Dass es historischen, wissenschaftlichen, philosophischen und moralischen Fortschritt gibt, ist eine bereits in der Antike zu findende und spätestens seit der Aufklärung verbreitete Idee. Zugleich ist die Kritik an der Idee einer zielgerichteten, linearen und einer bestimmten Logik folgenden Entwicklung vom Schlechteren zum Besseren nie verstummt. Nicht erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben Zweifel daran aufkommen lassen, dass sich Fortschritt und Regression so klar voneinander scheiden lassen, und zu der Vermutung geführt, dass es sich um eine ideologische Kategorie handelt, die es im Namen von Offenheit und Pluralität zu verwerfen gilt. Was aber wäre der Preis hiervon?
Historischer und moralischer Fortschritt ist in der Aufklärung – von Condorcet über Smith zu Kant – als ebenso möglich wie notwendig verstanden und im 19. Jahrhundert prominent von Hegel und Marx zur geschichtsphilosophischen und sozialtheoretischen Kategorie weiterentwickelt worden. Von Rousseau über Benjamin und Adorno bis zu Foucault und den an ihn anschließenden feministischen und postkolonialen Perspektiven (Spivak, Said, Butler) haben Skeptiker jedoch nicht nur die Diagnose, dass es Fortschritt gebe, sondern auch die Idee des Fortschritts selbst in Frage gestellt: Auf welche universellen und nicht-willkürlichen Standards und Kriterien kann diese Idee zurückgreifen? Verallgemeinert sie nicht immer ein partikulares Entwicklungsmuster, das keineswegs universell gültig ist? Und wer hat die epistemische und praktische Autorität, solche Beurteilungen vorzunehmen? Zugleich aber ist den Kritikern immer wieder die Frage gestellt worden, ob sie nicht mit ihrer Kritik unterschwellig am Gedanken des Fortschritts festhalten (müssen), ob sie also diesen Gedanken nur anders bestimmen. So kann man erwägen, ob hier nicht oftmals ein Kontinuitätsmodell des Fortschritts gegen ein Diskontinuitätsmodell ausgespielt wird.
Auch in Bezug auf Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen sind diese Fragen relevant: So hat die wissenschaftstheoretische Debatte, die im 20. Jahrhundert von Kuhn und Popper via Feyerabend bis zu Harding, Daston und Latour reicht, die Möglichkeit und Wirklichkeit von Fortschritt in den Wissenschaften adressiert. Und nicht erst seit Kant alle Metaphysik vor ihm als uferloses Meer bezeichnete, in dem kein Fortschritt seine Spur hinterlassen habe, ist auch die Philosophie selbst mit der Frage nach der Möglichkeit ihres eigenen Fortschritts konfrontiert: Was setzt die Idee, es gebe einen solchen Fortschritt, voraus? Ein Set an ewigen philosophischen Problemen, an denen seit Platon gearbeitet wird? Eine genaue Bestimmung der Aufgaben der Philosophie? Eine Annäherung von philosophischen an wissenschaftliche Methoden, wie sie jüngst wieder von der experimentellen Philosophie propagiert wird? Nicht zuletzt von Peirce und Dewey über Rorty und Deleuze bis zu Habermas und Chalmers haben PhilosophInnen unterschiedlicher Traditionen und Strömungen zu dieser Debatte beigetragen, die wir mit dem diesjährigen Kolloquium aufgreifen und weiterführen möchten. Das 20. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian lädt entsprechend Philosophinnen und Philosophen an den Genfer See, um über die Bestimmung, die Probleme und die mögliche Relevanz des Fortschrittsbegriffs zu diskutieren.
Die Internationalen Philosophie-Kolloquien Evian wenden sich an
Philosophinnen und Philosophen, die Interesse an Diskussionen
über alle Schulgrenzen hinweg haben. Sie sind als ein Ort
gedacht, an dem die Spaltung zwischen kontinentaler und analytischer
Philosophie überwunden ist bzw. als Differenz produktiv wird.
Für eine Teilnahme am Kolloquium ist die zumindest passive
Beherrschung der drei Diskussionssprachen Französisch, Englisch
und Deutsch unerlässliche Voraussetzung!
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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