Wolkenbausch (vgl. Abbildung 26). Die Wolkenfront als Grenzzone zwischen den beiden Welten wird von Lichtstrahlen durchbrochen, die von der himmlischen Erscheinung auf den Votanten beziehungsweise auf das Votationsobjekt fallen. Eine Besonderheit weist wiederum die Tafel Abbildung 10 auf. Der Gnadenstrahl ist gleichsam ein Spruchband, auf dem rot geschrieben steht: Schreye zue mir: ich will helfen dir.
Zu dieser gnadenreichen Mutter Maria Hilf, in dieser hl. Kapelen, hat eine gewisse Weibsperson hieher ihre Zuflucht genohmen, weil ihre Schwester lange Zeit ihres Verstandes gänzlich beraubet war, und ist durch die Fürbitte Maria! diese ihre Schwester, von diesem grossen Übel gnädig befreyet worden. 1848. Gott und Maria! sey ewig Dank gesagt. |
Zu den häufigsten Gründen für Votationen zählen neben Krankheiten die Unfälle jeglicher Art. Die Tafel aus Kleinhöhenkirchen mit dem vom Mühlrad erfassten und wunderbar erretteten Laurentius Sex (vgl. nochmals Abbildung 13) haben wir bereits erwähnt. Vom selben Gnadenort stammt eine Tafel mit der Darstellung eines Transportunfalls. Der Text lautet:
Baulus gärner von Sollach hatte dass vnglück, dass ihme ein mit 4 pferdten shwerbeladner wagen sambt einen grossen fass wasser auf den Eis gerutshet, vnd yber einen hochen berg hinabgepurtzlet, 2 pferdt wurdten zugleich mit hinunder gerissen, in solchen Ellend verlobte er sich zu der gnaden Muetter nach Hehenkhirchen, nach abgelegten gelibd seint beyde pferdt glikhlich ohne shaden errettet worden, gott vnd mariae Seye ewiger danckh gesagt. Anno 1755. |
Ein weiteres Beispiel ist die Tafel Abbildung 25, die einen mit Fässern beladenen Wagen darstellt. Die Votantin ist zweimal zu sehen, einmal im Augenblick des Unfalls, dann auf einer Betbank kniend. Unter dem Bild ist die Beschreibung des Vorgangs:
Ein Weib Rufte Jesus, und Maria um Hilf an als ein geladner Wagen über ihren rechten Fuss gieng, und auch an Kopf verletzt wurd, aber balt Kurird. Gott sey es gedankt, 1818. |
Jose: Neubauer v. Hochbur: welch: d: Glokenzuk machte, durch unglüklicher Weise v. dem Dache Stürzte, u. dadurch 3 Rippen ledirte, durch Fürbitte Gnädig erhöret worden. A 1859. |
Maria Feichtner von Panzing fiel den 29ten April 1855 von Baum herunter u. auf Fürbit Maria blieb sie unbesch(...). |
Anna Maria Hager, Meindlbäuerin in Hochburg wurde am 27ten Juni 1868 durch einen Stier verunglückt. Um 6 Uhr Abends, liess Sie den Stier zur Kuh heraus, da stiess Sie derselbe zu Boden, u: schleiderte Sie im Hof herum, die Tochter schrie um Hilfe, bis die Nachbarleute kammen. Sie lag 3 Stunden Bewusstlos, dan empfand Sie erst Schmerzen, und war im ganzen Leibe voll Wunden u: Flecken. Sie verlobte sich zur Maria Hilf Kappelle hieher, und ist wieder gesund geworden. Gott und Maria sei ewiger Dank. |
Der Betrachtung einzelner Tafeln müssen wir etwas Grundsätzliches voranstellen. Die Votivtafel mit dem betenden Votanten vor der Gestalt eines Heiligen könnte nämlich leicht missverstanden werden. Auf den ersten Blick scheint diese Bildform zu bestätigen, was nicht selten irrtümlich behauptet wird: dass die Katholiken die Heiligen anbeten. Tatsächlich aber gilt das Gebet der Gottheit, während der Heilige nur als Mittelsmann beansprucht wird. Die katholische Glaubenslehre sagt, dass die Heiligen und Seligen für die Menschen bei Gott fürbitten. Selbstverständlich kann der Gläubige auch unmittelbar die höchste Instanz ansprechen. Wie eben bemerkt, gibt es Votivtafeln, auf denen die göttlichen Personen in Erscheinung treten. Der bevorzugte Weg aber führte ganz offensichtlich über einen Gott in jeder Hinsicht näherstehenden Fürbitter. Die Heiligen und Seligen auf den Tafeln sind sozusagen die Schaltstellen und Verstärker des Menschen, der sich letztlich an den Allmächtigen wendet. Die typische Darstellungsweise des Votivbildes ist also eine formelhafte Verkürzung. Unmissverständlich aber sind Texte wie durch die bitte des Heil: Leonhart Gott sei Danck (vgl. Abbildung 32). Der Begriff "Fürbitte" ist auf vielen der abgebildeten Tafeln zu lesen. Formeln wie Dank sey Gott u. Maria! (vgl. Abbildung 6) sind ebenfalls typisch: erst der Retter, dann die Fürbitterin.
Grundsätzlich kann sich der Mensch in jeder Notlage an jeden Heiligen wenden. Jedoch ist es üblich, dass für bestimmte Anliegen bestimmte Heilige als Fürbitter in Anspruch genommen werden. Dazu ein Beispiel. Nicht zufällig ist der Heilige Leonhard auf unseren Tafeln besonders häufig dargestellt. Die hohe Popularität bei der Landbevölkerung verdankt er seinem Ruf als bewährter Schutzheiliger der Pferde und Rinder. Als den Bayerischen Herrgott hat man ihn bezeichnet, weil zahlreiche Kirchen und Kapellen in Bayern seinen Namen tragen. Noch heute finden am 6. November mancherorts Umritte zu Ehren des Heiligen statt. Der berühmteste unter diesen Bräuchen ist die Tölzer Leonhardifahrt.
Leonhard kam auf Umwegen zum Viehpatronat. Dass er Schutzheiliger von Kranken (vgl. Abbildung 11) und vor allem von Gefangenen wurde, geht auf seine Lebensbeschreibung zurück. Im 6. Jahrhundert liess sich der fränkische Edelmann taufen und zum Priester weihen, vollbrachte Wunderheilungen und befreite mit königlicher Erlaubnis Gefangene, um sie - zeitgemäss ausgedrückt - zu resozialisieren. Schliesslich zog er sich in die Einsamkeit zurück und gründete ein Kloster. Gewöhnlich wird er im Mönchsgewand mit dem Abtstab und einer Kette abgebildet. Im 11. Jahrhundert setzte in Süddeutschland seine Verehrung ein, doch war er zunächst noch kein Schutzheiliger des Viehs. Dieses Patronat kam erst im Spätmittelalter hinzu. Es wird vermutet, dass die Gefangenenkette, die er am Arm trägt, zur Stallkette umgedeutet wurde.
Überhaupt kann man sagen, dass Missverständnisse nicht selten zu Patronaten geführt haben. So lässt sich vielfach das Entstehen volkstümlicher Heiligenkulte gar nicht mehr genau feststellen. Hat ein Heiliger sich erst einmal in einem bestimmten Wirkungskreis bewährt, so war ihm die Anhänglichkeit der Gläubigen sicher - unabhängig davon, ob die Amtskirche dies ablehnte, duldete oder förderte. Geduldet, wenn auch nie offiziell anerkannt, war die Verehrung der Heiligen Kümmernis, jener christlichen Prinzessin, die einem Heiden vermählt werden sollte. Durch das Wunder plötzlichen Bartwuchses entging sie dieser Ehe, wurde aber von ihrem Vater zum Tode durch Kreuzigung verurteilt. Abbildung 35 zeigt die bärtige Heilige im Langkleid, mit Stricken ans Kreuz gebunden. Bartlos, durch die Dornenkrone Christus ähnlich, sehen wir sie auf Abbildung 33 ans Kreuz genagelt.
Über die Entstehung der Legende existieren verschiedene Anschauungen. Die heute gängige Meinung betrachtet das Bildnis der Kümmernis als eine missverstandene altertümliche Darstellung Christi, die ihn bekleidet, beschuht und gekrönt als Triumphierenden am Kreuz zeigt. Die Lebensbeschreibung der Kümmernis ist demnach völlig frei erfunden. Das sie von kirchlicher Seite nicht kanonisiert war, tat der grossen Popularität der Kümmernis keinen Abbruch. Wer immer sich ihr anvertraute in seinem Kummer, wozu ihr Name ja auffordert, war sicher, ebenso erhört zu werden wie jener arme Musikant, von dem eine Legende erzählt, er habe vor dem Kultbilde gespielt und dafür einen kostbaren Schuh der Heiligen erhalten. Abbildung 36 stellt diese Szene dar. Der kniende Mann mit der Geige ist also nicht der Votant und Stifter der Tafel!
Besonderes Vertrauen hatten die Gläubigen zu Maria, um deren Fürbitte an zahlreichen Gnadenstätten geworben wurde - in dem weithin berühmten bayerischen Wallfahrtsort Altötting ebenso wie in vielen kleinen Kapellen. Oft erscheint sie auf Votivtafeln zusammen mit einem speziellen Patron, so etwa dem Heiligen Leonhard auf den in Viehnöten versprochenen Tafeln Abbildungen 5, 6 und 7. Die Muttergottes mit dem Jesuskind kommt in mannigfachen Darstellungen vor. In diese Gruppe gehört das Altöttinger Gnadenbild (vgl. Abbildungen 15 und 16) ebenso wie die Maria-Hilf. Dieser Typus ist ein Beispiel dafür, wie durch Kopien ein Gnadenbild zu weiter Verbreitung gelangen konnte. Das erste Kultzentrum war Passau, wo eine Kopie des Gemäldes von Lucas Cranach dem Älteren verehrt wurde, das sich heute in der Jakobskirche zu Innsbruck befindet. Das Passauer Gnadenbild wurde nun seinerseits immer wieder kopiert, und so kam es vielerorts zur Verehrung der Maria-Hilf (vgl. Abbildungen 5, 6, 7, 8, 28 und 31).
Kopien einer byzantinischen Ikone, die 1499 von der Insel Kreta in die Matthäuskirche zu Rom gekommen war, erfreuten sich besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneut grosser Beliebtheit. Dieser Typ heisst "Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe" und erscheint auf einem blechernen Votivbild von 1885 in Verbindung mit der Heiligen Kümmernis (vgl. Abbildung 33). An anderen Wallfahrtsorten wurde Maria in Gestalt der Schmerzhaften Muttergottes verehrt, deren Brust von einem (vgl. Abbildung 25 oder von sieben Schwertern durchbohrt ist (vgl. Abbildung 20 und Abbildung 34); in der volkstümlichen Wiedergabe kommt oft noch das Tränentüchlein hinzu (vgl. Abbildung 25). Keine Schmerzhafte, sondern eine verklärte Muttergottes mit Krone zeigt die Pietà auf einer niederbayerischen (?) Tafel (vgl. Abbildung 38). Den Bildnissen Mariens als irdische Mutter des neugeborenen, leidenden und toten Christus steht das Bild ihrer Krönung zur Himmelskönigin durch die Heilige Dreifaltigkeit gegenüber (vgl. Abbildung 22).
Mit der Darstellung (oder schriftlichen Nennung wie auf Abbildung 29) der Dreifaltigkeit haben wir die schon erwähnte unmittelbare Hinwendung an die Gottheit vor uns. Eine niederbayerische Tafel von 1701 (vgl. Abbildung 39) zeigt in der linken Bildhälfte den Votanten, der betend auf dem Fussboden kniet. Auf den breiten grauen Wolken, die das Lichtloch säumen, sehen wir die Erscheinung des weissbärtigen Gottvaters mit der Weltkugel, Christi mit dem Kreuz und des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube. Ein anderer Bildtypus begegnet uns auf einer oberbayerischen Tafel von 1852 (vgl. Abbildung 40). Die göttlichen Personen erscheinen hier als drei völlig gleich aussehende Männer. Solche Darstellungen gab es in der abendländischen Kunst seit dem frühen Mittelalter, wurden jedoch in der Barockzeit seltener. Zu den bekanntesten derartigen barocken Dreifaltigkeitsgruppen zählt die zu Weihenlinden in Oberbayern, einer seit dem 18. Jahrhundert stark besuchten Wallfahrtskirche. Auf älteren Votivtafeln ist gewöhnlich über dem eigentlichen Gnadenbild, einer Muttergottes mit Kind, die Dreifaltigkeit dargestellt. Unser Bild des Jahres 1852 erfüllt dieses Schema nicht mehr und benügt sich mit einer recht mässigen Wiedergabe der Dreiergruppe. Diese Votivtafel belegt die noch im 19. Jahhrundert herrschende Verehrung der drei bärtigen Tiaraträger, obschon bereits 1745 Papst Benedikt XIV. vor einer solchen Verbildlichung der Dreifaltigkeit gewarnt hatte.
Von den Votivtafeln mit der Dreifaltigkeit unterscheiden müssen wir jene Tafeln, die Christus an einer Station seines irdischen Lebensweges, vornehmlich in seinem Leiden, zeigen. Als Beispiel betrachte man Abbildung 9. Der Eingekerkerte ist hier nicht als Gottheit, wie in den Dreifaltigkeitsbildern, sondern als besonders einflussreicher Fürbitter gedacht.
Auf den Votivtafeln erscheinen aber nicht nur göttliche, heilige und selige Personen, sondern mitunter auch heilige Gegenstände. Ein Biespiel sind die drei heiligen Hostien von Andechs. Wir sehen sie auf einer Tafel des Jahres 1869 (vgl. Abbildung 41) mit einem bäuerlichen Votantenpaar, das seinen gesamten Viehbestand dem himmlischen Schutz anempfiehlt. Von zwei der drei Hostien, die im 11. Jahrhundert von Bamberg auf den "Heiligen Berg" Andechs gekommen sein sollen, erzählt die Legende, sie seien von Papst Gregor dem Grossen konsekriert worden. Das Wunder der Gregoriusmesse, bei der im Augenblick der Wandlung ein blutiges Kreuz erschien, ist durch viele Bildzeugnisse weithin bekannt. Auch von der dritten Andechser Hostie, angeblich von Papst Leo IX. konsekriert, wird berichtet, zur Beschämung der an der Wandlung zweifelnden Irrlehrer habe sich das Christusmonogramm blutrot gefärbt.
Der Votant bestellte also in der Regel bei einem im Ort oder in der näheren Umgebung lebenden Maler das Votivbild. Mitunter mag er sich an den Schreiner gewandt haben, der auch die Möbel bemalte. In einigen der grossen Kultzentren nahm die Wallfahrtsleitung Tafelbestellungen entgegen, die sie an bestimmte Maler weitergab. Entscheidend war, dass der Maler das Anliegen des Votanten möglichst anschaulich darzustellen verstand. Gelegentliche Notizen auf den Rückseiten von Votivtafeln beweisen, dass die Besteller grössten Wert auf die präzise Wiedergabe des Geschehens legten, das der Anlass zum Gelübde war. Auf der Rückseite unserer Tafel des Meisters zwischen Rott und Vils (vgl. Abbildung 15) etwa entdecken wir folgenden Bleistiftvermerk: Unser liebe Frau von alten Etting wie ein Docktor ein Weibsbild in den Hals schneidet und ein Docktor haltet auf einen Stuhl fest. Darauf also kam es an - die künstlerische Qualität spielte dagegen eine untergeordnete Rolle.
Fasst man diese und andere Legenden zusammen, so lassen sich zwei Vorstellungen ablesen: erstens, dass gewisse Bildnisse durch bestimmte Zeichen als wundertätig und somit der besonderen Verehrung würdig ausgezeichnet werden, und zum andern, dass die hinter dem Bildnis stehende himmlische Macht den Menschen wissen lässt, wo sie den Platz ihrer Verehrung eingerichtet haben will.
Zu diesen Plätzen, allgemein als Gnadenorte bezeichnet, kamen die Gläubigen als Einzelwallfahrer oder in Gruppen, um teilzuhaben an der Wunderkraft des Gnadenbildes. Dabei ist die erstaunliche Feststellung zu machen, dass die Bildnisse gegenüber den von ihnen dargestellten himmlischen Personen ein gewisses Eigenleben entwickelten. Man kann geradezu von einer Konkurrenz der Gnadenmadonnen sprechen. Auch die Texte unserer Votivtafeln bringen zum Ausdruck, dass die Anheimstellungen nicht zur Muttergottes schlechthin, sondern zu der Gnadenmutter von Höhenkirchen, Altötting oder Maria Plain erfolgt sind. Auch die von ihrem Stier auf die Hörner genommene Meindlbäuerin (vgl. nochmals Abbildung 28) verlobte sich zur Maria Hilf Kappelle hieher, und dorthin, in diese und keine andere Kapelle brachte sie nach ihrer Genesung die versprochene Votivtafel. Der Verbleib der Tafel an heiliger Stätte war nicht nur das Dankzeichen des wunderbar Erhörten und die Anheimstellung an die bewährte Macht für das weitere Leben, sie wandte sich zugleich an andere Gläubige als sichtbares Beweisstück für die Wundertätigkeit des Gnadenbildes. Also "verlobten" sich auch andere Personen in ihren Nöten zu diesem Gnadenbild, und so häuften sich mancherorts die Votive nach und nach zu immenser Zahl. In vielen Kirchen hingen sie in unvorstellbaren Mengen an den Wänden, Decken und Pfeilern.
Neben zahlreichen neuen Wallfahrten gab es auch wiederbelebte Wallfahrten des Mittelalters, wie bereits angedeutet. Ein Beispiel dafür ist die marianische Kultstätte Maiselberg, wo im 14. Jahrhundert ein Muttergottesbild Wunder bewirkt haben soll. Trotz einer Prophezeiung von 1667 geschahen keine neuen Wunder.Schliesslich hat das bischöfliche Konsistorium 1707 das Bildnis kurzerhand für wundertätig erklärt und in einer feierlichen Prozession umhertragen lassen. Derart propagiert, fand die Maiselberger Madonna bald wieder regen Zulauf und wurde von danbkaren Wallfahrern mit Votiven verschiedener Art reich bedacht. Das Beispiel lehrt: auch eine Wallfahrt braucht, um am Leben erhalten zu werden, ein gutes Management. Die mehr oder weniger geschickte Anpreisung des jeweiligen Gnadenbildes war gewiss nicht der einzige, doch zweifellos ein wichtiger Grund dafür, dass manche Wallfahrten nur kurz auflebten und alsbald wieder erloschen, andere sich hingegen zu langlebigen und überregional bekannten Kultzentren entwickelten.
Andererseits hatte sich das Wallfahrtswesen in gewisser Weise verselbständigt und drohte unkontrolliert auszuufern. Das bekam niemand deutlicher zu spüren als jene reformfreudigen Geistlichen des 18. Jahrhunderts, die, alsbald von der weltlichen Obrigkeit unterstützt, die volksbarocke Frömmigkeit mit ihrem naiven Wunderglauben und ihrem übersteigerten Bedürnis nach sinnlichem Ausdruck einzudämmen versuchten. Ein zäher jahrzehntelanger Kampf war notwendig, ehe wieder weitgehende Kontrolle über die Religiosität der Landbevölkerung gewonnen werden konnte. Im Zuge dieser aufgeklärten Kirchenreform waren schon Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert zahlreiche Wallfahrtsstätten ihrer Votivtafeln und Votivgaben entledigt worden, und vieles von dem, was die Aufklärung übrigliess, fiel jüngeren Kirchenrestaurierungen zum Opfer - ganz zu schweigen von den häufigen Diebstählen. Rechnet man die jetzt noch in Kirchen und Kapellen befindlichen und die in Museen und Privatsammlungen verwahrtenVotivtafeln zusammen, so hat man wohl nur einen klien Teil der eisnt massenhaft gestifteten Bilder.
Das Erhaltene lässt uns den Verlust doppelt schmerzlich spüren, sind doch die Votivtafeln nicht nur wichtige Zeugnisse der Volksfrömmigkeit, sondern darüber hinaus durch ihre Darstellung von Häusern, Möbeln, Geräten, Fahrzeugen, Trachten und Uniformen sowie durch die Beschreibungen der medizinischen Behandlung von Mensch und Tier kulturhistorische Quellen ersten Ranges. Das Votivbrauchtum ist heute keineswegs völlig erloschen. Wer die katholischen Gnadenorte im Süden des deutschen Sprachgebiets und vor allem in romanischen Ländern besucht, wird in begrenzter Zahl Votive aus jüngerer Zeit vorfinden. Die gemalte Votivtafel ist meist einem einfachen beschriebenen Zettel gewichen; manchmal sieht man Fotos der anheimgestellten Personen oder Zeitungsausschnitte mit Unfallberichten. Noch scheint der Augenblick nicht gekommen, solche modernen Nachfolger der Votivtafel für "museumsreif" zu erklären, doch werden in absehbarer Zeit sich die öffentlichen Sammlungen dieser Erscheinungen anzunehmen haben.
Zum FührungsblattSie möchten noch mehr wissen? Bitte schön! Zusätzliche Literatur und Online-Links
|