Thema / Programm
Das Kolloquium widmet sich der Frage der Sozialität. Was
ist Sozialität bzw. was sind soziale Bindungskräfte,
die überall dort wirksam sind, wo sich gesellschaftliche
Strukturen ausbilden? Geht Sozialität über bloße
Intersubjektivität hinaus oder erschöpft sie sich in
ihr? Wie muss Sozialität expliziert werden?
Als ein möglicher Grundbegriff zur Rekonstruktion sozialer
Zusammenhänge hat in jüngster Zeit der Begriff der "Anerkennung"
an Konjunktur gewonnen. Er soll den Mechanismus verständlich
machen, durch den sich "Sozialität", d.h. soziale
Bindungen, soziale Felder und sozialisierte Subjekte ausbilden
- die performative Produktion sozialer Kohäsion durch die
permanente Arbeit moderner Subjekte an ihrer individuierenden
Vergesellschaftung. Diese Ansetzung der wechselseitigen Anerkennung
als genetisches Prinzip der Sozialität geht auf das Motiv
eines "Kampfes um Anerkennung" in den Jenaer Schriften
Hegels zurück: Hegel versucht dort, ausgehend von Fichte,
die Dialektik von Einzelnem (Subjekt) und Allgemeinem (Gesellschaft)
zu fassen und die Aporien der neuzeitlichen Vertragstheorien (Locke,
Hobbes, Rousseau) zu überwinden. Im Kampf um und in der Erfahrung
von Anerkennung durch andere konstituiert sich nicht nur das moderne
Subjekt, sondern auch der sittliche Fortschritt der Gesellschaft.
Im Kontext der Frankfurter Schule haben Jürgen Habermas und
Axel Honneth dieses Moment ausgeführt und es mit Einsichten
des amerikanischen Sozialpragmatismus (George H. Mead) kurzgeschlossen.
Auch in der Nachfolge der französischen Hegel-Rezeption durch
Alexandre Kojève hat die "Anerkennung" Prominenz
erlangt, wenn auch mit anderem, kritischem Akzent: Kojève
geht es um die existenziale Selbstentfremdung des zum unterworfenen
Subjekt seiner Begierde nach Anerkennung gemachten Individuums.
Hieran schließen zahlreiche französische Denker an
- neben Hyppolite, Derrida, Lévinas, Ricoeur und Nancy
vor allem Lacan und Althusser. Aus der Perspektive des Letzteren
ist die Idee der Anerkennung gerade nicht das genetische Prinzip
der Sozialität, sondern nur ein ideologischer Reflex der
herrschenden sozialen Verhältnisse, steckt also in jeder
Anerkennung die Verkennung (reconnaissance/méconnaissance).
Im amerikanischen Kontext wiederum spielt der Anerkennungsbegriff
heute eine zentrale Rolle in den Debatten um Gerechtigkeit, Freiheit
und Gleichheit: Charles Taylor hat im Rahmen seiner Kritik des
liberalistischen Universalismus den Begriff einer "Politik
der Anerkennung" kultureller Differenz ins Spiel gebracht.
Aus feministischer Perspektive hat Seyla Benhabib den impliziten
Androzentrismus in der universalistischen Idee des "anerkennenden"
und "anerkannten" Subjekts einer Kritik unterzogen und
für eine radikalisierte Anerkennung der realen Differenz
des Anderen plädiert. Nicht zuletzt im Zuge neohegelianischer
Tendenzen in der postanalytischen Philosophie (Brandom, McDowell)
rückt der Anerkennungsbegriff zunehmend ins Zentrum.
Die Diskurse der "Anerkennung" eröffnen eine gegenwärtig
intensiv und vielfältig diskutierte Perspektive auf das Phänomen
der Sozialität. Deshalb wird sich das Kolloquium der Frage
nach der Konstitution von Sozialität zu nähern suchen,
indem es die Auseinandersetzung mit diesen Diskursen erneut aufnimmt
und fragt, inwieweit Sozialität als in und durch Anerkennungsverhältnisse
konstituiert gedacht werden kann. Es geht also um die Auslotung
der Potenziale, aber auch der Grenzen des Begriffs "Anerkennung"
in der Explikation von "Sozialität". Welchen Beitrag
leistet der Begriff der Anerkennung zur Rekonstruktion sozialer
Zusammenhänge? Ist "Anerkennung" in diesem Punkt
als der zentrale Grundbegriff zu verstehen und mit welchen anderen
Begriffen konkurriert er? Alternativen stützen sich zum Beispiel
auf den Begriff der Gemeinschaft (MacIntyre), der Umverteilung
(Fraser), der Macht (Nietzsche, Foucault) oder der konstitutiven
Verkennung der sozialen Ordnung (Bourdieu). Ausdrücklich
sind Beiträge willkommen, die solche konkurrierenden Vorschläge
zur Explikation der grundlegenden Phänomene und Fragen von
Sozialität mit ins Spiel bringen, also die Tragfähigkeit
des Anerkennungsbegriffs in Frage stellen. Wir laden dazu ein,
die Frage der Sozialität im Fokus des Anerkennungsbegriffs
kontrovers und in all ihren Facetten zu behandeln.
Programm
Programm
als PDF-Download
Lundi, 19 juillet 2004
Anerkennung
und Sozialität - systematisch-historische Eingrenzungen
Jo-Jo Koo (Montreal): Sociality as a Dimension of
Recognition
Eran Dorfman (Paris): Reconnaître ou méconnaître?
Approches phénoménologique et psychanalytique de
la constitution d'autrui
Robin Celikates (Erfurt/Jena): Nicht versöhnt - Wo
bleibt der Kampf im "Kampf um Anerkennung"?
David Schweikard (Münster): Ich, das Wir, und Wir,
das Ich ist. - Hegels Theorie der konstitutiven Anerken-nung als
Alternative zum intentionalistischen Paradigma
Joseph Schear (Chicago): Recognition: A Hegelian Clue
for Transcendental Philosophy
Katrin Pahl (Stanford): The Promise of Vulnerability:
Mutual Recognition in Hegel
Mardi, 20 juillet 2004
Anerkennung, politische Gemeinschaft und ästhetische Praxis
James Ingram (New York): Politics against Society:
Recognition in Arendt and Rancière
Jens Kertscher (Darmstadt): Dialektik und Differenz - Jacques
Rancières Politik der Anerkennung
Jérôme Lèbre (Paris): Reconnaissance
et comparution : à propos de la communauté chez
Jean-Luc Nancy
Kevin Newmark (Boston): Shocked beyond Recognition: Baudelaire
and the Poetry of Sociality
Esa Kirkkopelto (Helsinki/Strasbourg): Suffrage d'Athéna
- tragédie, démocratie, déconstruction
Gilles Ribault (Paris): Enjeux freudiens de la reconnaissance
Mercredi, 21 juillet 2004
Anerkennung - neue Perspektiven
Christophe Laudou (Madrid): La demande de reconnaissance,
de Hegel à Lacan
Georg W. Bertram (Hildesheim): Anerkennung, Welterschließung
und symbolische Praxis
Carol C. Gould (New York): Relationships, Caring, and the
Idea of Recognition
Après-midi libre
Jeudi, 22 juillet 2004
Anerkennung, Selbstbewusstsein und Selbstheit
Susanna Lindberg (Helsinki): Heidegger et l'être-avec
Elizabeth Butterfield (Atlanta): Sociality and Recognition
as Enabling Conditions for Autonomy
Andreas Cremonini (Basel): Anerkennung. Vom Medium der
Freiheit
Olivier Voirol (Paris): Socialité médiatisée
et reconnaissance institutionnalisée
Johannes Angermüller (Magdeburg): Die diskursive
Konstitution des Sozialen - ein Lacan'scher Zugang
Inara Luiza Marim (Sao Paolo): Théorie de la reconnaissance
et psychanalyse en débat
Vendredi, 23 juillet 2004
Die Reichweite von Anerkennung
Diane Perpich (Clemson): Recognizing Difference Non-Essentially
Susanne Schmetkamp (Tübingen): Normative Reichweite
und Grenzen der Anerkennung im Zeitalter der Globalisierung
Simone Zurbuchen (Fribourg): Ist die Anerkennung kultureller
Differenz ein Gebot der Gerechtigkeit?
Abschlussdiskussion
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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