Mit 15 Jahren kam Huda Abdul Razzak nach Deutschland. Jetzt ist sie 22, hat über 90.000 Instagram-Follower, betreibt drei erfolgreiche Unternehmen, studiert Wirtschaftsrecht – und ist noch lange nicht am Ziel.
von Lukas Seel
Immer groß geträumt
Neun Jahre alt war Huda, als sie sich zum ersten Mal ein großes Ziel setzte: „Meine Eltern hatte eine Freundin, die Ingenieurin war. Wenn es in unserer Nachbarschaft ein Problem gab, rief man sie an. Dann verschwand das Problem.“, erinnert sie sich. „Also beschloss ich, auch Ingenieurin zu werden.“ Das war in Jarmuk, einem überwiegend von palästinensischen Geflüchteten bewohntem Bezirk von Damaskus. Wenige Jahre später hatte sich die politische Lage in Syrien so weit zugespitzt, dass ihre Eltern 2011 beschlossen, mit ihr und ihrem älteren Bruder Khaled nach Sidon im Libanon zu ziehen.
Zwar hatte Hudas Familie in Syrien keine Staatsbürgerschaft besessen, aber dennoch konnte ihr Vater Nidal dort seinen Beruf als Anwalt ausüben. Im Libanon hingegen erhielt er keine Zulassung. Stattdessen machte er seine Leidenschaft für Blumen zum Beruf und begann, als Florist zu arbeiten. Als sich 2015 über einen Onkel die Möglichkeit eröffnete, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, zögerte die Familie nicht lang.
Neubeginn in Deutschland
„Zwei Monate haben wir bei meinem Onkel in Neukölln gewohnt.“, erzählt Huda. „Ganz am Anfang war meine Erwartung von Deutschland, dass sich unser Leben hier schlagartig verändern wird. Ich dachte sogar, wir würden hier ein Haus bekommen, ein Auto – und Geld!“, lacht sie. Stattdessen ging es vom Onkel zunächst in eine bescheidene Wohnung in Marienfelde. Wie schon im Libanon zeigten sich auch die deutschen Behörden unbeeindruckt von den Qualifikationen des Vaters. Deshalb versuchte Huda, die innerhalb eines Jahres fließend Deutsch lernte und bei den Gängen zum Jobcenter für die Familie übersetzte, dem Vater wenigstens Arbeit in einem Büro zu verschaffen. Die Angebote blieben aber immer die gleichen: Aushilfsjobs, zumeist bei Zulieferern wie DHL.
Gemeinsam mit ihrem Bruder schaffte Huda schnell den Übergang von einer „Willkommens“- in die Regelklasse der Johanna-Eck Schule-Schule in Schöneberg. Es war um diese Zeit, dass der Traumberuf Ingenieurin einem anderen wich: „Ich wollte Angela Merkel werden.“, grinst Huda. So kam es auch, dass sie nach dem erfolgreichen MSA an ein Gymnasium wollte. Das Politikstudium war ihr Ziel, um später die deutsche Politik von ganz oben mitgestalten zu können. Dafür wechselte sie an eine Schule in Marzahn. „Das schlimmste Erlebnis meines Lebens.“, wie sie es beschreibt.
Von Beginn an wurde sie gemeinsam mit vier Mitschülerinnen, die mit ihr auf die neue Schule gewechselt und ebenfalls neu in Deutschland waren, massiv gemobbt. Was mit „Ihr schafft das nie“ und „lernt erstmal richtig Deutsch“ begann, eskalierte in der Androhung körperlicher Gewalt. Am Ende schaltete eine Lehrerin die Polizei ein, nachdem sie die Nachrichten in einer WhatsApp-Gruppe gelesen hatte. Nach Ende des Schuljahres verließen alle fünf die Schule und wechselten auf das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium, einer Schule mit traditionell hohem Anteil von Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Alle fünf schafften das Abitur und studieren nun Medizin, Physik, Biologie, Wirtschaftsingenieurwesen und in Hudas Fall Wirtschaftsrecht – obwohl sie sich noch nicht sicher ist, ob es dabei bleiben wird. Business Management war ihr eigentliches Wunschfach, aber sie verpasste eine Bewerbungsfrist. Das ist kaum verwunderlich, denn mittlerweile betreibt Huda mit 22 Jahren drei erfolgreiche Unternehmen und unterhält einen Instagram-Account, auf dem ihr über 90.000 Menschen folgen. 90 Prozent davon sind Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, die ebenfalls aus arabischen Ländern nach Deutschland gezogen sind.
Influencerin statt Kanzlerin
Schon mit 17 hatte Huda angefangen, während der Schulferien zu arbeiten – mit dem Ziel, von dem Ersparten auf Reisen zu gehen. Als sie das Einkommen dem Jobcenter anzeigte, erfuhr sie zu ihrem Entsetzen, dass sie die größten Teile ihre Verdienste nicht behalten durfte. „Ich war so traurig, ich habe einfach nur geweint.“, sagt Huda. „Meine ganzen Ferien hatte ich geopfert, und dann durfte ich das Geld nicht behalten.“ Neben der Schulzeit begann sie einen Job in einer Shisha-Bar, wo sie unter der Hand für fünf Euro pro Stunde arbeitete. Die Schule ging bis 15 Uhr, ihre Schicht von 17 bis 23 Uhr und manchmal bis Mitternacht. Auf dem Weg direkt von der Schule zur Arbeit und nach Hause erledigte sie ihre Hausaufgaben. Um diese Zeit wurden ihre politischen Ambitionen von einem neuen Ziel abgelöst: der Influencer-Welt von Social Media, YouTube und Instagram. Kurz darauf begann sie, eigene Inhalte zu produzieren und diese auf der Foto-Plattform zu posten.
Vor allem über ihre zugängliche Art – auch heute beantwortet sie noch jeden Tag hunderte von Nachrichten und organisiert Ausflüge mit ihren Fans – und durch praktische Tipps baute sie sich langsam ein Publikum auf: von schönen Orten in Deutschland über kleine Klamottenläden bis hin zu Anleitungen, wie der Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft funktioniert oder man am besten günstige Flugtickets findet, versorgte Huda ihr Publikum mit einer Vielfalt von praktischen Hinweisen aller Art. In einem Beitrag erklärte sie sogar, wie man eine Gartenlaube pachtet. Manchmal begleitete sie wildfremde Menschen zu Amtsterminen. „Ich bin eine Art arabisches Google!“, lacht sie. Denn viele dieser Informationen bleiben anderen Geflüchteten zwischen dem Wirrwarr einer neuen Sprache und unübersichtlichen Webseiten verborgen. „Ich wollte einfach etwas machen, das Menschen hilft, die neu in Deutschland angekommen wie ich.“ Ihr hatte damals niemand geholfen, umso wichtiger fand Huda es, ihr gesammeltes Wissen und die Ergebnisse ihrer Recherchen zu teilen.
Viele ihrer Freunde waren skeptisch, hielten ihre Ideen für „Kinderträume“. Aber das motivierte Huda nur. Ihre Familie hingegen unterstützte sie bei dem Unterfangen von Anfang an, warf sich für Fotos in Pose oder half bei ihren Shoots aus. Umso stolzer sind ihre Eltern jetzt, wenn sie selbst ohne Huda im Schlepptau auf der Straße erkannt werden.
Die letzte Motivation, mit Instagram endlich Geld zu verdienen, kam vom letzten Job, in dem Huda noch nicht ihr eigener Chef war: Nach einer kurzen Anstellung in einer Bäckerei, bei der ihr Vater während der ruhigen Sonntagsschichten vorbeikommen musste, um die Mäuse zu verscheuchen, fand sie sich im hinteren Teilen einer kleinen Eisdiele als Tellerwäscherin wieder. Nach neun Stunden, Huda konnte kaum noch stehen, drückte ihr der Besitzer 40 Euro in die Hand. Schon damals hatte sie über Instagram für kleine lokale Unternehmen Werbung im Austausch für Produkte gemacht. Auf dem Nachhauseweg beschloss sie, ab jetzt Geld zu verlangen. Huda war 19.
Der Durchbruch
Von da an „hat es einfach geklappt“. Für ihre erste bezahlte Werbung erhielt Huda 25 Euro, die zweite wurde mit 40 Euro entlohnt. Danach wurde es immer mehr. „Bald werde ich mit Instagram mehr verdienen als ein Arzt.“, sagt Huda. Und dafür muss sie sich nicht verstellen und antwortet nur sich selbst. „Ich mache das, was ich mag. Ich kenne meine Follower und habe eine starke Verbindung zu ihnen, weiß genau, was sie mögen. Und ich muss ihnen nichts vorspielen, ich bin einfach ich.“ Trotz Geld, das sie mittlerweile verdient, haben sich ihre Inhalte nicht besonders verändert. Weiterhin verbringt sie viel Zeit mit der Recherche neuer Themen, vermittelt Wissen, beantwortet Nachfragen in den privaten Nachrichten.
Selbst die Idee für ihr erstes Unternehmen entstand aus solch einer Erkundigung. Eine Frau aus Nordrhein-Westphalen fragte Huda Anfang 2020, ob sie wisse, wo sie eine Shisha kaufen könne. Huda witterte eine Marktlücke und gründete kurzerhand gemeinsam mit ihrem Bruder einen Versandhandel für Shishas. Die Bestellungen häuften sich. Kurz darauf beschloss Huda, auch mit ihrem Vater ein Gewerbe anzumelden und ihm einen Weg aus den befristeten Aushilfejobs zu ermöglichen. Kurz vor dem Valentinstag eröffneten sie gemeinsam einen Blumenhandel.
Beide Unternehmen gründete Huda mitten im Abiturstress. Aber in einer der drei Unternehmungen kürzer zu treten, kam für sie nicht in Frage. Zu groß war der Wunsch, endlich ihr eigener Chef zu sein. Zu groß auch das Verlangen, ihrem Instagram-Publikum zu zeigen, dass man viel erreichen kann, sogar gleichzeitig, sogar, wenn man in ein neues Land zieht, dessen Sprache man anfangs nicht spricht. „Ich wollte es einfach alles durchziehen.“
Heute zählt der Laden mit ihrem Vater dank ihrer guten Verbindungen zur Community zu den größten arabisch geführten Floristen in Berlin. Der Shisha-Handel läuft weiterhin gut. Dazu kommt eine weitere Leidenschaft, aus der Huda ein Geschäft gemacht hat: Mittlerweile betreibt sie ein Kleidungsgeschäft mit einer perfekt auf ihre Zielgruppe zugeschnitten Auswahl. Sogar eine eigene Waffel hat sie in Zusammenarbeit mit einem Berliner Café kreiert.
Bei all dem Trubel hat Huda vor allem eines nie vergessen: woher sie kommt. „Es ist mir total peinlich, aber ich muss jetzt los zu meiner Mutter. Sie fliegt morgen zu Verwandten nach Schweden und ich habe ihr versprochen, vorher etwas mit ihr zu machen.“, sagt sie und verabschiedet sich. Als nächstes hat sich Huda vorgenommen, eine Management-Agentur zu gründen, um die Karrieren arabischsprachiger „Creators“ in Deutschland zu fördern. Und, na klar: nebenbei will sie noch die 250.000 Follower-Marke knacken.
Lukas Seel verwirklicht seit 2015 mit der Organisation PluralArts International Projekte mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Er lebt und arbeitet in Berlin und New York.