Thema / Programm
Menschen sind, so hat es den Anschein, normative Wesen. Sie finden
sich an Normen und Regeln orientiert, in deren Licht sie ihr Tun
kritisieren und rechtfertigen. Die Ausdrücke norma
und regula bezeichnen seit der Antike das, was die Unterscheidung
zwischen richtig und falsch erlaubt. Und die Philosophie der Moderne
ist Kant vielfach in der Auffassung gefolgt, dass menschliches
Handeln, Erkennen und Denken - und nur dieses - sich wesentlich
im Spielraum von richtig und falsch vollzieht. Dementsprechend
hat man in vielen Bereichen und Traditionen der Philosophie gehofft,
mit dem Begriff der Normativität den Unterschied zwischen
Natur und Kultur, zwischen einem Reich der Kausalität und
einem Reich der Freiheit, zwischen dem Physischen und dem Geistigen
explizieren zu können.
Was aber heißt es, Subjekt von Normen zu sein? Woher speist
sich die Kraft der Normen, uns zu binden? Wie lässt sich
das Verhältnis von Norm und Natur denken? Oder schlicht:
Was ist Normativität? Das 11. Internationale Französisch-Deutsche
Philosophie-Kolloquium ist dieser Frage gewidmet. Es zielt damit
auf einen grundlegenden Begriff der Normativität, der möglicherweise
vor jeder Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische
angesiedelt werden kann. Zwar werden Normen zumeist als praktische
- moralische, rechtliche oder politische - Normen gedacht, doch
stehen sie auch im Zentrum von Explikationen dessen, was es heißt,
etwas zu wissen, zu verstehen oder sprachlich zu artikulieren.
Das
Kolloquium erhofft sich systematische Beiträge aus möglichst
vielen philosophischen Diskussionszusammenhängen. Naheliegend
sind Varianten eines normativen Pragmatismus (z.B. Brandom), der
Normen als in verstehenden, sprachlichen und nichtsprachlichen
Praktiken konstituiert begreift und sich auf Dewey, Heidegger
oder Wittgenstein berufen kann. Zu denken ist auch an neoaristotelische
Ansätze, die das Kantische Moment der begrifflichen Trennung
von Norm und Natur insgesamt abzuschütteln und einen Begriff
der natürlichen Norm und der normativ gehaltvollen (zweiten)
Natur wiederzugewinnen versuchen. Auch existenzphilosophische
Positionen, etwa im Gefolge Kierkegaards und Sartres, die auf
die Begriffe der Eigentlichkeit und der Wahl zurückgreifen,
liegen im Zentrum der Fragestellung des Kolloquiums. Und nicht
zuletzt ist die Reflexion von Normen und Regeln in der hermeneutischen
und phänomenologischen Tradition von großer Relevanz:
Hier wird die Unverfügbarkeit und Unausschöpflichkeit
des Normativen betont, Begriffe wie Angemessenheit und Tradition
(Gadamer), Verantwortung (Lévinas) und Gerechtigkeit (Derrida)
stehen im Vordergrund.
Das Kolloquium will jedoch auch die Auseinandersetzung mit einflussreichen
antinormativistischen Positionen führen, die von Hume'schen
Vernunftkonzeptionen bis zu gegenwärtigen Formen des Naturalismus
in der Philosophie des Geistes und der Semantik reichen. Auch
manche strukturalistische Philosophien und die von Foucault und
Bourdieu begründeten Traditionen haben sich implizit oder
explizit gegen ein normativistisches Verständnis von Sprache
und Gesellschaft ausgesprochen. Ausdrücklich werden Beiträge
eingeladen, die skeptische Positionen gegenüber der Idee
einer normativistischen Auszeichnung von Geist und Sprache vertreten.
Die Frage nach Normen und Normativität ist zweifelsohne nicht
in allen philosophischen Traditionen gleichermaßen vertraut.
Gerade in den phänomenologischen und neostrukturalistischen
Debatten im französischen Sprachraum sind Fragen der Normativität
kaum als solche auf der philosophischen Agenda gewesen. Aus diesem
Grund ist der französische Titel des Kolloquiums anders formuliert
als der deutsche und englische. Im Sinne eines französisch-deutschen
Dialogs in der Philosophie, den das Kolloquium führen will,
soll es auch darum gehen, gerade die Differenzen unterschiedlicher
philosophischer Traditionen mit Blick auf die Frage der Normen
und der Normativität zur Sprache zu bringen und systematisch
fruchtbar zu machen.
Programm
Programm
als PDF-Download
Lundi,
18 juillet 2005
Die
soziale Begründung des Normativen
Hans Bernhard Schmid (St. Gallen): Die Fundierung sozialer
Normativität im Gemeinschaftshandeln
Benjamin Trémoulet (Paris/Stony Brook): Normalité
et normativité : le sens commun selon Kant
Barbara Fultner (Granville): Linguistic Practice and Social
Norms
Diane Perpich (Clemson): New Kantians: Korsgaard, Habermas
and Lévinas on Language and Normativity
David Lauer (Berlin): Die Bedeutung der Liebe. Semantische
Normativität, soziale Praxis und existenzielle Festlegung
Mardi, 19juillet 2005
Normativität, Erkenntnis und Ästhetik
Raffaela Giovagnoli (Salerno): Normativity and the
Space of Reasons
Chris Doude van Troostwijk (Amsterdam): Point de vue. Sur
la souplesse de la raison pratique kantienne
Georg W. Bertram (Hildesheim): Normativität und Kreativität
Richard Eldridge (Swarthmore): What's Left of Epistemology?
Zwischendiskussion
Mercredi, 20 juillet 2005
Normativität der Kritik - Kritik der Normativität
Arnaud Pelletier (Paris/Hannover): Michel Foucault
et les normes de la pensée
Katrin Meyer (St. Gallen): Normierung und Normalisierung
bei Michel Foucault
Patricia Purtschert (Basel): Normierung und Regulierung
bei Judith Butler
Après-midi libre
Jeudi, 21 juillet 2005
Normativität, Politik, Recht und Ethik
Tanja Pritzlaff (Bremen): Sprachliche und gesellschaftliche
Normen: Politische Theorie in brandomscher Per-spektive
James Ingram (New York): Norms, Conflict, Progress
Christophe Laudou (Madrid): Le discours de la victime -
une parole qui transcende les normes
Sarah Clarke Miller (Memphis): How to Construct the Scope
of Moral Status
Christine Clavien (Neuchâtel): Thinking Morality
and Normativity from an Evolutionary Perspective: an Analy-sis
Illustrated with Gibbard's Moral Theory
Vendredi, 22 juillet 2005
Normativität, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit
Roberto Farneti (Bologna/Los Angeles): Thucydides's
Error. The Case for a Natural History of Humans
Tim Henning (Münster/Princeton): Die narrative Biographie
als normative Grundlage der Kritik
Mohammadreza Javaheri (Paris/Heidelberg): Le rapport entre
la normativité et l'historicité - une nouvelle approche
Hégélienne
Markus Wolf (Bremen/Leipzig): Zeitlichkeit und Philosophie
des Normativen im Denken von Jacques Derrida
Abschlussdiskussion
Organisation:
Georg W. Bertram (Berlin), Robin Celikates (Amsterdam), David
Lauer (Berlin). In cooperation with: Alessandro Bertinetto (Udine), Karen Feldman (Berkeley), Jo-Jo Koo (Dickinson), Christophe Laudou (Madrid), Claire
Pagès (Paris), Diane Perpich (Clemson), Hans Bernhard Schmid (Wien),
Contact:
evian@philosophie.fu-berlin.de
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