Christentum in Europa im 17. JahrhundertMax-Planck-Institut für Geschichte Göttingen, 13.-15. Juni 1996 |
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Votivtafeln digitalArthur E. Imhof
Mein eigentliches Fachgebiet im Rahmen der Sozialgeschichte der Neuzeit ist die Historische Demographie. Seit 1975 vertrete ich diese, von mir sehr weit gefasste Disziplin in Forschung und Lehre an der Freien Universität Berlin beziehungsweise seit Anfang der 1980er Jahre in Intensivkursen für Postgraduierte an unterschiedlichen Universitäten Brasiliens sowie in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern (die uns in vielen diesbezüglichen Entwicklungen nachfolgen). Seit dem Wintersemester 1995/96 geschieht der überwiegende Teil aller Lehrveranstaltungen unter massiver Einbeziehung von (eigenproduzierten) CD-ROMs und Webseiten, eine im übrigen ideale Kombination. Die digitalisierte Grundmasse besteht aus Hunderten von ehemaligen Unterrichts-Dias, die beim Aufkommen der neuen Medien auf Photo-CDs überführt wurden. Hieraus entstanden mittlerweile mehrere, zum Teil auch auf dem Markt erhältliche interaktive CD-ROMs, so "Historische Demographie I". Wie die anderen CDs wird sie seit ihrem Erscheinen von mir kontinuierlich im World Wide Web betreut. Auf diese Weise behält sie - trotz ROM - ihre Aktualität auf absehbare Zeit bei und kann Lehrveranstaltungen oder eben auch Tagungen wie dieser weiterhin zugrunde gelegt werden."Historische Demographie I" lässt "Historische Demographie II" erwarten. Wie hängen die beiden Projekte zusammen? Die bereits vorliegende CD I führt anhand zahlreicher Schaubilder in die Bevölkerungsvorgänge der letzten vier-, fünfhundert Jahre ein. Ihr hauptsächlichstes Quellenmaterial sind "harte" Daten: Geburts- und Sterbeeintragungen aus Kirchenbüchern, Angaben zu Lebenserwartungen und Todesursachen aus Statistischen Ämtern, von anderen Forschern publizierte oder eigene Berechnungen über Kinderzahlen oder Müttersterblichkeit und dergleichen mehr. Kennzeichnend für historische Bevölkerungen ist - wie sich hierbei immer wieder zeigt - die verglichen mit heute hohe Mortalität und als Folge davon die niedrige durchschnittliche Lebenserwartung. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts betrug sie - mit grossen Abweichungen nach unten und oben - bloss um die 30 bis 40 Jahre. Säuglinge, Kinder, Mütter, Erwachsene allen Alters wurden aufgrund von "Pestilenzen, Hunger, Krieg" immer wieder vorzeitig hinweggerafft. "Historische Demographie II" greift diesen Sachverhalt auf. Im Gegensatz zur ersten CD liegen hier jedoch "weiche" Daten zugrunde. 300 ausgewählte Votivtafeln aus der Wallfahrtskirche von Sammarei (= Sankt Marien; nahe bei Passau in Niederbayern) führen uns drastisch vor Augen, weshalb die durchschnittliche Lebenserwartung in vergangenen Tagen keine 40 Jahre betrug. (Votivtafeln sind Bitt- oder Dankesbezeugungen einer überirdischen Stelle gegenüber. Mangels anderer Möglichkeiten wandten sich unsere Vorfahren in Notsituationen an bestimmte Heilige oder an die Muttergottes, damit diese als dem Herrn besonders Nahestehende bei ihm ein gutes Wort für sie einlegten und um Abwendung oder doch Linderung baten. Als Gegenleistung wurde die Stiftung einer Tafel versprochen ["ex voto" = aufgrund eines Versprechens oder Gelöbnisses]. Diese Tafel mit der bildlichen Darstellung der Notsituation wurde anschliessend zur grösseren Ehre des hilfreichen Patrons oder der Patronin für alle Gläubigen gut sichtbar in einer Kirche öffentlich angebracht.) Auf solchen Votivtafeln findet sich das gesamte Spektrum alltäglicher Notsituationen illustriert, also nicht nur solche, die unmittelbar zu einem vorzeitigen Tod führten. So sehen wir Bitten um Befreiung aus jahrelanger Schwermut (1684) ebenso wie eine grosse Zahl von Haushalts-, Arbeits-, Transport- und Verkehrsunfällen, viele mit lebensqualitätsmindernden Langzeitauswirkungen. Andere Tafeln wiederum zeigen durchbrennende Pferde oder wild gewordene Stiere, beissende Hunde oder ausschlagende Rösser in grosser Zahl; noch andere räuberische An - und Überfälle, Schlägereien und Messerstechereien (1670). Das Spektrum umfasst des weiteren bedrohte Haustierbestände ebenso wie Blitzeinschläge und Feuersbrünste, Lungen- und sehr häufig Augenleiden oder Sehbeschwerden genauso wie Gehbehinderungen wegen Knie- oder Fersenschmerzen, Brandwunden, Verbrühungen, Verbrennungen, in Kriegsgefangenschaft geratene Soldaten und chirurgische Eingriffe mit ungewissem Ausgang. Rührend ist die grosse Besorgtheit um Säuglinge und Frauen (1665) in Kindsnöten (1677), überhaupt um alles Irdische und nicht zuletzt um das ewige Seelenheil. Es gibt keine andere Quelle, die uns gleichermassen bildhaft die überall und jederzeit gefährdete Existenz vergangener Zeiten, aber auch das Gottvertrauen so eindrücklich vor Augen führen und in Erinnerung rufen könnte.
Da mein Gesamtbestand an digitalisierten Sammareier Votivtafeln mittlerweile bei über 1200 liegt (gespeichert auf entsprechend vielen Photo-CDs), versteht sich fast von selbst, dass dieses in Forschung und Lehre Semester um Semester immer wieder benutzte attraktive Material auch bei Lehrveranstaltungsteilnehmern inzwischen auf so grosses Interesse stiess, dass sich besonders Engagierte zu Gruppen zusammenschlossen und Teilbereiche selbstständig bis hin zu eigenen interaktiven CD-ROMs weiterbearbeiteten. Die folgende Übersicht listet sowohl einige im Lauf der Zeit diesbezüglich entstandene Ausführungen meinerseits im WWW (nicht zuletzt im Hinblick auf
Tele Teaching / Distance Learning und
Virtuelle Seminare)
wie auch WWW-Informationen und -Erfahrungsberichte von Teilnehmerseite auf. Günstig wirkt sich in diesem Zusammenhang sicher aus, dass zu jeder einzelnen Votivtafel bereits ein Dokumentationsblatt vorliegt und zudem die Copyrightfrage befriedigend geklärt ist. In interdisziplinärer Hinsicht erfolgt ferner eine starke Stimulierung durch das wiederholt bezeugte Interesse von Seiten der Deutschen Volkskunde.
Ein Webbeitrag hat, nicht nur wegen der eben erwähnten problemlosen Aktualisierung, per se ganz andere Möglichkeiten (als ein traditionelles Paper), sich bei einer Tagung wie der vorliegenden aktiv einzubringen. Es besteht hier denn auch nicht die Absicht, ein solches Papier elektronisch nachzuahmen. Dies wäre zwar möglich, würde aber die den neuen Medien innewohnenden spezifischen Chancen leichthin vertun. Je mehr Zeit jemand zwecks Vor- oder Nachbereitung oder eben während der Tagung selbst durch Aufrufen verschiedener Hotwords interaktiv investiert, umso grösser kann der Gewinn aus der "Lektüre" sein. Je nach Interessenlage (beziehungsweise Zugehörigkeit zu anderen Tagungssektionen wie etwa "Seuchen, Hungersnot, Krankheit, Tod") werden die eingeschlagenen Pfade unterschiedlich ausfallen: mehr volkskundlich, mehr mentalitäs- oder medizingeschichtlich, mehr historisch-demographisch. Und umfangmässig werden es einmal zwei, ein andermal zwanzig, vierzig, achtzig, hundert oder noch mehr aufgerufene "Seiten" sein. Überdies meint interaktiv nicht nur das mehr oder weniger zielstrebige Zusammenstellen oder Verfolgen von Links, sondern auch das aktive Weiterbearbeiten der digitalisiert vorliegenden Webmaterialien zu eigenen Zwecken oder nach eigenem Gusto, für eigene Lehr-Einheiten. Bezüglich des Behandlungszeitraums wird zudem kein Versuch einer Beschränkung nur auf Votivtafeln des 17. Jahrhunderts unternommen. Zwar weist der Sammareier Gesamtbestand fast neunzig Nummern aus jenem Jahrhundert auf. Im Vergleich zu den nachfolgenden Zeiträumen ist das indes, wie schon aus der 300er-Auswahl hervorgeht, recht dürftig. Wie anderswo im Web bereits erläutert, wäre es wenig sinnvoll, auf der Basis dieser zufällig erhaltenen neunzig Exemplare "repräsentative Aussagen" für das 17. Jahrhundert machen zu wollen. Wie der Vergleich mit dem nahegelegenen und aufgrund einer anderen Quellenlage gut untersuchten Wallfahrtsort Mariahilf ob Passau allerdings zeigt, hatten die Menschen in jenem Raum damals angesichts der massiven Heimsuchungen im Dreissigjährigen Krieg, durch die Pestepidemien und wegen der Türkennot allen Anlass, sich in existentiellen Nöten jeglicher Art an überirdische Helfer zu wenden. Was somit durch den aus anschliessenden Jahrhunderten in grösserem Umfang erhaltenen Votivtafelbestand besser dokumentiert ist, darf folglich ohne grosse Skrupel ins 17. rückprojiziert werden. Umgekehrt heisst dies indes auch, dass sich das 18. und 19. Jahrhundert für viele unserer Vorfahren hinsichtlich alltäglicher Notsituationen nicht wesentlich vom 17. unterschied. (Was einen Historiker-Demographen allerdings wenig erstaunt.) Der entscheidende Durchbruch im Wandel von einer unsicheren zu einer sicher(er)en Lebenszeit erfolgte erst im 20. Jahrhundert, und auch da erst in dessen zweiten Hälfte. Erst da setzte die massive Erosion der traditionellen Votivtafel-Existenzberechtigung ein. |
Erstellt: 15. März 1996Last revision: Wednesday, 20. March 1996 - 08:38:38 |