International Philosophy Colloquia Evian
20th Colloquium 2014 - Evian, 13-19 juillet 2014

Progress?
Progrès?
Fortschritt?
 
Français | English | Deutsch
 

Kolloquium 2002: Was bedeutet Praxis (Gebrauch): Konstitution oder Subversion?

20th Colloquium 2014


Thema 2014

Call for Papers

Downloads

Programm

Practica

The Colloquia


Konzept

Geschichte
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2003
2002
2001
2000
1999
1998
1997
1996
1995


Bücher

La Villa


Organisation

Beirat


Thema / Programm

Philosophie steht nicht im Verdacht, sich besonders gut auf Praxis zu verstehen. Praxis gilt der Philosophie gemeinhin als der Raum, der von Theorie bestimmt ist, wobei Philosophinnen und Philosophen zuständig sind für Theorie. Trotz dieser scheinbar klaren Verhältnisse haben Philosophien spätestens in den letzten 150 Jahren mehr und mehr begonnen, sich für Praxis zu interessieren. Der Linkshegelianismus stellt eine erste Station dieses beginnenden Interesses dar, wie es der vulgärmarxistische Slogan "Das Sein bestimmt das Bewusstsein" gut auf einen Nenner bringt. Noch deutlicher wird eine Verschiebung der philosophischen Interesselagen mit dem "Pragmatismus", der sich auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert entwickelt hat.

Heute handelt es sich um einen philosophischen Gemeinplatz, der Praxis eine wichtigere Rolle zuzusprechen, als sie ihr ehedem zukam. Doch ist mit diesem Gemeinplatz noch nicht geklärt, wie genau die Rolle beschaffen ist, die man der Praxis zudenkt. In den letzten Jahrzehnten haben sich vor allem eine Alternative zu dieser Frage herausgebildet, die sich schlagwortartig mit den Begriffen "Konstitution" und "Subversion" umreißen lassen.

Die erste Seite dieser Alternative ist vor allem mit dem Pragmatismus und dem Namen Wittgenstein (und auch Sellars) verbunden. Pointierend kann man ihr folgende Überlegungen zuschreiben: Sie geht davon aus, dass die Ebene der Praxis in erster Linie eine Ebene darstellt, auf der sich all die Verhältnisse entwickeln, die sprechende und denkende Lebewesen ausmachen. Mit dem Pragmatismus kann man sagen, dass in der Praxis all die Unterschiede und Bestimmungen liegen, die das Verhalten dieser Lebewesen orientieren. Nach Wittgenstein lässt sich dieses Verständnis noch etwas erweitern: Praxis konstituiert demnach Regeln und Normen und auch die normativen Kräfte, die Regeln als Größen ins Spiel bringen, denen wir folgen. Alle Regeln, Standards und Ordnungen basieren auf Formen des Gebrauchs, in denen sie, wie Wittgenstein sagt, gewissermaßen "blind" zustande kommen.

Die zweite Seite der Alternative verbindet sich zum Beispiel mit Aspekten der Philosophien von Foucault, Derrida und Butler. Man kann sie folgendermaßen zuspitzen: Sie begreift Praxis als die Ebene, auf der (intersubjektive) Strukturen eine Störung erfahren, auf der Ordnungen aus dem Tritt gebracht werden. Am Anfang dieser Überlegungen steht ein strukturales Verständnis von Diskursen. Diesem Verständnis zufolge ist es unmöglich, den Diskurs intern zu unterwandern. Der Diskurs ist abgeschlossen und gemeindet alles ein, was sich diskursiv gegen ihn zu wenden versucht. Allein Praxis bietet so einen Spielraum für mögliche Subversionen. Praxis wird dabei als etwas verstanden, auf das der Diskurs keinen (uneingeschränkten) Zugriff hat, das sich also gegen den Diskurs zu wenden vermag. Praxis gilt als Ort der Unterwanderung, der Verschiebung, der Verwerfung.

Wir laden dazu ein, im Lichte dieser konkurrierenden Positionen darüber nachzudenken, was der Begriff der Praxis philosophisch bedeutet. Ist Praxis Konstitution oder Subversion? Lassen sich die beiden skizzierten Blickwinkel miteinander versöhnen? Da die Alternative sich auchin unterschiedlichen Traditionen entwickelt hat, handelt es sich bei diesen Fragen womöglich um Fragen der Theoriepolitik, der Auseinandersetzung zwischen frankophon-linkshermeneutischen mit angloamerikanisch-rechtshermeneutischen Philosophien. Aus der Perspektive frankophon geprägter AutorInnen stellt sich die "Konstitutions"-Überlegung möglicherweise als Versuch dar, den Begriff der Praxis von seiner widerspenstigen Seite zu reinigen. Aus der Perspektive angloamerikanisch geprägter AutorInnen lässt sich dagegen fragen, ob denn Diskurse nicht auf Praxis basieren, ob sie nicht ungerechtfertigter Weise einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Sind solche wechselseitigen Vorbehalte berechtigt? Handelt es sich bei ihnen um eine Frage von Theoriepolitik? Oder sind sie, wie wiederum frankophon zu vermuten wäre, schlicht grundsätzlich politisch?

Trotz aller Nobilitierung der Praxis ist die Philosophie immer noch in Verlegenheiten ihr gegenüber. Das zeigt sich unter anderem an der Terminologie. Es ist unklar, ob der zutreffende Ausdruck "Praxis", "Gebrauch" oder "Tun" lautet. Aus diesem Grund nennt der Titel des Kolloquiums zwei (alternative) Ausdrücke nebeneinander. Das ist als eine Einladung zu verstehen, nach dem treffenden Begriff zu suchen. Auf der Basis sprachlicher Klärung lässt sich vielleicht auch die Auseinandersetzung um die Praxis schärfen und letztlich eruieren, welche philosophische Bedeutung dem Begriff, der sich für diese Fragen als treffend erweist, zukommt.


Programm

MONDAY, July, 15th
matin
Danic Parenteau (Paris): "Le rôle de la 'pratique' chez Hegel"
Andreas Niederberger
(Frankfurt/Main): "Ontologie als Praxis oder Praxis statt Ontologie? Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Praxisphilosophie und 'praktisch-pragmatischer' Wende der Philosophie"


après-midi
Jo-Jo Koo (Montreal): "Practice and Sociality"
Emmanuel Stéphane Prokob (Paris): "Eine Pflicht zu lügen? Die Subversion als konstituierendes Element einer gerechten Ordnung bei Benjamin Constant: eine Antwort auf den Hiatus zwischen Theorie und Praxis bei Immanuel Kant"

TUESDAY, July, 16th
matin
Clélia Aparecida Martins (São Paulo): "Zur Veräußerung"
Slobodanka Vladiv-Glover (Melbourne): "Pierre Bourdieu's habitus as Praxis or Interpretation: A Critique in the Context of C. S. Peirce's belief as habit"

après-midi: Workshops
(1) Michael Groneberg (Fribourg): "The missing link: zwischen Semantik und Politik"
(2) Alice Lagaay (Berlin): "Stimme/Stimmlichkeit"
(3) Christian Doude van Troostvijk (Luxemburg/Amsterdam): Immanuel Kant: "Über den Gemeinspruch : Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis"

WEDNESDAY, July, 17th
matin
Katrin Nolte (Berlin): "Urteilsvermögen und -Gebrauch"
Konstanze Baron (Paris): "Sprache als Praxis bei Sartre und Derrida"
Georg W. Bertram (Gießen): "Praktiken als Basis der Sprache und des Geistes"

après-midi
Oliver C. Speck (Wilmington, NC): "The Practice of Overcoming Metaphysics: Constitution et Subversion"
Margret Ozierski (Durham, NC): "Subverting Nihilism: The Practice of Maurice Blanchot"

THURSDAY, July, 18th
matin
David Lauer (Berlin): "Pragmatics corporealized. Zu Robert Brandoms Begriff sprachlicher Praxis"
Christophe Laudou (Madrid): "Où sont passés les déictiques de l'action ?"
Simone Mahrenholz (Berlin): "Komponieren zwischen Körperlichkeit, Materialität und Sprache. Das philoso-phische Problem von Sinn-Subversion und Sinn-Konstitution am Beispiel des Musikdenkens Wolfgang Rihms"

FRIDAY, July, 19th
matin
Werner Kogge (Berlin): "Der Witz der Praxis: Das Zusammenspiel von Subversion und Konvention"
Christian Lavagno (Bremen): "Intellektuelle Praxis"

après-midi: discussion terminale

 

Organisation: Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien), Contact: evian@philosophie.fu-berlin.de