Thema / Programm
Philosophie steht nicht im Verdacht, sich besonders gut auf Praxis
zu verstehen. Praxis gilt der Philosophie gemeinhin als der Raum,
der von Theorie bestimmt ist, wobei Philosophinnen und Philosophen
zuständig sind für Theorie. Trotz dieser scheinbar klaren Verhältnisse
haben Philosophien spätestens in den letzten 150 Jahren mehr und
mehr begonnen, sich für Praxis zu interessieren. Der Linkshegelianismus
stellt eine erste Station dieses beginnenden Interesses dar, wie
es der vulgärmarxistische Slogan "Das Sein bestimmt das Bewusstsein"
gut auf einen Nenner bringt. Noch deutlicher wird eine Verschiebung
der philosophischen Interesselagen mit dem "Pragmatismus", der
sich auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert entwickelt hat.
Heute handelt es sich um einen philosophischen Gemeinplatz, der
Praxis eine wichtigere Rolle zuzusprechen, als sie ihr ehedem
zukam. Doch ist mit diesem Gemeinplatz noch nicht geklärt, wie
genau die Rolle beschaffen ist, die man der Praxis zudenkt. In
den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem eine Alternative
zu dieser Frage herausgebildet, die sich schlagwortartig mit den
Begriffen "Konstitution" und "Subversion" umreißen lassen.
Die erste Seite dieser Alternative ist vor allem mit dem Pragmatismus
und dem Namen Wittgenstein (und auch Sellars) verbunden. Pointierend
kann man ihr folgende Überlegungen zuschreiben: Sie geht davon
aus, dass die Ebene der Praxis in erster Linie eine Ebene darstellt,
auf der sich all die Verhältnisse entwickeln, die sprechende und
denkende Lebewesen ausmachen. Mit dem Pragmatismus kann man sagen,
dass in der Praxis all die Unterschiede und Bestimmungen liegen,
die das Verhalten dieser Lebewesen orientieren. Nach Wittgenstein
lässt sich dieses Verständnis noch etwas erweitern: Praxis konstituiert
demnach Regeln und Normen und auch die normativen Kräfte, die
Regeln als Größen ins Spiel bringen, denen wir folgen. Alle Regeln,
Standards und Ordnungen basieren auf Formen des Gebrauchs, in
denen sie, wie Wittgenstein sagt, gewissermaßen "blind" zustande
kommen.
Die zweite Seite der Alternative verbindet sich zum Beispiel mit
Aspekten der Philosophien von Foucault, Derrida und Butler. Man
kann sie folgendermaßen zuspitzen: Sie begreift Praxis als die
Ebene, auf der (intersubjektive) Strukturen eine Störung erfahren,
auf der Ordnungen aus dem Tritt gebracht werden. Am Anfang dieser
Überlegungen steht ein strukturales Verständnis von Diskursen.
Diesem Verständnis zufolge ist es unmöglich, den Diskurs intern
zu unterwandern. Der Diskurs ist abgeschlossen und gemeindet alles
ein, was sich diskursiv gegen ihn zu wenden versucht. Allein Praxis
bietet so einen Spielraum für mögliche Subversionen. Praxis wird
dabei als etwas verstanden, auf das der Diskurs keinen (uneingeschränkten)
Zugriff hat, das sich also gegen den Diskurs zu wenden vermag.
Praxis gilt als Ort der Unterwanderung, der Verschiebung, der
Verwerfung.
Wir laden dazu ein, im Lichte dieser konkurrierenden Positionen
darüber nachzudenken, was der Begriff der Praxis philosophisch
bedeutet. Ist Praxis Konstitution oder Subversion? Lassen sich
die beiden skizzierten Blickwinkel miteinander versöhnen? Da die
Alternative sich auchin unterschiedlichen Traditionen entwickelt
hat, handelt es sich bei diesen Fragen womöglich um Fragen
der Theoriepolitik, der Auseinandersetzung zwischen frankophon-linkshermeneutischen
mit angloamerikanisch-rechtshermeneutischen Philosophien. Aus
der Perspektive frankophon geprägter AutorInnen stellt sich die
"Konstitutions"-Überlegung möglicherweise als Versuch dar, den
Begriff der Praxis von seiner widerspenstigen Seite zu reinigen.
Aus der Perspektive angloamerikanisch geprägter AutorInnen lässt
sich dagegen fragen, ob denn Diskurse nicht auf Praxis basieren,
ob sie nicht ungerechtfertigter Weise einfach als gegeben vorausgesetzt
werden. Sind solche wechselseitigen Vorbehalte berechtigt? Handelt
es sich bei ihnen um eine Frage von Theoriepolitik? Oder sind
sie, wie wiederum frankophon zu vermuten wäre, schlicht grundsätzlich
politisch?
Trotz aller Nobilitierung der Praxis ist die Philosophie immer
noch in Verlegenheiten ihr gegenüber. Das zeigt sich unter anderem
an der Terminologie. Es ist unklar, ob der zutreffende Ausdruck
"Praxis", "Gebrauch" oder "Tun" lautet. Aus diesem Grund nennt
der Titel des Kolloquiums zwei (alternative) Ausdrücke nebeneinander.
Das ist als eine Einladung zu verstehen, nach dem treffenden Begriff
zu suchen. Auf der Basis sprachlicher Klärung lässt sich vielleicht
auch die Auseinandersetzung um die Praxis schärfen und letztlich
eruieren, welche philosophische Bedeutung dem Begriff, der sich
für diese Fragen als treffend erweist, zukommt.
Programm
MONDAY,
July, 15th
matin
Danic Parenteau (Paris): "Le rôle de la 'pratique'
chez Hegel"
Andreas Niederberger (Frankfurt/Main): "Ontologie
als Praxis oder Praxis statt Ontologie? Einige Bemerkungen zum
Verhältnis von Praxisphilosophie und 'praktisch-pragmatischer'
Wende der Philosophie"
après-midi
Jo-Jo Koo (Montreal): "Practice and Sociality"
Emmanuel Stéphane Prokob (Paris): "Eine Pflicht
zu lügen? Die Subversion als konstituierendes Element einer
gerechten Ordnung bei Benjamin Constant: eine Antwort auf den
Hiatus zwischen Theorie und Praxis bei Immanuel Kant"
TUESDAY, July, 16th
matin
Clélia Aparecida Martins (São Paulo): "Zur
Veräußerung"
Slobodanka Vladiv-Glover (Melbourne): "Pierre Bourdieu's
habitus as Praxis or Interpretation: A Critique in the Context
of C. S. Peirce's belief as habit"
après-midi: Workshops
(1) Michael Groneberg (Fribourg): "The missing link:
zwischen Semantik und Politik"
(2) Alice Lagaay (Berlin): "Stimme/Stimmlichkeit"
(3) Christian Doude van Troostvijk (Luxemburg/Amsterdam):
Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch : Das mag in der
Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis"
WEDNESDAY, July, 17th
matin
Katrin Nolte (Berlin): "Urteilsvermögen und -Gebrauch"
Konstanze Baron (Paris): "Sprache als Praxis bei Sartre
und Derrida"
Georg W. Bertram (Gießen): "Praktiken als Basis
der Sprache und des Geistes"
après-midi
Oliver C. Speck (Wilmington, NC): "The Practice of
Overcoming Metaphysics: Constitution et Subversion"
Margret Ozierski (Durham, NC): "Subverting Nihilism:
The Practice of Maurice Blanchot"
THURSDAY, July, 18th
matin
David Lauer (Berlin): "Pragmatics corporealized. Zu
Robert Brandoms Begriff sprachlicher Praxis"
Christophe Laudou (Madrid): "Où sont passés
les déictiques de l'action ?"
Simone Mahrenholz (Berlin): "Komponieren zwischen
Körperlichkeit, Materialität und Sprache. Das philoso-phische
Problem von Sinn-Subversion und Sinn-Konstitution am Beispiel
des Musikdenkens Wolfgang Rihms"
FRIDAY, July, 19th
matin
Werner Kogge (Berlin): "Der Witz der Praxis: Das Zusammenspiel
von Subversion und Konvention"
Christian Lavagno (Bremen): "Intellektuelle Praxis"
après-midi:
discussion terminale
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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