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Exkurs zum Atmosphärenbegriff

Monday, September 15th, 2014

Manchmal ist es doch etwas schade, aus Texten gelöschte Abschnitte einfach dem allmählichen Verschwinden in denen Tiefen der Datenbackups zu überantworten. Der folgende Text wurde ursprünglich für meinen Beitrag zum Anfang 2015 erscheinenden, von Hanna Katharina Göbel und Sophia Prinz herausgegebenen Buch Die Sinnlichkeit des Sozialen geschrieben. In meinem Text geht es um die Umdefinition des Sinnbegriffs weg vom gemeinten Sinn nach Max Weber und hin zum Bewegungssinn. Da die hier entwickelten Überlegungen zum Atmosphärenbegriff aber eigentlich nicht besonders gut in die dortige Argumentation passt, flog er im Überarbeitungsprozess raus. Hier hat er nun seinen neuen Ort:

Die Erfahrungen des Wartens, Folgens, Begegnens und der Abwesenheit ließen sich auch über den Begriff der Atmosphäre beschreiben. Die Atmosphäre eines Bahnsteigs, eines nebligen Tags im späten Winter, einer erhabenen Aussicht oder einer verfallenen Ruine – sie alle könnten gewissermaßen als Prototypen für affective atmospheres im Sinn von Anderson (2009) stehen. Sie beziehen sich sowohl auf Materialitäten als auch auf Erfahrungsqualitäten und gehen so über reine Körperlichkeit hinaus. Bei Anderson steht dafür sowohl der Begriff des Affekts, in Anschluss an Deleuze und Guattari (1992) verbunden mit der objektiven, gegenständlichen Welt, als auch der Begriff der Emotion, verbunden mit der subjekter Erfahrung und Bedeutungszuweisung. (Anderson 2009: 80) Ähnlich wie bei Böhme (1995), hat das Konzept der Atmosphäre hier eine klare Anknüpfung an das Subjekt und an Gegenstände oder Orte und nimmt so eine vermittelnde Position zwischen Subjekt und Objekt ein. Diese Position – anknüpfend an Materialität und Wahrnehmung – macht das Konzept der Atmosphäre so spannend und potentiell fruchtbar. Gleichzeitig aber scheint dem Begriff der Atmosphäre eine merkwürdige Qualität innezuwohnen. Zum einen haftet ihm immer noch ein Element des Begriffs der Aura an, d.h. einer herausragenden Erfahrung, die sich mit besonderen Orten oder Gegenständen verknüpft. (Benjamin 1974) Zum anderen gibt es eine Verknüpfungskette Atmosphäre – Architektur – Raum, in der Atmosphären vor allem an Orte geknüpft werden. Dabei haftet dem Begriff der Atmosphäre zwar ein gewisser Aspekt der Zeitlichkeit an, diese wird aber weitgehend über den Begriff der Situation abgedeckt und so als mit einem Ort und nicht mit einer Bewegung verknüpft gesehen.
Dass diese Verknüpfung nicht notwendig ist, wird durch Böhmes Diskussion der von Personen ausstrahlenden Atmosphären (Böhme 1993: 113-114) und durch Andersons Fokus auf den Affekt, bei dem Prozessualität und das Werden von entscheidender Bedeutung sind. (Anderson 2009: 78) Trotzdem löst sich der Begriff nicht so sehr von Orten, wie es für die hier vorgeschlagene Perspektivierung des Sinnbegriffs notwendig wäre. Statt dessen ist der Begriff der Einhüllung aus mehreren Gründen angemessener (vgl. dazu Frers 2007): Erstens verweist er von vornherein auf einen Prozess. Im Unterschied zur Atmosphäre besteht eine Hülle nicht einfach schon, gleichsam außerhalb des Individuums und wird einfach betreten. Eine Hülle muss erst wachsen, angelegt oder übergestülpt werden. Zweitens ist es deutlicher, dass Hüllen mobil sind. Sie werden getragen, ergänzt, mitgenommen. Sie tragen sich ab oder halten lange. Drittens lassen sich Hüllen miteinander kombinieren oder staffeln, da sie vor allem an – bewegliche – Personen gekoppelt sind. So kann eine in eine bestimmte Stimmung gehüllte Person einen Ort betreten und dort auf andere Weise, von anderen Stimmungen eingehüllt werden. Was bei diesen Begegnungen und Vermischungen von Hüllen passiert ist dann selbst Gegenstand der Analyse. Viertens ist die Hülle nicht in der selben Weise als Sphäre überbestimmt (Anderson 2009: 80). Eine Hülle kann an unterschiedlichen Stellen verschiedene Qualitäten und Durchlässigkeiten aufweisen. Sie kann beispielsweise nach oben, unten und hinten geschlossen, aber nach vorne hin offen sein. Hüllen bzw. der Prozess der Einhüllung zeichnen sich also ebenso wie der hier umgedeutete Begriff des Sinns durch Bewegung und Beweglichkeit aus. Einhüllungen bringen auf diese Weise notwendigerweise Ausrichtungen mit sich und sind damit wiederum in die Herstellung sozialer Ordnung eingebunden. Im Unterschied zum Begriff der Atmosphäre zeichnet sich der Begriff der Einhüllung also fünftens und letztens auch dadurch aus, dass er den Zugang zum Problem sozialer Kontrolle erleichtert und weniger stark dazu verleitet, sich auf rein ästhetische Fragestellungen zu fixieren. Wie bereits oben angeführt, ist es auch möglich, über den Begriff der Atmosphäre Veränderungsprozesse einzufangen, Zusammenhänge mit Personen herzustellen und eine gewisse Mobilität abzubilden. Die eigentliche Stärke – und damit auch Verlockung – des Begriffs der Atmosphäre ist jedoch die Analyse von Orten, nicht die Analyse von Bewegungen.

Literatur
Anderson, Ben (2009) Affective atmospheres. Emotion, Space and Society 2(2): 77-81.
Benjamin, Walter (1936/1974) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [erste Fassung]. In Abhandlungen, Gesammelte Schriften, Band I-1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Theodor W. Adornoandere. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 431-469.
Böhme, Gernot (1995) Atmosphäre : Essays zur neuen Ästhetik. Reihe. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1980/1992) Tausend Plateaus : Kapitalismus und Schizophrenie. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve.
Frers, Lars (2007) Einhüllende Materialitäten : Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals. Reihe: Materialitäten, Band 5. Bielefeld: transcript.