Thema / Programm
Das Konzept der Materialität versucht, das Materielle zu denken,
d.h. etwas zu denken, was dem Denken einen bestimmten Widerstand
entgegenzubringen bzw. sich begrifflicher Bestimmung und intellektueller
Erkenntnis zu entziehen scheint. In der Erfahrung dieses
Widerstands oder Entzugs entsteht die Frage, wie die zu überbrückende
Kluft zwischen Denken und Materiellem beschaffen ist. Was für
einen Übergang stellt der Begriff der Materialität dar? Was gibt
er uns zu denken und wie gibt er uns etwas zu denken? Diese Fragen
gehören zum Grundbestand der abendländischen Philosophie und umreißen
einen Bereich, der durch sehr unterschiedliche Antwortstrategien
gepraegt wurde.
Die Themenformulierung zielt darauf ab, Antwortversuche, die sich
unterschiedlichen philosophischen Traditionen verdanken, systematisch
in Beziehung zu setzen. Sie will Kolloquienbeiträge provozieren,
die sich der aufgeworfenen Frage unter Bezug auf die durch Stichworte
angedeuteten Antworttypen stellen, um schließlich die verschiedenen
Denkanstrengungen bis hin zu ihren Grundlagen zur Diskussion zu
bringen. 'Körper', 'Sprache' und 'Ereignis' werden in verschiedenartigen
Weisen mit dem Begriff der Materialität in Verbindung gebracht,
welche im Folgenden kurz - und alles andere als erschöpfend -
umrissen werden.
KÖRPER - Ein philosophisch bedeutsamer Bezug besteht zwischen
dem Begriff der Materialität und dem des lebendigen Körpers :
vom biblischen 'das Wort wird Fleisch', über das Leib-Seele-Problem,
von bestimmten phänomenologischen Ansätzen (z.B. Merleau-Ponty)
bis hin zu Fragen des Zusammenhangs von Geschlecht und Körper.
Die Frage nach der Intelligibilität des Materiellen wäre in dieser
Hinsicht also z.B. in Zusammenhang mit oder gar ausgehend von
der Frage zu beantworten, wie wir uns als körperliche Wesen verstehen.
Ebenso zu betrachten wäre eine lange Tradition in der Philosophie
der (Natur-)Wissenschaft, die den Begriff der Materie mit dem
elementarer Körperteilchen bzw. mit der bewußtseinsunabhaengigen
Wirklichkeit in Verbindung bringt.
SPRACHE - Ebenso grundlegend steht mit Blick auf die Materialität
die Rolle der Sprache zur Debatte. Stellt sich die Frage nach
dem Bezug zum Materiellen als ein Vermittlungsproblem? D.h.: Ist
Sprache sowohl ein Hindernis als eine notwendige Vermittlungsinstanz
zwischen Denken und materieller Welt? Oder bedarf es hier eines
anderen Denkens der Sprache, das kein Vermittlungsproblem aufkommen
läßt. Dann ließe sich nur ausgehend von der Sprache verstehen,
was Materialität ist. Wird Materialität durch und in Sprache hervorgebracht?
Worin besteht z.B. die Materialität der Sprache selbst - in der
Schrift, dem Signifikanten, in anderem? Hier sind offensichtlich
die vielfältigen Möglichkeiten aufgerufen, den Zusammenhang von
Sprache, Begriff und Materialität zu bestimmen, im Spannungsfeld
zwischen analytischer, hermeneutisch-phänomenologischer und poststrukturalistischer
Philosophie.
EREIGNIS - Der Begriff des Ereignisses kann in verschiedener Weise
mit dem der Materialität in Verbindung gebracht werden. Einerseits
laesst sich das Geschehen der Materialisierung als eine solche
Verbindung denken. So wird zum Beispiel in der Aristotelischen
und mittelalterlichen Tradition Materie genau als dasjenige vorgestellt,
das die Form individuiert. Hier kann der Materialität also ein
ereignishafter Charakter zugeschrieben werden. In davon verschiedener
Weise ist die Beziehung von Materialität und Ereignis in anderen
philosophischen Strömungen gedacht, z.B. dem historischen Materialismus,
im bergsonianischen Denken oder hinsichtlich der Performativität
des Geschlechts. Andererseits zielt der Begriff des Ereignisses
auf die Bestimmung von Gegebenheitsweisen überhaupt. Dabei kann
man auf eine mit Heidegger prominent gewordene Denkfigur verweisen,
die von der zeitgenössischen französischen Philosophie aufgenommen
worden ist. Die Figur besteht darin, die Weise, in der etwas gegeben
ist, mit einer Struktur zwischen Ereignis und Entzug zu beschreiben
Der Titel des Kolloquiums stellt die Frage nach dem Bezug zur
Materialitaet als eine Herausforderung an das Denken. Die Trias
der als Antwort ins Spiel gebrachten Begriffe benennt mögliche
Ansatzpunkte und Thematisierungsweisen. Beiträge können sowohl
enger an einzelne Konzepte anknüpfen als auch deren Konstellationen
als solche betrachten. Um eine zusammenhängende Diskussion zu
ermöglichen, sollten sie sich dabei in dem skizzierten Problemzusammenhang
positionieren lassen.
Programm
LUNDI
/ MONTAG, 10.7.2000
matin / Vormittag
9:15 Jim Murdoch (New York): Material, Materialität
und Dialektik im neunzehnten Jahrhundert / Matériel, matérialité
et dialectique dans le 19ème siècle
11:00 Christian Grueny (Essen): Erfahrungen von Materie
bei Adorno / Experiences de matière chez Adorn
APRÈS-MIDI / NACHMITTAG
Workshops:
16:00 Stefan Blank / Oliver Schultz (Berlin): Gebrauchtes
Material zwischen Körpern und Zeichen / Le matériau
utilisé entre les corps et les signes
16:00 Denis Perrin (Grenoble): L' événement
du langage / Das Ereignis der Sprache
MARDI / DIENSTAG, 11.7.2000
MATIN / VORMITTAG
9:15 Charles Feitosa (Brasilien): Von der Sehensaristokratie
zur Anarchie der Sinne / De l'aristrocratie
de la vue à l'anarchie des sens
11:00 David Fopp (Paris/Berlin): Merleau-Ponty's Materie:
Physiognomie, Realität, Objektivität / Matière
chez Merleau-Ponty: physiognomie, réalité, objectivité
APRES-MIDI / NACHMITTAG: libre / frei
MERCREDI / MITTWOCH, 12.7.2000
MATIN / VORMITTAG
9:15 Pascal Delhom (Bochum/Hamburg): (Un)geordnete Materie
/ La matière en (des)ordre
11:00 Nicolas Soleymieux (Auxerre): Essai de somadicée
(Le corps-sujet Episode I) / Versuch über die
Somadizee (Das Körpersubjekt Episode I
APRES-MIDI / NACHMITTAG
Workshops:
16:00 Ellen Cox (Paris/Chicago)/Karen Feldman (Magdeburg):
Matérialité, metalepse et la déconstruction
/ Materialität, Metalepse und die Dekonstruktion
16:00 Agata Zielinski (Lyon): Sur "Le visible et l'invisible"
/ über "Das Sichtbare und das Unsichtbare"
JEUDI / DONNERSTAG, 13.7.2000
MATIN / VORMITTAG
9:15 Dominique Weber (Paris): S'unir pour ne pas se répandre.
Une lecture de la 6ème Meditation de Descartes / Sich vereinigen,
um sich nicht zu zerstreuen. Eine Lektüre der 6. Meditation
von Descartes
11:00 Makoto Katsumori (Japan): Bohrs Komplementaritaetsgedanke
und die hermeneutische Philosophie / L'idée de complémentarité
de Bohr et la philosophie herméneutique
APRÈS-MIDI / NACHMITTAG: libre / frei
VENDREDI / FREITAG, 14.7.2000
MATIN / VORMITTAG
9:15 Marc Rölli (Marburg): Das Intensive denken. Überlegungen
mit Bezug auf Deleuze / Penser l'intensif. Réfléxions
en relation avec Deleuze
11:00 Anita Kernwein (Stuttgart): Grenzverschiebungen zwischen
Leben und Tod. Jean-Luc Nancys "Der Eindringling" /
Déplacement des frantières entre vie et mort. "L'Intrus"
de Jean-Luc Nancy
APRES-MIDI / NACHMITTAG
16:00 discussion terminale / Abschlussdiskussion
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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