Thema / Programm
Aus
dem Panorama der Schlüsselbegriffe, die in der Geschichte
der Philosophie zur Explikation der Natur des Geistes herangezogen
worden sind, ragt der Begriff der Reflexivität in besonderem
Maße hervor. Die Konstitution des Geistigen hängt demnach
damit zusammen, dass ein Wesen sich selbst in reflexiver Weise
gegeben ist und damit in eine konstitutive strukturelle Distanz
zur Welt und zu sich selbst tritt. In diesem Sinne konnte Hegel
die Reflexion als "die trennende Thätigkeit überhaupt"
bezeichnen. Reflexivität markiert als solche das Ende natürlicher
Unmittelbarkeit - Rousseau setzt dem Naturzustand den "état
de reflexion" entgegen. Von Reflexivität als dem zentralen
Moment des Geistes sind allerdings - mindestens - zwei Verständnisse
entwickelt worden, die man mit den Stichworten "Selbstbewusstsein"
und "Kritik" charakterisieren kann.
Wenn man Reflexivität als konstitutiv für Selbstbewusstsein
versteht, dann will man explizieren, was es heißt, überhaupt
Gedanken und Absichten zu haben bzw. ein selbstbestimmtes Wesen
zu sein. Lockes einflussreicher Bestimmung zufolge verfügt
ein Wesen genau dann über geistige Zustände, wenn es
nicht nur etwas wahrnimmt ("sensation"), sondern gleichzeitig
durch den "inneren Sinn" wahrnimmt, dass es wahrnimmt
("reflection"). Dieses substantialistische Verständnis
hat zunächst bei Hume, dann bei Kant wirkmächtige Kritiken
erfahren. Kant zufolge besteht Selbstbewusstsein nicht in besonderen
Vorstellungen, sondern in einer bestimmten Struktur, der "transzendentalen
Apperzeption", der alle Vorstellungen unterliegen. Kants
zeitgenössische Kritiker machen demgegenüber die soziale
Dimension von Reflexivität qua Selbstbewusstsein (Hegel)
bzw. ihre Gebundenheit an symbolische Medien (Herder, Humboldt)
geltend. Im 20. Jahrhundert ist sowohl das Selbstbeobachtungsmodell
als auch das transzendentale Modell des Selbstbewusstseins in
phänomenologischen (Merleau-Ponty), hermeneutischen (Heidegger,
Gadamer, Taylor), neoidealistischen (Nagel, Henrich), aber auch
pragmatistischen (Ryle, Habermas) und sprachanalytischen (Sellars,
Davidson, Tugendhat, Frankfurt) Philosophien in unterschiedlicher
Weise in Frage gestellt worden. Damit wird zum Teil auch der Begriff
des Selbstbewusstseins selbst als Instanz von Reflexivität
problematisiert (Derrida, Deleuze/Guattari, Foucault, Lyotard).
Das zweite Verständnis von Reflexivität, das vor allem
in der Philosophie der Moderne profiliert worden ist, bindet diese
an den Begriff der Kritik. Wer Reflexivität mit diesem Begriff
fasst, will verständlich machen, was es heißt, dass
Gedanken als solche stets in der Alternative von "richtig"
und "falsch" evaluiert werden können. Es geht dabei,
in Kants Worten, um Mündigkeit. Solche Mündigkeit kann
nicht anders erreicht werden als durch Kritik, die Kant als Selbstkritik
der Vernunft, als "transzendentale Reflexion", begreift.
Wie schon Kants Begriff des Selbstbewusstseins ist aber auch dieser
Begriff der Kritik von seinen Nachfolgern als abstrakt kritisiert
worden. Marx und die Kritische Theorie des 20. Jahrhunderts haben
geltend gemacht, dass Kritik von ihrer historischen und materiellen
Umgebung nicht abstrahieren kann. Der Gedanke der "reinen"
transzendentalen Reflexion ist demnach Ausdruck eines sich selbst
missverstehenden falschen Bewusstseins. Autoren wie Nietzsche
oder Freud und nach diesen Foucault und die feministische Kritik
haben auf ihre Weise das selbstlegitimierende Potential der kritischen
Reflexion in Zweifel gezogen. In der Nachfolge von Marx wurde
zugleich die Frage nach dem Verhältnis von basaler und kritischer
Reflexivität aufgeworfen: Schon die basale Reflexivität
des Geistes könne ohne Einbeziehung ihres kritischen Potentials
nicht begriffen werden; erst auf dieser Ebene komme Reflexivität
in einem ernsthaften Sinne überhaupt zustande.
In welchem Verhältnis aber stehen "Selbstbewusstsein"
und "Kritik" als Verständnisse von Reflexivität?
Handelt es sich hier um eine (vollständige) Alternative?
Das 12. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian wird sich
der systematischen Explikation des Begriffs der Reflexivität
widmen: Wie ist die Struktur der Reflexivität, als Selbstbewusstsein
und/oder als Kritik, genau zu verstehen und wie verhalten sich
diese Dimensionen zueinander? Welchen Bedingungen unterliegt Reflexivität
und wie kommt sie jeweils zustande? Ausdrücklich laden wir
systematische Beiträge aller Traditionen und Schulen der
Bestimmung und der Kritik von Reflexivität ein. Im Sinne
der grundsätzlichen Zielsetzung des Kolloquiums sollen (post-)strukturalistische,
hermeneutische und analytische Positionen in ihren Differenzen
und Konvergenzen diskutiert und systematisch fruchtbar gemacht
werden.
Programm
Programm
als PDF-Download
Lundi,
17 juillet 2006
Reflexivität
des Selbst
Henning Tegtmeyer (Leipzig): Denken als Selbstbewusstsein
Marta Nunes da Costa (New York): From Kant's Freedom to
Foucaults Self-consciousness - Redefining the Power of Critique
Valérie Aucouturier (Paris): Réfléxivité,
conscience de soi et connaissance de soi
Reflexivität des Denkens
Kathrin Hönig (Zürich/Basel): Autoritativer Selbstbezug
und Kritik bei Davidson
Tim Henning (Münster): Wissen, was man denkt
Mardi, 18 juillet 2006
Reflexivität des Diskurses und der Zeichen
Georg W. Bertram (Hildesheim): Kritik und Reflexivität
nach Nietzsche
William Franke (Nashville): Habermas's Critical Reflexive
Philosophy versus Premodern Poetic and Theological Reflexivity
Karin de Boer (Amsterdam): Derrida's Critique of Reason
Reflexivität des Wissens
Vincent Citot (Paris): La réflexion, le préréflexif
et la question du scepticisme
Heidi Salaverria (Hamburg): Partikulare Reflexivität:
Pragmatismus zwischen kritischem Common Sence, Zweifel und Gewohnheit
Mercredi, 19 juillet 2006
Reflexivität der Wahrnehmung und des Leibes
Martina Roesner (Mainz): Le miroir interpellé.
Sur l'origine motivationnelle de la réflexion dans les
approches monadologiques der Leibniz et Husserl
Nicolas Monseu (Louvain/Wuppertal): Entre phénoménologie
et herméneutique : conscience de soi et critique de la
perception immanente
Annette Hilt (Freiburg): Leibliche Reflexivität -
Strukturen sinnlicher Selbsterfahrung
Après-midi libre
Jeudi, 20 juillet 2006
Reflexivität des Sozialen
David Schweikard (Köln): Selbstbewusstsein, soziales
Bewusstsein und Natur
Beatrice Kobow (Berkeley/Leipzig): Eye through the Other
- Ways of Defining Self-Consciousness through Collective Intentionality
Hans Bernhard Schmid (Wien): "Soziales Selbstbewußtsein"
- Reflexion und Kritik
Reflexivität der Zeit
Soraya Nour (Nanterre/Berlin): Réflexion historique
sur soi-même et sur la société : l'héritage
freudien
Felix Koch (New York): Kritische Historie: reflektierende
Selbsterkenntnis oder experimentelles Ethos?
Vendredi, 21 juillet 2006
Reflexivität der Kritik
Ejvind Hansen (Aarhus): Critique as Reflection? Exclusion
and the Need for Receptivity
Robin Celikates (Gießen): Kritik, Metakritik und
Kritische Theorie Vorschläge zum Abbau des Reflexivitätsdefizits
Claudie Gagné (Québec): Expérience
esthétique et autoréflexivité de l'énonciation
littéraire
Reflexivität des Subjekts
Roberto Farneti (Bologna): Authenticity and Compliance
Abschlussdiskussion
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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