Zum Dreissigjährigen Krieg, den Türkenkriegen,
Pestepidemien samt anderem Elend
in und um Passau in der frühen Neuzeit


Der Abstand zwischen Passau und Sammarei
beträgt zwanzig Kilometer: ein halber Tag zu Fuss


Textpassagen aus:

Walter Hartinger: Mariahilf ob Passau.
Volkskundliche Untersuchung der Passauer Wallfahrt
und der Mariahilf-Verehrung im deutschsprachigen Raum.
Passau: Verlag des Vereins für Ostbairische Heimatforschung 1985.
Seiten 21-42 (gekürzt).


... In eben diesen 1620er Jahren herrschte in Passaus Umgebung Krieg. Schon seit 1610 war die Lage nicht mehr zur Ruhe gekommen. Damals hatte der Passauer Fürstbischof Leopold seine Truppen, eine als "Passauisches Kriegsvolk" in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung übel beleumundete Soldateska, plündernd und raubend durch Böhmen auf Prag zu geführt. In den folgenden Jahren wurden zum Unterhalt dieser Truppen wiederholt die Passauer Bürger und Landstände zu Sondersteuern herangezogen. Der Widerstand dagegen wurde gebrochen mit der Drohung, man werde dem bayerischen Herzog Maximilian die Exekution gegen die Stadt übertragen. Was dies bedeutete, war damals allgemein bekannt. Als einige Male der Sold nicht pünktlich bezahlt werden konnte, hielten sich die Truppen durch "Raub, Plünderung und Exzesse aller Art" im Bayerischen Wald und Oberösterreich schadlos.

Das öffentliche Interesse der Passauer war in diesen Jahren vor Ausbruch des grossen Dreissigjährigen Krieges auf die östlichen Nachbarländer konzentriert, wo man zwischen Glaubenskampf, staatspolitischer Rebellion und dynastischem Zwist hin und her schwankte. Hier wurden gewaltsam Kirchen geschlossen und abgebrochen. Hier befanden sich nicht nur die Landstände, sondern teilweise auch die Leute auf dem flachen Land in offener Auflehnung. Als sich dann in dieser neuralgischen Zone tatsächlich der allgemein erwartete grosse europäische Konflikt entzündete, gehörte das Passauer Gebiet sofort zu den unmittelbar betroffenen Landschaften. Hier marschierten die Truppen der Liga. In Passau selbst beliess Max von Bayern eine Abteilung zur Sicherung der rückwärtigen Linien. Und auch als die aufständischen Böhmen 1620 in der Schlacht auf dem Weissen Berg geschlagen wurden, kehrte keineswegs Friede ein. Herzog Max liess seine Truppen sowohl in Oberösterreich wie auch in der Oberpfalz einrücken und jahrelang hier stehen. Das Passauer Territorium geriet direkt zwischen die Kriegsschauplätze. Auch wenn die Stadt selber von den Schweden nicht erobert wurde, so verbreitete sich doch panische Angst, als diese München und Regensburg einnahmen und brandschatzten, 1633 bis nach Vilshofen vorrückten und erst im letzten Augenblick durch den bayerischen General Johann von Werth gestoppt wurden. In höchster Eile hatte man das Kirchensilber und andere Wertsachen nach Österreich hinein geflüchtet. Doch auch dort herrschte alles andere als Ruhe und Sicherheit, befanden sich doch nach 1625 die Bauern in Oberösterreich in offenem Kampf gegen die bayerischen Besatzungstruppen. Selbst wenn die Fronten weiter entfernt lagen, so war den Passauern und den Menschen in der Umgebung der Krieg dauernd präsent. Dafür sorgten schon die kaiserlichen Truppen, die seit Einführung des Wallensteinschen Systems der Kriegsführung Freund und Feind in ähnlicher Weise bedrückten.

Die Daseinsängste, existenziellen Bedrohungen und die davon ausgelösten verzweifelten Bemühungen der Menschen um Sicherheiten werden für uns greifbar in einer Erscheinung, für die man in der Zeit um 1620 den Ausdruck "Passauer Kunst" verwandte. Auf diese "Kunst" verstand sich der Passauer Scharfrichter Kaspar Neidhart, nach einer anderen Überlieferung der relegeirte Student Christian Elsenreiter; in einem haus im Marktgässchen stellte einer von diesen beiden in grossen Massen Zauberzettel her, welche durch allerhand geheimnisville Praktiken mit übernatürlicher Macht begabt wurden und auf der zugeklebten Innenseite die Aufschrit trugen: "Teufel hilf mir, Leib und Seel geb ich dir." Wer einen solchen Zettel verschluckte, der war für 24 Stunden unverwundbar durch Schuss, Hieb oder Stich. Starb er allerdings in dieser Frist, so war seine Seele des Teufels. Auch der Anführer der rebellischen Bauern in oberösterreich, Stephan Fadinger, vertraute auf diese Zettel, bis ihm dann 1626 vor Linz eine Kanonenkugel das Bein zerschmetterte und schliesslich den Tod brachte. In diesem Fall hatte sich zwar die Unwirksamkeit des Zaubermittels erwiesen, doch teilten damals auch Geistliche und vornehme Bürger den allgemeinen Glauben, sich mit dubiosen Praktiken gegen Hieb und Stich gefeit machen zu können. Als 1650 der Dekan von Strakonitz in Böhmen mit einem dortigen vornehmen Bürger und Ratsverwandten nach Passau wallfahrtet und auf dem Heimritte ausserhalb der Stadt von zwei Räubern überfallen wird, feuert sein Begleiter seine beiden Pistolen auf einen von ihnen ab; der Geistliche gibt anschliessend zu Protokoll: "aber weilen der Rauber fest und durch teufflische Künst gefrohren, kundt er ihme nicht schaden."

Die Tatsache andauernder Kriegsgefahr, beständiger Truppendurchzüge, Einquartierungen, Sondersteuern, die Gefahr von Brandschatzung, Plünderung, Verletzung und Tötung muss in dem Jahrzehnt vor und nach Ausbruch des 30jährigen Krieges das Denken und Empfinden der Menschen zutiefst geprägt haben. Es bildete eine Mentalität heran, in der viele nicht davor zurückschreckten, sich dubiosen magischen Zaubermitteln anzuvertrauen und dafür das Heil ihrer Seele aufs Spiel zu setzen. Die Regression in magie ist eine der möglichen Antworten, die Menschen zu allen Zeiten zu geben bereit sind, wenn Angst und Verzweiflung über sie Gewalt bekommen. Die Bitte um himmlische Hilfe und die vertrauensvolle Anheimstellung unter die schützende Hand Gottes ist die konträre Alternative zu jener anmassenden menschlichen Selbsthilfe. Die rasche Ausbreitung des Passauer Kultes liegt offensichtlich auch darin begründet, dass in den konkreten Kriegsängsten und -wirren dieser Jahre der Hoffnungsschimmer eines neuen mächtigen Gnadenortes sichtbar wurde. ... Zusammentreffen mit Soldaten bedeutete immer akute Gefahr, zumindest Plünderung, oft aber zusätzlich Brandstiftung, Körperverletzung und Todesdrohung. Angst und Schrecken wurden für die Passauer in der Lebenszeit des Domdekans Freiherrs Marquard von Schwendi (1574-1634) zu bestimmenden Lebensmächten. Auf dem so vorbereiteten psychischen Boden musste sich der Ruf "Maria hilf!" mit suggestiver Kraft ausbreiten.

Nach dem Westfälischen Friedensschluss 1648 kehrte zwar in weiten Gebieten des Reiches öffentliche Ruhe und Sicherheit ein. Es folgte eine Zeit der Regeneration, des Wiederaufbaus verlassener und zerstörter Ortschaften, der Auffüllung der Verluste an Menschen und Tieren. Die Verhältnisse normalisierten sich. Nicht so jedoch im weiteren Umfeld von Passau. Hier dauerten Unsicherheit, Aushebung und Einquartierung von Soldaten, Angst vor dem Krieg und Erlebnis feindlicher Vorstösse noch über zwei Generationen hinweg an. Passaus junge Wallfahrt geriet in den Sog der Türkenkriege. Für Hochstift und Bistum Passau bedeutete dies nichts Neues, sondern bedrohliche Aktualisierung eines Zustandes, wie er sich bereits im 16. Jahrhundert herausgebildet hatte. Mochte in vielen deutschen Territorien nach der ersten Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1529 das öffentliche Interesse auf Reformation, Bauernkrieg oder andere Themen gelenkt worden sein, im Fürstentum Passau und in ganz Österreich hielten "Neue Zeitungen", "Türckenbüchlein" und Schauergerüchten die Angst vor dem Feind aus dem Osten am Leben. Da sich das Passauer Bistum bis an die Grenzen von Ungarn erstreckte, war die öffentliche Diskussion der Machtveränderungen in Südosteuropa selbstverständlich. Dafür sorgten auch die Einführung des 40stündigen Gebetes, das Läuten der sogenannten Türkenglocken und die zahlreichen Anordnungen zu Türkengebeten. In Österreich und dem angrenzenden Teil Süddeutschlands entstand eine wahre Türken-Psychose.

Die latente Türkenfurcht mochte vorübergehend durch die aktuellen Bedrohungen des grossen Konfessionskrieges überdeckt worden sein, in Österreich und Süddeutschland aber erhielt sie neue Nahrung noch vor dem Friedensschluss. Schon damals begann die erneute türkische Expansion, aufmerksam registriert an den Höfen zu Wien, Passau und München. Als die Türken 1660 in Siebenbürgen einrückten und Grosswardein nahmen, fühlte man sich in Bayern bereits unmittelbar bedroht und schickte dem Kaiser Hilfstruppen. Im Türkenkrieg ging es nicht mehr wie im 30jährigen Krieg gegen sprach- und konfessionsverwandte Feinde, sondern gegen den "Erzfeind der Christenheit" selbst. Noch mehr als die militärische Bedrohung spürte man die religiöse Gefährdung. Angesichts der Ohnmacht von Kaiser und Reich nahm es darum nicht wunder, dass man vor allem die Hilfe des Himmels mobilisieren wollte. Dass sich in dieser neuerlichen Not die Hoffnungen der gläubigen Katholiken in Österreich und Süddeutschland zunehmend auf die Hilfe Marias im allgemeinen und diejenige des Passauer Gnadenbildes im besonderen konzentrierten, hatte seinen guten Grund, denn Passau lag genau in der Stossrichtung entlang der Donaustrasse, welche die Türken nehmen mussten. Umgekehrt passierten hier viele der christlichen Kontingente durch, die in den folgenden Jahrzehnten dem Kaiser zu Hilfe kamen.

Schlechte Zeiten für die Menschen sind gute Zeiten für die Entstehung von Wallfahrten. Insofern diese globale Aussage zutrifft, ist die Gründung des Freiherrn von Schwendi in eine günstige Epoche gefallen. Die über mehrere Generationen hinweg andauernde Kriegsgefahr in Passaus Umgebung brachte über die alltäglichenGefährdungen hinaus eine merkliche Steigerung der allgemeinen Lebensangst. Hinzu kam, dass in diesen Jahrzehnten die Menschen noch durch andere Bedrohungen zusätzlich verunsichert wurden und darum vermehrt Anlass hatten, die himmlische Hilfe für sich zu erflehen, da sich menschliche Selbsthilfe als unzulänglich erwies. Hierzu zählte besonders das unberechenbare, immer wieder neu ansetzende Aufflackern der "leidigen Sucht der Pestilentz". Durch das zeitweilige Zusammendrängen der Zivilbevölkerung in den engen Städten mit ihrer mangelhaften Hygiene, durch beständige Truppenbewegungen und Einquartierung von Soldaten konnte sich die Seuche schnell ausbreiten, konnte ihre Isolierung nicht gelingen. Wirksame therapeutische Gegenmassnahmen waren ohnehin nicht bekannt. Ständig musste man während des gesamten 30jährigen Krieges in Niederbayern, Böhmen und Oberösterreich mit dem Ausbrechen der Beulenpest rechnen. 1627 zeigte sie sich in Braunau, 1630 in Plattling, 1634 nahezu in allen Märkten und Städten zwischen Regensburg, Prag, Linz und Salzburg, 1637 in Dingolfing und Landau, 1639 in Linz und Salzburg, 1647 in Budweis und Mattighofen, 1649 noch einmal in Passau. Doch auch nach dem Ende des Krieges war die epidemische Seuche nicht eingedämmt. Sie tauchte wiederholt von neuem auf und setzte die Menschen in Schrecken.