Die Bundesregierung hat entschieden, den Mindestlohn ab Oktober auf 12 Euro anzuheben. Ist dies das Ende der Tarifautonomie oder ist der Mindestlohn ein Korrektiv für ein unzureichendes Tarifgefüge? Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich uneins.
von Fabian Bieda
Seit dem 10.06.2022 steht durch die Zustimmung des Bundesrates fest, dass der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ab Oktober auf 12 Euro steigen wird. Die SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz können damit ein zentrales Versprechen aus dem Bundestagswahlkampf 2021 einlösen. So sieht Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), dass sechs Millionen Menschen von dieser Erhöhung profitieren würden. Während die Gewerkschaften diesen Schritt begrüßen, erklärte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, im Februar bei der Vorstellung des Gesetzentwurfes, dass „der Mindestlohn zum Spielball der Politik“ werde.
Größter Anstieg des Mindestlohns seit seiner Einführung
Als der Mindestlohn zum Jahr 2015 unter der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eingeführt wurde, hatte er eine Höhe von 8,50 Euro. Seitdem wurde die Lohnuntergrenze jeweils auf Vorschlag der Mindestlohnkommission angepasst. Aktuell liegt der Mindestlohn bei 10,45 Euro, bevor er dann ab Oktober laut dem neuen Mindestlohnerhöhungsgesetz auf 12 Euro steigen wird.
Diese deutliche Erhöhung des Mindestlohns findet in Zeiten einer hohen Inflation statt. Das Statistische Bundesamt geht für Juni 2022 von einer Inflationsrate von 7,6 Prozent aus. Dabei liegt der prognostizierte Preisanstieg bei Energie (38 Prozent) und Lebensmitteln (12,7 Prozent) noch deutlich über diesem Mittelwert.
Nils Schuster, stellvertretender Geschäftsführer der Bezirksgeschäftsstelle Berlin der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg (UVB), sieht in unserem Interview in der Inflation für die Beschäftigten ebenso wie für die Unternehmen eine schwierige Situation. Er sei selbst überrascht gewesen, wie viele Unternehmen in Berlin und Brandenburg für ihre Produktion von Gas abhängig seien, gesteht Schuster im Gespräch ein. Aufgrund dieser drastischen Preissteigerungen, wie eben beim Gas, sei eine Erhöhung der Gehälter für viele Unternehmen derzeit einfach nicht leistbar. Die Mindestlohnkommission habe mit 10,45 Euro bereits den maximal für Unternehmen verträglichen Mindestlohn ausgehandelt. Der Anstieg auf 12 Euro sei hingegen prozentual fast so hoch wie alle bisherigen Erhöhungen zusammen. Schuster erklärt: „Letzten Endes geht es darum, dass die Unternehmen den Mindestlohn am Markt erwirtschaften müssen. Gelingt das nicht, steht im Extremfall der Fortbestand der Firma auf dem Spiel.“
Armutsfeste Löhne
Schuster sieht zwar, dass die Beschäftigten ein auskömmliches Einkommen bräuchten und es ein Problem sei, wenn man nach 45 Erwerbsjahren zu Mindestlohnbedingungen in der Rente auf Grundsicherung angewiesen ist. Allerdings gibt er zu bedenken, dass eine solche Erwerbsbiografie äußerst selten sei: „Die Vorstellung, dass jemand 45 Jahre auf Mindestlohn-Niveau arbeitet, ist nicht sehr nahe an der Realität.“
Sebastian Riesner, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in der Region Berlin-Brandenburg, findet es im Interview hingegen positiv, dass der Mindestlohn bei 12 Euro angekommen sei. Die Gewerkschaften hätten den Anspruch, dass Löhne armutsfest seien und auch, dass niemand „am Ende eines Arbeitslebens nach 45 Jahren Beschäftigung […] in Altersarmut verfällt“. Es sei aber in den letzten Jahren insbesondere im Dienstleistungsbereich durch die übliche Tarifpolitik nicht gelungen, die Löhne der untersten Lohngruppen so anzuheben, „dass wir da aus der prekären Beschäftigung herauskommen und dann zu armutsfesten Löhnen durch Tarifverträge kommen“.
Da dies laut Riesner insbesondere im Dienstleistungsbereich mit einem hohen Personalkostenanteil problematisch sei, betrifft das Problem Berlin im Besonderen. Die Dienstleitungswirtschaft ist für die Hauptstadt sehr bedeutsam. Laut Industrie- und Handelskammer trug die Dienstleistungswirtschaft 2020 zu mehr als 80 Prozent der Bruttowertschöpfung Berlins bei.
Die Forderung nach dem Mindestlohn als „Hilfeschrei“
Die Diskussion über den Mindestlohn innerhalb der Gewerkschaftsbewegung begann laut Riesner bereits vor 15 Jahren. Die NGG sei dabei die erste Gewerkschaft gewesen, die einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert habe. Es sei eher ein „Hilfeschrei an die Politik“ gewesen, da viele Unternehmensverbände Verbandsmitgliedschaften ohne Tarifbindung eingeführt hätten und auch viele Betriebe gar nicht mehr in Arbeitgeberverbänden organisiert gewesen seien. Da die Gewerkschaften so auf der Arbeitgeberseite häufig niemanden mehr gehabt hätten, mit dem sie hätten verhandeln können, sei dann auch die Festsetzung von Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge kaum mehr möglich gewesen.
Geringe Tarifbindung in Berlin
In Berlin ist die Tarifbindung dabei laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im bundesweiten Vergleich eher gering. Laut den Berechnungen auf Basis des IAB-Betriebspanels waren in Berlin 2020 nur 16 Prozent der Betriebe tarifgebunden und 44 Prozent der Beschäftigten fielen unter einen Tarifvertrag. Deutschlandweit waren hingegen 51 Prozent der Arbeitenden in Betrieben mit Tarifbindung beschäftigt und 26 Prozent der Betriebe unterlagen der Tarifbindung. Mit diesen Zahlen liegen sowohl Berlin, als auch Deutschland insgesamt unter der von der EU anvisierten 80-prozentigen tarifvertraglichen Abdeckung.
Nils Schuster verweist bei der geringen Tarifbindung in Berlin darauf, dass das Dienstleistungsgewerbe hier eine große Rolle spiele. Generell gehe es bei dem Thema aber darum, dass Verträge für beide Seiten attraktiv sein müssen. „Ist das nicht der Fall, kommt auch kein Tarifvertrag zustande. Das liegt dann nicht in der alleinigen Verantwortung der Arbeitgeber“, führt Schuster aus.
Sebastian Riesner kann zwei Gründe für die geringe Tarifbindung ausmachen. Zum einen habe es historisch unter den Bundesregierungen von Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) eine Deregulierung des Arbeitsmarktes gegeben. Dies habe in der Zeit um die 2000er dazu geführt, dass viele Unternehmensverbände die sogenannte OT-Mitgliedschaft (Mitgliedschaft ohne Tarifbindung) eingeführt hätten. Neben dem damit einhergehenden schlechteren Organisationsgrad auf der Arbeitgeberseite gäbe es in bestimmten Bereichen andererseits auch einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Besonders in Kleinbetrieben, in denen es auch sonst keinerlei betriebliche Mitbestimmungsstrukturen gebe, sei es schwierig eine ausreichende Anzahl an Gewerkschaftsmitgliedern zu gewinnen, um notfalls auch durch Arbeitskampfmaßnahmen Tarifverträge durchzusetzen.
Fortbestand der Tarifpartnerschaft
Durch die Mindestlohnerhöhung befürchtet Nils Schuster allerdings, dass die Tarifbindung weiter zurückgehen werde. Einerseits würden die Gewerkschaften mit dem Mindestlohn im Rücken übertriebene Forderungen stellen, welche nicht zu erfüllen seien, so dass es in der Konsequenz zu gar keinen Tarifabschlüssen kommen würde. Andererseits würden besonders die untersten Lohngruppen merken, dass sie sich gar nicht gewerkschaftlich zu organisieren bräuchten, da ihre Löhne durch die staatliche Lohnanhebung sowieso steigen würden. Die Löhne stiegen sogar in einem Maße, das sich in normalen Tarifverhandlungen gar nicht durchsetzen ließe. Schuster bedauert, dass so die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften sinken würden, da viele Beschäftigte den Sinn einer Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht mehr erkennen würden. Die Gewerkschaften als Sozialpartner würden folglich geschwächt.
Auch wenn die Gewerkschaften solche Erfahrungen gemacht hätten, was „eine bittere Erkenntnis“ sei, findet Sebastian Riesner solche Aussagen zynisch. Zunächst betont er deutlich, dass die Forderungen der Gewerkschaften durch ihre Mitglieder bestimmt würden. Diese Forderungen seien zwar ambitioniert, aber aus 30 Jahren Erfahrung wisse er, dass es zwischen Forderung und Ergebnis immer eine Differenz gebe. Vielmehr sei ein Verhandeln auf Augenhöhe wichtig. Darüber hinaus würden die Unternehmen den Beschäftigten einen Tariflohn zahlen unabhängig davon, ob diese Gewerkschaftsmitglied seien oder nicht. So solle verhindert werden, dass sich Menschen gewerkschaftlich organisieren und die Gewerkschaften entsprechend eine stärkere Position in Tarifverhandlungen hätten. Im Grunde würden die Unternehmen hier das tun, was sie dem Staat vorwerfen: Gleichmacherei.
Ist die Tarifautonomie in Gefahr?
Staatliche Eingriffe sind tatsächlich ein Hauptkritikpunkt der Arbeitgeberseite. Von ihnen wird bemängelt, dass der Mindestlohn ein massiver Eingriff in die Tarifautonomie sei. BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter bezeichnete die Mindestlohnanhebung im Mai noch als „grundlegendste[n] Angriff auf die Tarifvertragsautonomie in der Geschichte der Bundesrepublik“. Auch Nils Schuster kritisiert, dass mit dem Mindestlohn staatlich eine Festlegung getroffen werde, die eigentlich laut Grundgesetz tariflich zu regeln sei. Hierzu erklärt er: „Der Mindestlohn greift in Berlin und Brandenburg in mehrere Dutzend frei ausgehandelte Tarifverträge ein.“ Ebenso sagt er, dass es perspektivisch zu weiteren staatlichen Eingriffen in Tarifabsprachen, nicht nur bezüglich der Lohnhöhe, kommen könnte.
Überdies findet Schuster den starken politischen Druck für einen Mindestlohn von 12 Euro nicht gut. Er stört sich daran, dass die 12 Euro politisch vorgegeben seien. Aus seiner Sicht sollte das Festsetzen von Mindestlöhnen kein Wahlkampfthema sein, da sonst auch andere tariflich zu regelnde Themen für politische Versprechungen und Wahlkämpfe herhalten müssten. Die Politik sei mit ihren Bestimmungen einfach zu übereifrig. Ein Wahlkampfthema waren die 12 Euro Mindestlohn 2021 dennoch und besonders die SPD warb offensiv dafür.
Für Sebastian Riesner ist die Schwächung der Tarifautonomie aber nur vorgeschoben: „Da kann ich jedes Mal so einen Hals bekommen, wenn ich mir den Bereich angucke, von dem ich besonders viel Ahnung habe, das Hotel- und Gaststättengewerbe. Wo eben 90 Prozent der Betriebe nicht im Arbeitgeberverband sind und demzufolge nicht tarifgebunden sind. Was soll denn dann Tarifautonomie noch bedeuten?“ Die Tarifautonomie zu fordern, während auf Arbeitgeberseite niemand in den Verbänden sei, ist für Riesner heuchlerisch.
Sozialer Sprengstoff durch Anpassungsdruck von unten
In der Mindestlohnerhöhung sieht Unternehmensvertreter Schuster zudem sozialen Sprengstoff durch den Anpassungsdruck von unten. Die Lohnsprünge wie beim Mindestlohn ließen sich in normalen Tarifverhandlungen nicht erzielen. Insbesondere die mittleren Einkommensgruppen, also etwa Facharbeiter:innen, könnten unzufrieden werden, wenn sie aufgrund der Anhebung bei den untersten Lohngruppen kaum mehr verdienen würden als ungelernte Hilfskräfte. Hier einen Abstand beizubehalten sei für die Unternehmen einfach nicht leistbar. Dadurch könne dann sozialer Sprengstoff entstehen.
Auch Sebastian Riesner sieht dieses Problem und befürwortet einen Lohnabstand zwischen ungelernten und ausgebildeten Beschäftigten. Aus seiner Sicht allerdings liege es bei den Unternehmen für diesen Abstand zu sorgen. Nur so sei es auch attraktiv Fachkraft oder Führungskraft zu werden und sich weiter zu qualifizieren. Die Unternehmen müssten hier in der angespannten Arbeitskräftesituation erkennen, dass sie attraktive Arbeitsbedingungen schaffen müssen, um Fachkräfte zu bekommen. Zumal durch die letzten zwei Jahre Pandemie ein Großteil von Auszubildenen gar nicht ausgebildet worden sei, was zu einer weiteren Verschärfung der Fachkräftesituation führen werde.
Haben Minijobs noch eine Zukunft?
Im Zuge der Mindestlohnerhöhung hat die Bundesregierung darüber hinaus beschlossen die Minijob-Grenze auf 520 Euro anzuheben. Ebenso soll diese Grenze flexibel ausgestaltet werden. Das bedeutet, dass sich die Höhe der Minijob-Grenze zukünftig an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientieren soll. Nils Schuster findet dies folgerichtig und meint, dass Minijobs auch weiterhin eine Zukunft hätten. Auch die Arbeitnehmer:innen würden profitieren, wenn ihr Einkommen nicht ab dem ersten Euro sozialversicherungspflichtig sei.
Gewerkschafter Riesner vertritt stattdessen die Position, dass Minijobs abgeschafft werden sollten, „weil wir den Missbrauch […] in den letzten 20 Jahren dort deutlich gesehen haben“. Minijobs seien für Langzeitarbeitslose nicht der Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt und „wenn jemand 20 Jahre als Minijobber unterwegs ist, führt [das] am Ende zu Altersarmut, weil keine Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden.“ Viele Minijobber:innen seien sich ihrer Rechte auch nicht bewusst. In der Pandemie habe es für sie zudem keine Sozialleistungen vom Arbeitsamt, wie das Kurzarbeitergeld, gegeben. Für Riesner ist die Anhebung der Minijob-Grenze der klassische Kompromiss, da die FDP in der Bundesregierung auch noch etwas bekommen musste.
Für bestimmte Gruppen wie beispielsweise Studierende oder als kleiner Hinzuverdienst könnte sich Riesner aber durchaus vorstellen, Minijobs in einer reformierten Form mit Rentenversicherungspflicht und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beizubehalten.
Starke Tarifpartnerschaft für die Zukunft?
Nils Schuster und die UVB als Repräsentanten der Arbeitgeberseite kritisieren den Mindestlohn somit stark. Aber auch Sebastian Riesner von der NGG sieht den Mindestlohn insgesamt nur als „Hilfskrücke“. Schuster würde auf den Mindestlohn am liebsten verzichten, was er allerdings für unrealistisch hält und daher eine Stärkung der Mindestlohnkommission und der Tarifpartnerschaft fordert. Auch Riesner würde den Mindestlohn gerne durch angemessene und gute Tariflöhne obsolet machen. Folglich ist also eine starke Tarifpartnerschaft das, was beide Seiten vorgeben anzustreben. Der Weg dahin setzt jedoch starke Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände voraus.
Fabian Bieda studiert im vierten Semester Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seitdem er selbst zu Mindestlohnbedingungen gearbeitet hat, beschäftigt ihn diese Thematik.