Thema / Programm
Gibt es Uneinigkeit? Alltäglich betrachtet scheint die Antwort auf diese Frage klar: Der Uneinigkeiten sind Legion – Uneinigkeiten über wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Fragen, über Fragen des richtigen Verhaltens und Fragen der Religion, über Fragen von subjektiven Vorlieben und ästhetischem Geschmack (um nur einige wenige Beispiele zu nennen). Von einem rationalitätstheoretischen Standpunkt aber ist nicht so klar, wie man diese Uneinigkeiten einschätzen soll. Gilt nicht in beinahe allen Fällen von Uneinigkeit der zwanglose Zwang des besseren Arguments? Ist es nicht grundsätzlich möglich zu bestimmen, welche der rivalisierenden Auffassungen die richtige ist? Sind also Uneinigkeiten nicht Durchgangsstadien auf dem Weg zu einer umfassenden Einigkeit – zumindest bei all denjenigen, die sich rational verhalten? Oder kann Uneinigkeit selbst rational sein, selbst wenn zwei Diskussionspartner dieselben epistemischen Voraussetzungen haben und ihnen dieselben relevanten Informationen zur Verfügung stehen? Viele Philosophen vertreten die These, dass dies nicht möglich ist. Sofern in bestimmten Bereichen eine substantielle Uneinigkeit nicht zu überwinden sei, müsse Urteilsenthaltsamkeit praktiziert werden. Eine entsprechende Position kann sich unter anderem auf Überlegungen Kants stützen, der in seiner Metaphysikkritik letztlich auch für eine Urteilsenthaltung in klassischen metaphysischen Fragen (in denen immer Uneinigkeit vorherrsche) plädiert und sonstige Konflikte für grundsätzlich entscheidbar hält.
Hegel hat diesem gewissermaßen konfliktfreien bzw. -transzendierenden Verständnis von Rationalität, das auch noch für die heutige Diskussion prägend ist, ein Verständnis entgegengesetzt, das den Konflikt wesentlich als Motor von Rationalität begreift. Aber auch dieses Verständnis ist – unter anderem von Nietzsche und Adorno – als Versöhnungsphilosophie kritisiert worden, so dass fraglich ist, ob Hegel die Vereinbarkeit von Rationalität und Fortschritt? in zufrieden stellender Weise erläutert hat. Ist die „vernünftige Uneinigkeit“ (Rawls) ein dauerhaftes Merkmal unserer Praxis und reicht sie vielleicht tiefer, als wir gemeinhin annehmen? Was ist die theoretische und praktische Relevanz persistierender Uneinigkeit – und führt deren Akzeptanz zu Relativismus, Skeptizismus oder Pluralismus?
Diese Frage nach der Rolle von Uneinigkeiten spielt in vielen philosophischen Bereichen eine große Rolle. Aktuell wird sie in der Erkenntnistheorie (Christensen, Freitag, Kornblith), in der Philosophie des Geistes und der Sprachphilosophie diskutiert, etwa in der hermeneutischen Frage nach dem Status des Streits um die richtige Interpretation sprachlichen Sinns (Lyotard, Margolis, Wellmer). Aber auch in der Kunstphilosophie (Carroll, Menke, Rancière) ist es wichtig zu klären, welchen Stellenwert Fortschritt?en in Bezug auf ästhetische Urteile und die Zuschreibung von ästhetischen Werteigenschaften haben. In der praktischen Philosophie wird Fortschritt? entweder als Problem oder als Strukturmerkmal von Moral und Politik begriffen. Während im Liberalismus Uneinigkeit zum einen akzeptiert, zum anderen durch vernünftige Regeln begrenzt wird (Rawls, Habermas), gehen „radikale“ oder „agonistische“ Theorien weiter und sehen Uneinigkeit „all the way down“ nicht als Gefährdung von Politik und Demokratie, sondern gerade als deren Wesen und Bedingung ihrer Möglichkeit (Arendt, Rancière, Mouffe/Laclau). Auch in der Moralphilosophie wird Uneinigkeit von manchen Autoren als wesentliches Merkmal moralischer Praxis begriffen (de Beauvoir, Williams, Lukes). In besonderer Weise sind Uneinigkeiten nicht zuletzt in der Philosophie im Allgemeinen von Bedeutung. Die Philosophie ist geprägt von einem Streit zwischen unterschiedlichen Schulen und Positionen und es besteht wenig Grund zur Hoffnung (wenn dies denn eine Hoffnung wäre), dass dieser Streit überwunden werden kann.
Das 19. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian lädt Philosophinnen und Philosophen an den Genfer See, um über die Bestimmung und die Relevanz von Uneinigkeit mit Blick auf unterschiedliche philosophische Felder, mit Blick auf die menschliche Praxis und mit Blick auf die Philosophie zu diskutieren. Der Begriff der Uneinigkeit soll im Spannungsfeld der mit ihm verbundenen Bestimmungen und Fragestellungen kontrovers beleuchtet werden.
Programm
Programm als PDF-Download
Lundi, 8 juillet 2013
René van Woudenberg (Amsterdam): The Resolution of Disagreement
Maria-Sibylla Lotter (Stuttgart): Zur Rationalität moralischer Auseinandersetzungen
Edouard Jolly (Lille): Au principe d’un désaccord : politique des conceptions du monde
Pieter van der Kolk (Groningen): The Permissiveness of Rationality
Felix Koch (Berlin): What is the Point of Disagreement?
Mardi, 9 juillet 2013
Christian Skirke (Amsterdam): Epistemic Conformism and the Phenomenology of Disagreement
Benoît Gide (Lyon): Désaccords ontologiques et naturalismes chez P. F. Strawson
Lisa Schmalzried (Luzern): Aesthetic Disagreement – Combining Sibley’s and Kant’s Ideas
Anna Nuspliger (Osnabrück): Uneinigkeit bei Geschmacksurteilen
Inés Crespo (Amsterdam): Affordances for evaluative disagreement
Mercredi, 10 juillet 2013
Stefania Maffeis (Berlin): Uneinigkeit als Praxis der Philosophie
Nadja El Kassar (Zürich): Properly Disagreeing about Concepts
Georg W. Bertram (Berlin): Philosophie als Kultur des Streits
Après-midi libre
Jeudi, 11 juillet 2013
Christine Bratu (München): Alle Wege führen nach...? Über die Pfadabhängigkeit unserer normativen Urteile
Marco Angella (Paris): Désaccord, Conflit ... Réconciliation ? Les tâches de la Théorie critique
Hannah Holme (Leipzig): Uneinigkeit und der Kampf um Wahrheit
Michael Bloch (Luzern): Agreeing in the Face of Violence
Philip Hogh (Oldenburg/Frankfurt): Gemeinsam entzweit
Vendredi, 12 juillet 2013
Birte Löschenkohl (Chicago): On Disagreeing with Oneself
Christophe Laudou (Madrid): Homologies et homophonies – Accords et désaccords en musique et en politique
Simon Truwant (Leuven): Kant's 'Cosmopolitan Concept of Philosophy' and the Possibility of Philosophical Agreement
Discussion terminale
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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