Thema / Programm
Der Mensch hat sich immer schon als ein Wesen verstanden, das
in gewissen Hinsichten nicht natürlich ist. Er steht damit
vor der Frage, wie er seine eigene nichtnatürliche Lebensweise
verstehen soll. Einigkeit besteht weitgehend darin, diese Lebensweise
als eine wesentlich durch Praxis gestaltete (selbst gestaltete)
Lebensweise zu verstehen. Der Begriff der Kultur bringt vielfach
diese Grundsituation des Menschen zum Ausdruck. Sofern man den
Menschen aber - seiner nichtnatürlichen Prägung zum
Trotz - als ein natürliches Wesen begreifen will, gilt es,
die selbst gestaltete Lebensweise zugleich als natürlich
zu verstehen. Es ist unter anderem dieses theoretische Anliegen,
das den Begriff der "zweiten Natur" auf den Plan ruft
und als mögliche theoretische Alternative zum Begriff der
Kultur interessant macht. Die zweite Natur ist eine Natur, die
irreduzibel mit der gestalterischen Aktivität des Menschen
zusammenhängt, dieser aber doch auch als quasinatürliche
Sphäre gegenübersteht.
Auch wenn der Begriff der zweiten Natur direkt oder indirekt in
allen philosophischen Schulen eine Rolle spielt, ist alles andere
als klar, wie die zweite Natur als eine quasinatürliche Sphäre
menschlicher Aktivität zu bestimmen ist. Die Bandbreite unterschiedlicher
Bestimmungen, die im Laufe des abendländischen Denkens von
Aristoteles über Hume und Hegel bis zu Bourdieu und McDowell
(um nur eine sehr kleine Auswahl zu nennen) gegeben worden sind,
lässt sich mit den drei Begriffen "Vernunft, Geschichte,
Institutionen" umreißen. Dabei schöpfen diese
Begriffe weder alle konzeptionellen Möglichkeiten aus, noch
sind sie zwingend als Alternativen zu begreifen: Ist die zweite
Natur ein Raum der lebendigen Tradition bzw. der Lebenswelt, wie
es Gadamer von Husserl und Heidegger her gedacht hat, und wie
es neuerdings von McDowell aufgegriffen wurde? Und ist eine Tradition
eher durch das übergreifende Charakteristikum der Vernunft
(wie man es von Kant her mit Korsgaard und Davidson denken kann)
oder durch historisch gewachsene Institutionen geprägt (wie
man von Hegel her mit Foucault und Bourdieu, aber auch mit Lukács
sagen würde)? Ist Vernunft - im Sinne einer instrumentellen
oder identifizierenden Vernunft, wie Horkheimer und Adorno sie
bestimmen - als eine Metainstitution zu begreifen, die sich verselbständigt
hat? Oder sollte man weniger von einer Verselbständigung
von Institutionen als von Selbstverständlichkeiten der Praxis
sprechen, wie es Wittgensteins Erben, aber auch Pragmatisten wie
Peirce und Dewey in unterschiedlicher Weise nahe legen? Inwiefern
ist mit dem Begriff der zweiten Natur eine Naturalisierung des
Sozialen (und vielleicht auch des Geistes) verbunden, die etwa
von feministischer Seite in Frage gestellt wird?
Die Möglichkeiten der Bestimmung der zweiten Natur überkreuzen
sich systematisch und schulisch in vielfältiger Weise. Das
14. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian lädt Philosophinnen
und Philosophen an den Genfer See, die daran interessiert sind,
die angedeuteten Überkreuzungen in intensiver Weise gemeinsam
zu diskutieren. Beiträge sollten aus - unter anderem - (post-)strukturalistischer,
phänomenologisch-hermeneutischer und (post-)analytischer
Perspektive Vorschläge der Bestimmung des Begriffs der zweiten
Natur, aber auch Differenzen und Konvergenzen dieser und anderer
Bestimmungen diskutieren und systematisch fruchtbar machen.
Programm
Programm
als PDF-Download
Lundi, 14 juillet 2008
Thomas
Hoffmann (Magdeburg): Zweite Natur, Gefangenschaft und Relativismus
Italo Testa (Parma): Second Nature and Social Space
Philippe Lacour (Berlin): Culture ou seconde nature: le
symbolique et le virtuel
Bettina Nüsse (Potsdam): Zweite Natur, oder: Das rationale
Tier Mensch
Olivia Mitscherlich (St. Gallen): Natürliche Künstlichkeit
- künstliche Natürlichkeit
Mardi, 15 juillet 2008
Florent Jakob (Paris): Devenir législateur et maître:
l'éthique nietzschéenne de la seconde nature
Vanessa Lemm (Santiago de Chile): The Concept of Second
Nature in Nietzsche's Conception of Culture
Claudie Hamel (Berlin): La zweite Natur chez Adorno
et Horkheimer ou le retour du dominé
Tim Henning (Jena): Geschichte, Natur und Narration
Felix Koch (Berlin): "Urteile Du": Von den zweiten
Naturen zur zweiten Natur
Discussion intermediaire
Mercredi, 16 juillet 2008
Tilo Wesche (Basel): Zweite Natur und Vernunft
Roger Foster (New York): Second Nature: Reification or
Self-Realization?
Georg Bertram (Berlin): Zweite Natur als Selbstgestaltung
Après-midi libre
Jeudi, 17 juillet 2008
David Lauer (Berlin): Wittgensteins Naturalismus der zweiten
Natur
Mark Sinclair (Manchester): Félix Ravaisson and
McDowell
Jörg Volbers (Berlin): Norm und Normalität der zweiten
Natur
Anne Le Goff (Paris): McDowell: l'acquisition d'une seconde
nature par la Bildung
David Weberman (Budapest): Reason, Bildung, and
the World
Vendredi, 18 juillet 2008
Sergio Levi (Milano): The Second Nature of Human Action
Tatjana Sheplyakova (Potsdam): Hegels Moralitätskritik
und deren Wendung zur Sittlichkeit
James Ingram (Eugene/Oregon): On the Uses and Disadvantages
of Culture for Politics
Discussion terminale
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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