Diese Furcht war allerdings nicht immer gleich stark und sie war auch nie allein handlungsbestimmend. Immer wieder machten sich Zweifel bemerkbar, ob die Gegenseite wirklich so aggressiv und so mächtig war, wie die Furchtsamen und die Dogmatiker behaupteten. Immer wieder machten sich Stimmen bemerkbar, die auf die Kosten der Konfrontation hinwiesen; die Notwendigkeit, immer mehr Ressourcen in die Rüstung zu stecken, ohne je ganz sicher sein zu können, daß die Abschreckung wirklich funktionierte; die schleichende Militarisierung der eigenen Gesellschaft; das Risiko einer atomaren Katastrophe. Immer wieder setzten sich diejenigen zur Wehr, die unter der Blockkonfrontation besonders zu leiden hatten, die - im Osten wie im Westen - innenpolitisch zu den Verlierern der Konfrontation zählten. All dies sorgte dafür, daß der Kalte Krieg permanent relativiert wurde. Darum ist es sinnvoll, von Kalte-Kriegs-Tendenzen und Höhepunkten des Kalten Krieges zu sprechen; es ist aber nicht möglich, einen klar abgegrenzten Zeitraum des Kalten Krieges innerhalb der Ära des Ost-West-Konflikts auszumachen.
Kalte-Kriegs-Tendenzen konnte es geben und gab es, solange die amerikanisch-sowjetische Rivalität die künftige oder aktuelle Weltpolitik dominierte, also vom Eintritt der Sowjetunion und der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941 bis zum Ende des Ost-West-Konflikts infolge der Gorbatschow-Revolution. Sie verdichteten sich nach dem Scheitern der Bemühungen um eine einvernehmliche Regelung der Nachkriegsordnung 1947 und flauten wieder ab, als um Mitte der 50er Jahre deutlich wurde, daß sich mit den beiden Blöcken in Ost und West gleichwohl eine vergleichsweise stabile Nachkriegsordnung etabliert hatte. In der Zeit der Berlin-Krise 1958-1962 flackerten die Ängste wieder auf, und auch im Jahrzehnt zwischen 1974 und 1984 machten sich Verhaltensweisen bemerkbar, die an die Hoch-Zeiten des Kalten Krieges erinnerten.
Für das Verständnis des Kalten Krieges ist die Einsicht zentral, daß die Furcht vor dem Übergriff der Gegenseite auf die eigene Sicherheitssphäre nicht nur mehr oder weniger übertrieben, sondern in der Substanz unbegründet war. Diese Einsicht ist nicht unumstritten. Sie fällt auch nicht jedermann leicht, weil sie dazu zwingt, von den vertrauten Illusionen und Legitimationen Abschied zu nehmen, die sich in der Zeit des Kalten Krieges festgesetzt haben. Sie ist aber gut belegt und wird durch die Fakten, die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zutage treten, zusätzlich erhärtet.
Imperialistischen Charakter nahm diese Expansion jedoch nur soweit an, wie es die Partnerländer versäumten, entsprechenden Widerstand zu leisten und Gegenmacht zu bilden. Die politische Absicherung der amerikanischen Expansion krankte stets daran, daß die amerikanische Öffentlichkeit wenig geneigt war, die Kosten für die weltweite Präsenz zu tragen. Schon zur politischen Präsenz im Nachkriegseuropa mußten die USA daher erst einmal von den Europäern gedrängt werden. Erst recht war die militärische Präsenz der USA in der integrierten NATO-Streitmacht das Ergebnis heftigen europäischen Drängens, dem die amerikanischen Verantwortlichen zögernd, spät und auch dann noch halbherzig nachgaben.
Mit Rücksicht auf die Fesseln, die die eigene Öffentlichkeit anlegte, blieb die amerikanische Weltmacht auf kooperationswillige Partner angewiesen und insofern in ihrer Durchsetzungsfähigkeit beschränkt; und aufgrund ihrer ökonomischen und strategische Stärke konnte sie mit Kompromissen letztlich auch gut leben. Osteuropa, das vorrangige Interessengebiet sowjetischer Sicherheitspolitik, war für sie weder strategisch noch wirtschaftlich von besonderer Bedeutung. Der amerikanische Anspruch auf eine Revision der Ordnungsverhältnisse, wie sie die Sowjetunion nach dem Vormarsch der Roten Armee im östlichen Europa geschaffen hatte, wurde nie mit besonderem Nachdruck vorgetragen; die Forderung nach einem "roll back" oder einer "Politik der Befreiung" erwies sich, wenn es ernst wurde, stets als Rhetorik.
In der Tat ging die Sowjetunion aus dem Zeiten Weltkrieg bei allem strategischen Geländegewinn als ein zutiefst geschwächtes Land hervor: Nach neuesten sowjetischen Angaben hatten mindestens 27 Millionen Menschen ihr Leben gelassen, vielleicht sogar noch mehr. Der von den Deutschen besetzte Teil des Landes war weitgehend verwüstet und ausgeplündert. Die Landwirtschaft war so desorganisiert, daß 1946 in der Ukraine und in Weißrussland Hungersnot herrschte; das Industrialisierungsprogramm war um viele Jahre zurückgeworfen. Deutlicher als die Zeitgenossen, die unter den Nachwirkungen der antibolschewistischen Propaganda und dem Schock des Vorrückens der Roten Armee standen, sehen wir nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums, daß die UdSSR durch den Kalten Krieg in eine Weltmachtrolle hineinmanövriert wurde, in der sie hoffnungslos überfordert war.
Mit außerordentlichem, vermutlich sogar weit übertriebenem Respekt vor den Fähigkeiten des amerikanischen und deutschen Kapitalismus suchte Stalin bei Kriegsende sein strategisches Vorfeld in Osteuropa zu sichern, das deutsche Problem in den Griff zu bekommen und im übrigen den Vormarsch des amerikanischen Kapitalismus so gut es ging abzumildern. Der Export der bolschewistischen Revolution stand für ihn nicht auf der Tagesordnung. Selbst im östlichen Europa, das jetzt unter der Kontrolle der Roten Armee stand, steuerte er keineswegs zielstrebig auf die Etablierung des kommunistischen Machtmonopols zu. Lange Zeit suchte er, sehr zum Verdruß seiner osteuropäischen Zeitgenossen, nach verläßlichen Verbündeten unter den traditionellen Eliten der osteuropäischen Völker; und auch nachdem er damit (mit Ausnahme der Tschechoslowakei) keinen Erfolg gehabt hatte, schärfte er - wie wir heute wissen - seinen Statthaltern in den osteuropäischen Hauptstädten ein, daß die Einführung des Sozialismus nicht überstürtzt betrieben werden dürfe. Erst nach allerlei Kompromissen und Umwegen wurde 1947 mit der Gründung des Kominform der sowjetische Weg zum Sozialismus zum allein maßgeblichen erklärt.
In Deutschland meinte er es ernst mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung", die er propagierte: Sie sollte in allen vier Besatzungszonen durchgeführt werden, um die gesellschaftlichen Wurzeln des Nationalsozialismus zu beseitigen und so die Garantie für ein friedliches Deutschland schaffen. Daraus folgte, daß er ein lebhaftes Interesse daran hatte, die gemeinsames Verantwortung für die vier Besatzungszonen, wie sie in Potsdam beschlossen worden war, aufrecht zu erhalten, und daß das Umgestaltlungsprogramm, das von den drei westlichen Alliierten mitgetragen werden sollte, nur ein Kompromißprogramm sein konnte.
In den Ländern des westlichen Europas arbeitet er keineswegs auf eine weitere Verelendung hin, um so, wie man in Washington fürchtete, soziale Aufruhr zu fördern, den die Kommunisten zur Machtergreifung nutzen konnten. Vielmehr verpflichtete er die westlichen Kommunisten darauf, am Wiederaufbau ihrer Länder mitzuarbeiten, um so den - im Prinzip unvermeidlichen - Einfluß der USA auf diese Länder in Grenzen zu halten. In Frankreich wie in Italien dienten sich die Kommunisten daraufhin als Verbündete im Kampf um den Wiederaufbau und die Wiedergewinnung der nationaler Unabhängigkeiten an; sozialistische Umgestaltungshoffnungen, die durch das Erlebnis des Krieges befördert worden waren, mußten zurückstehen.
Die beiden Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges bedrohten sich also bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Sicherheitsinteressen nicht wirklich vital; viel eher neigten sie zu Kompromissen und zum Arrangement. Mehr noch: Ihre konkreten wirtschaftlichen Interessen waren auf weiten Strecken komplimentär - das amerikanische Interesse an der Erschließung neuer Märkte korrespondierte mit dem sowjetischen Interesse an Wiederaufbauhilfe. Selbst in ideologischer Hinsicht gab es eine Reihe von Gemeinsamkeiten - sowohl die USA als auch die Sowjetunion waren aus Revolutionen hervorgegangen, die sich gegen die alteuropäische Ordnung gerichtet und die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen auf ihre Fahnen geschrieben hatten.
Im Streit um den undemokratischen Charakter der osteuropäischen Regime versäumte es die Truman-Regierung 1945/46, die Sowjetunion mit einer Wiederaufbauhilfe - die unter Roosevelt schon in Aussicht gestellt worden war - auf den Weg der Entstalinisierung zu bringen. Ebenso ließ sie die Chance für eine Internationalisierung der Atomwaffe verstreichen. Als sie dann 1946/47 auch noch ein Programm zur "Eindämmung" der sowjetischen Expansion entwickelte, verwies sie die Sowjetunion vollends auf den Weg der Abschließung und der dogmatischen Verhärtung: In sowjetischer Sicht erschien das Programm, das so gar nicht zum amerikanisch-sowjetischen Kräfteverhältnis und zur komministischen Praxis im westlichen Europa paßte, fast notwendigerweise als Ausdruck amerikanischen Dominanzstrebens, dem man am besten mit der Abschottung des eigenen Lagers begegnete.
Insofern waren es tatsächlich die USA, die den ersten und entscheidenen Anstoß zur Entwicklung das Kalten Krieges gaben. Soviel bleibt von der "revisionistischen" Interpretation des Kalten Krieges, die die traditionelle westliche Selbstinterpretation in den Jahren der 68er Bewegung erschütterte. Sie taten es freilich nicht aus einer politikbestimmenden ökonomischen Notwendigkeit heraus; und sie waren auch keineswegs allein für diese Enwicklung verantwortlich.
Ebenso trug die sowjetische Rhetorik dazu bei, daß die These vom sowjetischen Expansionismus rasch an Glaubwürdigkeit gewann. In den Verhandlungen mit den Westmächten legten die sowjetischen Vertreter soviel mißtrauische Hartnäckigkeit an den Tag, daß die gleichzeitigen Freundschaftsbeteuerungen als Einschläferungstaktik eines machthungrigen Gegenspielers erscheinen mußten. Mit der Gründung des Kominform im Herbst 1947 setze eine dogmatische Verhärtung des sowjetischen Kurses ein, die den Warnern vor ideologischem Fanatismus nachträglich Recht zu geben schien. Und im Kampf gegen den Marhall-Plan entwickelten die kommunistischen Parteien dann ein solches Ausmaß an rhetorischer Aggressivität, daß sich die westlichen Europäer mit einem Male - sachlich ganz ohne Grund - auch militärisch von der Sowjetunion bedroht fühlten.
Darüber hinaus schlug Stalin aber auch wiederholt Chancen zur Kooperation aus, die ihm von westlicher Seite dargeboten wurden. Der breiten Bewegung für ein Europa der "Dritten Kraft", das den amerikanisch-sowjetischen Gegensatz abmildern sollte, zeigte er ohne Not die kalte Schulter und verwies die westlichen Europäer damit von sich aus ins westliche Lager. Im Juli 1946 ließ er die Chance ungenutzt verstreichen, die Bildung der Bizone zu verhindern; ein Jahr später lehnte er eine Beteiligung am Marshall-Plan ab - beides wohl, weil ihm der eigene Machtbereich nicht genügend konsolidiert schien, um eine Öffnung zum Westen hin zu wagen.
In der Deutschlandfrage war es der britische Außenminister Bevin, der 1946/47 gegenüber den zögernden Amerikanern einen Abschottungskurs der westlichen Besatzungszonen durchsetzte; früher als die amerkanischen Führung war er für die Überzeugung gewonnen worden, daß eine Befriedigung sowjetischer Reparationsbedürfnisse zu einer Sowjetisierung ganz Deutschlands führen würde. In die gleiche Richtung wirkten deutsche Politiker wie Kurt Schumacher und Konrad Adenauer, die die sowjetischen Zone schon 1945 abgeschrieben hatten und darum Versuche zur Schaffung gesamtdeutscher Strukturen nach Kräften behinderten.
Die sowjetische Absage an den Marshall-Plan im Juli 1947 wurde von Bevin und seinem französischen Kollegen Bidault gezielt provoziert: Indem sie minimale Meinungsverschiedenheiten zu Grundsatzdifferenzen hochspielten, erreichten sie es, daß sich Stalin nach langem Zögern zu der Auffassung durchrang, eine sowjetische Beteiligung werde noch verheerendere Folgen für das Sowjetregime haben als eine Absage.
Die Beschlüsse zur Bildung des Atlantikpakts (April 1949) sowie zur Schaffung der integrierten NATO-Streitmacht für Europa (Dezember 1950) gehen eindeutig auf das Drängen der Europäer zurück; die Amerikaner hielten eine militärische Bedrohung des westlichen Europas zunächst nicht für gegeben und verstanden ihr Engagement, auch nachdem sie schließlich eingewilligt hatten, nur als vorläufig.
Insgesamt hat es also eine Fülle von Weichenstellungen in Richtung auf den Kalten Krieg gegeben. Es kann daher keine Rede davon sein, daß die Konfrontation aufgrund des Systemgegensatzes zwischen Ost und West unvermeidlich gewesen sei. Wer so argumentiert - und das tun, nicht zuletzt weil es politisch ganz bequem ist, viele -, leugnet die Offenheit der Geschichte und verwischt die Verantwortlichkeiten. Gewiß war der Kalte Krieg kein bloßes Mißverständnis. Bei den vielen Gegensätzen zwischen liberaldemokratischer Demokratie amerikanischer Prägung und sowjetkommunistischer Mobilisierungsdiktatur und dem missionarischen Anspruch der beiden Hauptsieger des Zweiten Weltkriegs war ihre Konfrontation von vornherein wahrscheinlich und die Spaltung Europas in gegensätzliche Einflußsphären auf jeden Fall die bequemere Lösung. Fremdheit, Neigung zu ideologischer Verallgemeinerung und Unerfahrenheit im Umgang mit fremden Mächten erschwerten die Verständigung zusätzlich. Aber notwendig war die Konfrontation in der Form, in der wir sie kennen, deswegen noch lange nicht. Es bleiben wesentlich kooperativere Formen der Nachkriegsordnung denkbar, freilich ebenso auch noch höhere Grade an Konfrontation.
Als die Westmächte im Zuge ihres Eindämmungsprogramms im Juni 1948 das Startsignal für die Bildung eines westdeutschen Staates gaben, antwortete Stalin mit der Sperrung der Zufahrtswege nach Berlin - und bewirkte damit, daß die Westmächte noch enger zusammenrückten und verbliebene Widerstände gegen die Weststaatsgründung überwunden wurden. Die Zündung einer ersten sowjetischen Atombombe im August 1949 trieb die amerikanischen Militärs dazu, nun eine konventionelle Präsenz in Europa für notwendig zu halten. Und der Überfall des kommunistischen Nordkoreas auf Südkorea im Juni 1950 - von Stalin zugelassen, weil er auf leichte Beute hoffte und Südkorea nicht zum Westen rechnete - löste in der westlichen Öffentlichkeit soviel Furcht vor einem parallelen Vorgehen in Europa aus, daß die dauerhafte Einbindung amerikanischer Truppen in eine westeuropäische Verteidigungsstruktur tatsächlich möglich wurde, ebenso die Einbeziehung der Bundesrepublik in dieses Verteidigungssystem.
Das Sicherheitsdilemma war auch der Hauptgrund dafür, daß der Ost-West-Konflikt über lange Zeit hinweg virulent blieb, obwohl weder die eine noch die andere Seite akut aggressive Absichten verfolgte und der sowjetische Revolutionsanspruch im mühevollen Kampf ums Überleben immer mehr an Bedeutung verlor. Daneben arbeitete eine breite Koaliton "sekundärer Verursacher", die aus der Konfrontation Nutzen zogen - von einzelnen Politikern in beiden Lagern bis zu den militärisch-industriellen Komplexen -, aus Gründen des Machterhalts und der Legitimation auf einen Fortbestand der Konfliktsituation hin. Feindbilder, die in der Konfrontation entstanden waren, wurden zu Selbstläufern, die den Handlungsspielraum der Verantwortlichen einengten, wenn sie sich um eine Überwindung der Konfrontation bemühten.
Zusätzlich erschwert wurde eine Verständigung durch das Fortwirken traumatischer Erfahrungen und ideologischer Fixierungen. In den Augen der kommunistischen Führer war die kapitalistische Umwelt grundsätzlich feindselig und gleichzeitig langfristig zum Untergang verurteilt, Bemühungen um Sicherheitpartnerschaft erschienen ihnen daher weder aussichtsreich noch letztlich notwendig; es genügte, die eigenen Bastionen zu behaupten, und im übrigen auf bessere Zeiten zu hoffen. Die westlichen Gesellschaften erholten sich nie ganz von dem Schock, den die Umsturzversuche im Anschluß an die Oktoberrevolution 1917 ausgelöst hatten; und sie blieben auch immer von dem Trauma geprägt, das die Erfahrung mit der Appeasement-Politik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland für sie bedeutete. Beides gab ihnen Anlaß, sowjetische Angebote grundsätzlich für suspekt zu halten.
Infolge der Unsicherheiten, die sich aus dem Scheitern der Kooperation ergaben, darf die NATO durchaus für sich in Anspruch nehmen, zur Sicherung des Friedens beigetragen zu haben. Das gleiche gilt allerdings auch für den Warschauer Pakt. Und beide Paktsysteme müssen sich sagen lassen, daß die Sicherheit auch zu wesentlich geringeren Kosten zu haben gewesen wäre und daß das permanente Streben nach einem nie objektivierbaren "Gleichgewicht" den Frieden keineswegs sicherer gemacht hat. Nicht das militärische Gleichgewicht, das genau besehen nie existierte, und auch nicht die wechselseitige atomare Abschreckung, die nach der ersten Phase erdrückender Überlegenheit der USA erst Ende der 60er Jahre zu greifen begann, haben den Übergang vom Kalten zum Heißen Krieg verhindert, sondern der Umstand, daß beide Seiten von Anfang an, noch vor irgendwelchen gezielten Aufrüstungsmaßnahmen, das Risiko eines bewaffneten Konflikts scheuten. Die diversen Rüstungsanstrengungen hatten nur den Zweck, sich der Fortdauer dieses Risikobewußtseins zu versichern.
Das Sicherheitsdilemma war nicht leicht zu überwinden. Um dahin zu gelangen, war die Fähigkeit vonnöten, sich von den ideologischen Fixierungen zu lösen und den Realitäten ins Auge zu sehen, dazu der entschiedene Wille, die Ressourcenvergeudung des Wettrüstens zu stoppen und der wachsenden Gefahr der atomaren Vernichtung "aus Versehen" zu begegnen, die Befreiung von innenpolitischen Zwängen, die die Verantwortlichen in Ost und West immer wieder an das Kalte-Kriegs-Schema zurückbanden, und eine gewisse Risikobereitschaft beim Zugehen auf den vermeintlichen Todfeind. Weil diese Bedingungen nicht so schnell zusammenkamen, blieb die Geschichte des Ost-West-Konflikts auch nach der Blockbildung vorwiegend eine Geschichte der verpaßten Chancen.
Vertan wurde sodann die Möglichkeit - und hier wird man eindeutiger auch von einer Chance sprechen können -, die militärische Konfrontation schon in den 50er Jahren zu entzerren und damit die Eskalation des atomaren Wettrüstens zu bändigen. Sie war insofern gegeben, als die Sowjetunion unter Chruschtschow - atomar immer noch hoffnungslos unterlegen und voller dunkler Vorahnungen hinsichtlich einer Ausrüstung der Bundesrepublik mit Atomwaffen - ernsthaft an solch einer Rüstungsbegrenzung interessiert war. Die Verhandlungen wurden jedoch zunächst von Adenauer torpediert, der die Sowjetunion zuerst zur Preisgabe der DDR zwingen wollte; und dann griff Chruschtschow im November 1958 selbst zu dem untauglichen Mittel der Pression auf Berlin, das die Westmächte zwar endlich an den Verhandlungstisch brachte, zugleich aber einen neuen Rüstungsschub der westlichen Seite in Gang setzte.
Nicht nur mit den verschiedenen Berlin-Ultimaten und dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 hat die Sowjetunion die Entspannungsansätze konterkariert. Auch die wiederholten militärischen Interventionen gegen Freiheitsbewegungen im eigenen Machtbereich - 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakai - haben westlichen Entspannungsbemühungen immer wieder einen Schlag versetzt. Das sowjetische Regime war nicht souverän genug, um Entspannungsofferten lange genug durchhalten zu können; statt einen grundsätzlichen Umbau in Angriff zu nehmen, setzen seine Verantwortlichen im Zweifelsfall immer wieder Gewalt zur Konservierung der bestehenden Strukturen ein.
Die Kuba-Krise vom Oktober 1962, ausgelöst durch den sowjetischen Versuch, die strategische Überlegenheit der USA durch die Installation sowjetischer Mittelstreckenraketen auf der Karibik-Insel zu kompensieren, führte zwar allen Beteiligten die Gefährlichkeit des atomaren Wettrüstens vor Augen. Mehr als die Einrichtung des "roten Telefons" zwischen Moskau und Washington und ein erstes Atomteststopp-Abkommen folgte aus dieser Einsicht jedoch vorerst nicht. Vielmehr konzentrierte die Sowjetunion ihre Anstrengungen jetzt darauf, in der strategischen Rüstung und im Aufbau einer welteit operierenden Seemacht mit den USA gleichzuziehen; die USA aber verstrickten sich zunehmend in den Kolonialkrieg gegen die kommunistische Nationalbewegung in Vietnam.
Dieser "schmutzige Krieg" war in besonderer Weise fatal: Entstanden aus einem überdimensionierten Eindämmungsdenken, das die kommunistische Welt als einheitlichen Block sah und jeden kommunistischen Erfolg als Etappensieg nach dem Dominoprinzip betrachtete, hat er aberwitzige menschliche und moralische Verluste gekostet, ehe der Schock über das Ausmaß der dadurch verursachten Katastrophe dem globalisierenden Antikommunismus einen empfindlichen Schlag versetzte.
Zu den verpaßten Chancen gehört schließlich auch die mangelnde westliche Konsequenz bei der Verfolgung der Entspannungspolitik. Überzogene Erwartungen an die sowjetische Reformbereitschaft und erneute Ängste vor einer sowjetischen Überrumpelungstaktik führten schon bald nach dem Abschluß der deutschen Ostverträge und des ersten SALT-Abkommens 1972 zu einer Verzögerung der Rüstungskontrollverhandlungen und zur Zurückhaltung bei der Entwicklung des Ost-West-Handels. Als daraufhin die Sowjetführung unter Breschnew der Versuchung zur militärischen Überversicherung nachgab, löste das, beginnend mit dem "Nachrüstungs"-Beschluß von 1979, einen neuerlichen Rüstungsschub aus, der von einer Wiederbelebung der Gestik wie der Rhetorik des Kalten Krieges begleitet wurde.
Entscheidend für die Überwindung des Sicherheitsdilemmas war vielmehr zunächst das geduldige Beharren all derjenigen, die sich um ein Durchlässigmachen der Blockgrenzen bemühten. Sie trugen damit dazu bei, daß die westlichen Prinzipien im sowjetischen Machtbereich Verbreitung fanden und bis zur Spitze des sowjetischen Imperiums vordrangen, und sie erleichterten mit ihrer Kooperationsbereitschaft der sowjetischen Führung den Abschied von den alten Einkreisungsängsten.
Entscheidend war sodann und vor allem, daß Michail Gorbatschow und die Reformer, für die er stand, den Schritt aus der Festung des Kalten Krieges heraus tatsächlich gewagt haben. Dieser Schritt folgte gewiß aus der Einsicht der desolaten Lage des Sowjetimperiums; er wurde mit dem Mut der Verzweiflung unternommen. Dennoch war er alles andere als selbstverständlich. Niemand konnte voraussagen, zu welchem Zeitpunkt er erfolgen würde.
Die Rede vom westlichen Sieg im Kalten Krieg ist damit ziemlich irreführend. Zu registrieren ist weder ein militärischer Sieg noch ein politischer Durchbruch der Westmächte. Vielmehr haben sich die Prinzipien der westlichen Zivilisation auch im Machtbereich der Sowjetunion durchgesetzt, zumindest als Programm. Das ist etwas ganz anderes: Es ist neben und vor dem Erfolg westlicher Entspannungspolitik auch ein Erfolg der sowjetischen Führer: Sie haben ein Imperium verloren, aber auch Verbündete gewonnen, die ihnen bei der überfälligen Neuordnung des bisherigen Regimes helfen können. Vor allem haben sich aber die Völker der bisherigen Sowjetunion von den Lasten einer 45jährigen Überspannung ihrer Kräfte befreit.
Anders als es die bipolare Weltsicht nahelegt, war der Kalte Krieg nie ein Konflikt zwischen zwei im Prinzip gleichrangigen Größen, sondern ein Konflikt zwischen dem prinzipiell eine Vielzahl von Lebensformen und Machtkonfigurationen zulassenden westlichen System und der tendenziell totalitären Verabsolutierung einer dieser Möglichkeiten im Ostblock. Für die westlichen Prinzipien war darum, das war bei nüchterner Betrachtung schon früher zu sehen und ist im Rückblick vollends deutlich geworden, von einer offenen, das heißt kooperativen und jede Chance zur Entspannung nutzenden Systemkonkurenz nicht zu befürchten, vielmehr alles zu erhoffen.
Insofern bleibt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neben der Erleichterung, daß dem
Kalten Krieg nun die Grundlage entzogen ist, das Bedauern, daß diese Chancen nicht früher und
konsequenter genutzt wurden. Weder lassen sich die unnötigerweise vergeudeten Ressourcen
zurückholen noch kann man die Deformationen in den Biographien so vieler Zeitgenossen des Kalten
Krieges einfach wieder zurechtrücken, und schon gar nicht lassen sich die Opfer sowjetischer
Repression wieder zum Leben erwecken, für die der Kalte Krieg zumindest mitverantwortlich ist.
Die Überlebenden des Kalten Krieges stehen vor einer Last, an der sie noch lange zu tragen haben.