Thema / Programm
Die Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ist konstitutiv dadurch geprägt, dass uns in ihr Einzelgegenstände begegnen. Jeder Gegenstand bildet – als der Gegenstand, der er ist – eine mit keinem anderen Gegenstand identische Einheit. Individualität ist das Prinzip einer solchen Einheit – eine immanente Form, die den Gegenstand zu einem nur mit sich selbst identischen Einzelnen und damit zu mehr als einem bloßen Arrangement seiner Bestandteile macht. Gegenstände sind so, logisch betrachtet, individua: die Elemente, aus denen die Welt besteht.
In kritischer Auseinandersetzung mit den realistischen Positionen der Antike (Platon, Aristoteles) haben nominalistische Ontologien Einzelgegenstände als das primäre Seiende begriffen und dem Individuellen einen ontologischen Vorrang gegenüber dem Allgemeinen zugesprochen. Man könnte hier von einem ontologischen Individualismus sprechen. Hiergegen ist immer wieder der Einspruch erhoben worden, schon die bestimmte Individuierung von Einzelnem setze die Geltung allgemeiner Kategorien voraus. In der Erkenntnistheorie der Neuzeit (Locke, Leibniz, Kant) wurde deshalb darum gestritten, wie das Einzelne als Einzelnes von einem an Allgemeinbegriffe gebundenen Denken überhaupt erfasst werden könne – eine Frage, die in der sprachanalytischen Debatte um ein Denken des Einzelnen (singular thought) im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde (Russell, Strawson, Kripke, Evans).
In der Sozialontologie sind wir mit einem anspruchsvolleren Begriff des Individuums konfrontiert, der unser Selbstverständnis als Menschen kennzeichnet. Menschen sind als Personen Individuen. Das Prinzip ihrer Individualität ist nicht bloße kontinuierliche Existenz durch Raum und Zeit, sondern die Einheit ihres Selbstbewusstseins (Kant, Fichte, Hegel). Für Personen gilt daher, dass nicht jedes numerisch Eine schon ein Individuelles ist. Die Individualität der Person wird allererst entwickelt oder entworfen, indem das Individuum sich durch seine Handlungen selbst bestimmt: Es ist, wozu es sich macht (Kierkegaard, Sartre, Heidegger, Korsgaard). Als das Gegenüber des Individuums in diesem personalen Sinne erscheint erneut das Allgemeine, insbesondere in Gestalt der Gesellschaft. Hier lässt sich von einem sozialontologischen Individualismus sprechen, der wiederum dem Individuum einen Vorrang einräumt, wie er in den Epoche machenden vertragstheoretischen Gedankenexperimenten von Hobbes und Rousseau zum Ausdruck kommt: Auch wenn der Mensch ein soziales Wesen ist, ist er doch primär als unverwechselbares Einzelwesen zu begreifen, das sich selbst gehört (Locke, Mill, Nozick, Cohen).
Vor diesem Hintergrund ist der Begriff der Individualität in zwei konträren Weisen als ein kritischer Begriff profiliert worden. Einerseits wird geltend gemacht, dass das nichtidentische Moment von Individualität – offiziell als Individualisierung eine der Hauptdynamiken moderner Gesellschaften (Luhmann) – in modernen Gesellschaften immer mehr unter Druck gerät (Nietzsche, Lukács, Adorno). Kritik hat demnach Individualität gegen den Konformitätsdruck begrifflicher und sozialer Systeme zu verteidigen. Andererseits halten Kritiker liberalistischer Positionen die Idee der Individualität als Basis moderner Gesellschaften als solche für problematisch. Die Fokussierung auf das Individuum führe zu einem Atomismus, der größere gesellschaftliche Zusammenhänge ebenso aus dem Blick drängt wie die sozialen Bedingungen von Individualität (Hegel, Taylor, MacIntyre). Aus einer anderen Perspektive handelt es sich bei Individualität um ein Dispositiv der Herrschaft bzw. um eine Technik der Subjektivierung (Althusser, Foucault, Butler). Kritik muss demnach den Schein von Individualität durchbrechen, um kollektive Zusammenhänge verständlich zu machen.
Gibt es einen Zusammenhang dieser unterschiedlichen Tendenzen im Begriff des Individuums? Und gibt es Kriterien für einen solchen Begriff, die sich in seinen unterschiedlichen Einsatzfeldern durchhalten? Das 17. Internationale Philosophie-Kolloquium Evian lädt Philosophinnen und Philosophen an den Genfer See, um den Begriff der Individualität im Spannungsfeld seiner unterschiedlichen Bestimmungen zu diskutieren. Besonders willkommen sind dabei Beiträge, die über Zusammenhänge unterschiedlicher Bestimmungen von Individualität gerade auch im Theoretischen wie im Praktischen nachdenken. Unser Ziel ist es, unterschiedliche historische, systematische und schulische Perspektiven zu verbinden und so eine Sicht auf das zu gewinnen, was mit dem Begriff der Individualität insgesamt bezeichnet ist.
Programm
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Lundi, 18 juillet 2011
Christophe Laudou (Madrid): L'individu : entre substance et sujet
Günter Zöller (München): Homo homini civis. The Social Principle of Individuation in Rousseau, Kant and Fichte
Hannes Kuch (Berlin): Individualität und Sittlichkeit
Claire Pagès (Paris): Individuation, perception et qualités – Hegel et Russell
Martin Hofmann (Hamburg): Die normative Bedeutung des Begriffs menschlicher Individualität
Mardi, 19 juillet 2011
Ariane Kiatibian (Paris): Individualité et Dasein – Indications à partir de la Jemeinigkeit
Christopher P. Noble (Villanova/PA): Deleuze, Leibniz and the Philosophy of the Individual
Amber Carpenter (York): Substantial Freedom or Freedom from Substance?
Georg Bertram (Berlin): Individualität – Einzigartigkeit und Eigenheit
Christian Skirke (Amsterdam): Are Persons Analyzable?
Mercredi, 20 juillet 2011
Jula Wildberger (Paris): Corporealist Ontology and Its Consequences for Defining a Good Life in Stoicism
Anthony K. Jensen (New York/Berlin): The Morality of Individualism: a Metaphysical Problem
Anna Wehofsits (Berlin): Klimawandel und individuelle Verantwortung
Après-midi libre
Jeudi, 21 juillet 2011
David Lauer (Berlin): Bezugnahme auf Individuen: Gedanken de te
Jakob Dahl Rentdorff (Roskilde): L’individu, l’existence et autrui chez Søren Kierkegaard
Hans Bernhard Schmid (Wien): Sozialontologischer Individualismus
Margareta Hanes (Bruxelles): Rawls on the Separateness of Persons
Robin Celikates (Amsterdam): The Need for Recognition and the Conditions of Individuality
Vendredi, 22 juillet 2011
Jörg Bernardy (Hildesheim): Zwischen Einheit und Diskontinuität: Subjektivierung, Verdinglichung, Desubjektivierungsprozesse
James A. Ong (Durham/NC): Spinoza and Nietzsche on Individualism as a Problem
Philippe Crignon (Paris): Diviser pour mieux régner ? L’individualisme de J. S. Mill en question
Alessandro Bertinetto (Udine/Berlin): Individualität und Improvisation: Theoretische, praktische und ästhetische Zusammenhänge
Discussion terminale
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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