Thema / Programm
Kontingent ist, was auch anders oder gar nicht sein könnte, was also weder notwendig noch unmöglich ist. Das Kontingente ist das Feld dessen, was weder durch logische oder metaphysische Prinzipien noch durch Schicksal oder göttliche Vorsehung vollständig bestimmt ist: das Feld des Veränderlichen und Veränderbaren, und mithin das Feld des menschlichen Handelns. Weil dieses Handeln im Reich des Kontingenten stattfindet, ist jede praktische Selbstreflexion mit Kontingenz als konstitutivem Problem konfrontiert: Praktische Vernunft, rationale Planung und freier Entschluss sind an die unkontrollierbare Kontingenz von Zufall, Glück und Widerfahrnis gebunden. Zufall, weil die Folgen des Handelns sich aufgrund der unüberschaubaren Wirkungen akzidenteller Begleitursachen nicht vollständig voraussehen oder erklären lassen; Glück, weil die Verwirklichung intendierter Ziele oder Haltungen oft nur durch das Entgegenkommen der Welt, durch die zufällige Koinzidenz von Ereignissen hinter dem Rücken des Handelnden, zustande kommen kann; Widerfahrnis, weil das gute Leben selbst, eingerahmt durch die Ur-Widerfahrnisse Geburt und Tod, stets mit dem zu rechnen hat, was im Kleinen und im Großen über uns hereinbricht, so dass man in einer unsere Begriffe von Tugend und Gerechtigkeit herausfordernden Weise Glück (fortuna, luck, chance) zum Glück (beatitudo, happiness, bonheur) braucht.
Das Spannungsverhältnis von Kontingenz und Vernunft in der menschlichen Praxis ist in der Geschichte der Philosophie unterschiedlich bestimmt worden. Es besteht eine von Platon über Leibniz bis zum frühen Wittgenstein reichende Strömung, die Kontingenz als Störfaktor betrachtet, der den Anspruch auf vernünftige Erfassung und Ordnung unterminiert und daher ausgeschaltet werden sollte. An dieser Auffassung partizipiert ex negativo noch der vernunftkritische Diskurs, der – wie bei Nietzsche, Lyotard und Rorty – die Annahme teilt, dass Kontingenz alle Begründungsprätentionen der Vernunft in Theorie und Praxis aushöhlt. Bereits mit Aristoteles jedoch setzt eine alternative Tradition ein, in der unter anderem Hegel und Derrida stehen und in der Kontingenz als Basis der Entstehung des Neuen und menschlicher Freiheit insgesamt begriffen wird.
Zahlreiche Debatten auf den unterschiedlichen Feldern der Philosophie widmen sich dem Problem der Kontingenz zwischen diesen Polen: In der philosophischen Betrachtung der Geschichte (Vico, Dilthey, Foucault) diskreditiert die Anerkennung der Kontingenz den Rekurs auf die Notwendigkeiten sozialer Ordnung und historischer Entwicklung (ob nun als Fortschritt oder Verfall); in der politischen Philosophie ist die Kontingenz der sozialen und politischen Ordnung sogar als Ermöglichungsbedingung von Demokratie verstanden worden (Laclau/Mouffe, Lefort, Rancière). Die Kulturphilosophie und die philosophische Anthropologie haben Institutionen, Religionen, Traditionen und Kultur als Formen und Praktiken der Kontingenzbewältigung bzw. -bearbeitung in den Blick genommen (Gehlen, Plessner). In der Ethik (Williams, Nagel) taucht Kontingenz in Gestalt von „moral luck“, moralischen Dilemmata und „schmutzigen Händen“ auf sowie in der Frage, inwieweit Gerechtigkeit es gebietet, einen Ausgleich für die Folgen von blindem Zufall, Glück und Widerfahrnissen zu schaffen (Rawls, Cohen, Dworkin). In der Erkenntnistheorie wird diskutiert, wie sich "epistemic luck" auf unseren Status als Wissende auswirkt (Sosa, Greco, Pritchard). Die Existenzphilosophie (Kierkegaard, Heidegger, Sartre) schließlich hat das Sichverhalten zur Kontingenz des eigenen Seins (Geworfenheit) zum Grundmodus menschlicher Existenz erhoben.
Welche Bedeutung hat Kontingenz für ein Selbstverständnis des Menschen in seinen vernünftigen Praktiken? Das 18. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian lädt Philosophinnen und Philosophen an den Genfer See, um den Begriff der Kontingenz im Spannungsfeld der unterschiedlichen mit ihm verbundenen Bestimmungen und Fragestellungen zu diskutieren.
Programm
Programm als PDF-Download
Lundi, 16 juillet 2012
René van Woudenberg (Amsterdam): This is a chance event, hence it is not intended
Agnieszka Kochanowicz (Frankfurt/M.): Was es heißt, Glück oder Pech zu haben – Eine begriffliche Untersuchung
Magali Roques (Tours): Contingence et déterminisme dans le commentaire de Guillaume d’Ockham au Peri Hermeneias
Barbara Reiter (Graz): Acting without Aims. Tanking Contingency Seriously
Andrew C. Huddleston (Princeton): Nietzsche on the Contingency of Greatness
Mardi, 17 juillet 2012
Claudia Blöser (Bochum): Zufall und moralische Zurechenbarkeit in Kants praktischer Philosophie
Christopher Lapierre (Dijon): Contingence et probabilisme : Merleau-Ponty critique de la liberté sartrienne
Anna Wehofsits (Berlin): Gefühl und Zufall in Kants Moralphilosophie
David Espinet (Freiburg): Die kontingenten Vorraussetzungen des gelingenden Lebens. Zu Kants Glückseligkeitslehre
Edouard Jolly (Lille): Choc de la contingence et peur de l’être
Mercredi, 18 juillet 2012
Anne Gléonec (Praha): Claude Lefort et la déconstruction du « corps politique » : la démocratie ou le régime de la contingence
James Ingram (Hamilton): Politics as the Recognition of Essential Contingency
Robin Celikates (Amsterdam): Sind schmutzige Hände unvermeidlich? Kontingenz als Herausforderung politischen Handelns
Après-midi libre
Jeudi, 19 juillet 2012
Marion Schumm (Paris): Histoire et consolation. Hans Blumenberg et la contingence
Georg W. Bertram (Berlin): Einbildungskraft und Kontingenz: Kants »Deduktion« und die Zeitlichkeit menschlicher Existenz
Claire Pagès (Paris/Nancy): Le destin freudien de la contingence : « conférer un sens au hasard »
David Lauer (Berlin): When the World Does Us a Favour: Disjunktivismus und Kontingenz
Christian Skirke (Amsterdam): Self-knowledge and epistemic luck
Vendredi, 20 juillet 2012
Katherina Kinzel (Wien): Underdetermination and Lost Alternatives. How Social Constructivists Narrate Contingency in Science
Barthélemy Durrive (Lyon): Les contingences, entre hasard (physique) et histoire (biologique)
Erica Harris (Leuven): The Logic of Contingency
Alessandro Bertinetto (Udine/Berlin): Playing With Chance: Some Remarks on Aesthetic and Artistic Luck
Discussion terminale
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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