„Licht an, Musik aus, Alle rein“

„Licht an, Musik aus, Alle rein“. Foto: Kevin Woblick / CC0 1.0

„Licht an, Musik aus, Alle rein“

Kolja Wobig (Name auf Wunsch geändert) ist seit 2012 bei der Polizei Berlin auf Abschnitten und in Einsatzhundertschaften als Schutzpolizist tätig. Dabei fährt er häufig Streife im Nachtdienst. Im Interview erzählt er, warum die Polizei es vermeidet, Clubs zu betreten und wie sie bei einem ihrer häufigsten Nachteinsätze vorgeht: der häuslichen Gewalt.

von Lasse Hilse

Herr Wobig, von wann bis wann geht eine Nachtschicht in Berlin?

Da gibt es etliche Zeiten in der Nacht. Der sogenannte „echte“ Nachtdienst ist grundsätzlich der Zwölfstundendienst, der geht von 18 bis 6 Uhr. Es gibt aber beispielsweise auch einen von 22 bis 6 Uhr und insbesondere bei der Einsatzhundertschaft einen von 16 bis 4. Aber meistens bewegen sich Nachtschichten im Rahmen zwischen 18 und 6 Uhr.

Unterscheidet sich eine Nachtschicht vom Dienst tagsüber? Gibt es andere Delikte? Mehr Einbrüche beispielsweise?

Das kommt wirklich immer ganz drauf an, in welchem Bezirk man sich bewegt und welches Klientel dann dort unterwegs ist. Du kannst zum Beispiel meiner Meinung nach nicht Tegel mit Friedrichshain vergleichen. Andererseits kann man selbst das meiner Erfahrung nach nicht pauschal sagen.
Wie ich es selbst mitbekommen habe, ist es relativ unvorhersehbar, was in einer Nachtschicht passieren wird. Bei einer Schicht von Freitag auf Samstag, bei der man weiß: das Partyvolk ist unterwegs, es ist relativ viel los, die Clubs haben geöffnet, es ist gutes Wetter – da denkt man, es wird bestimmt was passieren, aufgrund des Alkoholkonsums und Ähnlichem. Es gibt aber Tage die überraschen einen, weil dann doch plötzlich absolut nichts los ist. Da versteht man quasi die Welt nicht mehr.
Ab und an gibt es aber Tage, da hast du dann einen Tagesdienst um sieben Uhr morgens unter der Woche, wo du mehr zu tun hast als auf einer Nachtschicht am Wochenende. Man kann es also nicht pauschalisieren.
Grundsätzlich haben Nachtschichten aber schon eine ganz andere Brisanz, vor allem am Wochenende. Weil die Leute sich da einfach anders verhalten. Aufgrund von Feierlaune, Alkohol, eventuell auch Betäubungsmittelkonsum.

Wird auch auf Sie als Polizist dann anders reagiert?

Anders generell ja, aber nicht zwingend immer negativ. Es gibt auch Leute, zum Beispiel auf der Warschauer Straße, die in Feierlaune sind und “whoooo!” rufen und winken und sowas. Das ist aber natürlich die Ausnahme, die meisten sind je nach Alkoholisierungsgrad und genereller Haltung der Polizei gegenüber nicht sehr positiv eingestellt. Insbesondere dann nicht, wenn sie feiern wollen. Dann spiegelt die Polizei meistens den Miesmacher wider, und den wollen sie natürlich beim Feiern nicht haben.

Clubs betritt die Polizei nur im Notfall. | Foto: Long Truing CC0 1.0

Das gilt dann vermutlich auch, wenn die Polizei nachts in einen Club muss?

Genau deswegen versucht man möglichst selten überhaupt in einen Club reinzugehen. Erstens gilt das Hausrecht. Sprich, wenn wir nicht wirklich akut irgendetwas haben, warum wir rein müssen, wird es nicht getan. Es gibt ja auch die Türsteher, Security, wie immer man sie nennen will. Die üben das Hausrecht aus. Wenn wir keine Strafverfolgung oder ähnliches haben, dann werden wir sehr selten in solche Etablissements reingehen. Man ist dann doch nur der Miesepeter und es kann zu Solidarisierungseffekten kommen. Das will die Polizei natürlich verhindern. Es bedarf also einer gewissen Einsatzbrisanz beziehungsweise einem Sachverhalt, der es unvermeidbar macht, reinzugehen. 

Werden Clubs ansonsten also von der Polizei ignoriert?

Nein. Was man beispielsweise gelegentlich macht ist, dass man sich auf den Anfahrts- und Abfahrtswegen von diesen Clubs aufstellt. Einfach nur um zu schauen, wie der Anmarsch ist und wie viele Leute überhaupt in dieser Nacht da sind. Um sich einen Überblick zu verschaffen und zu sehen, ob alles gesittet abläuft. Natürlich nur, wenn es die Einsatzlage zulässt.

Was waren in der Vergangenheit Gründe, einen Club doch zu betreten? Übermannte Sicherheitskräfte im Club?

Das wäre ein Grund, dann müssten sie uns aber schon selber rufen, weil wir meistens davon ja innerhalb des Clubs nichts mitbekommen. Bei einem meiner Einsätze war es in der Schlange zu Auseinandersetzungen und im weiteren Verlauf auch zu einer Raubtat gekommen. Das stellt einen Verbrechenstrafbestand dar, der wiegt natürlich ein bisschen mehr als eine einfache KV [Körperverletzung].
Wir hatten eine Personenbeschreibung und waren in Zivil. Wir mussten also nicht auffällig in Uniform in diesen Club rein. Wir haben kurz mit dem Sicherheitspersonal vor Ort gesprochen, denen die Lage erklärt und ihnen gesagt, dass wir mit ihnen eine Clubbegehung machen und gucken, ob wir ihn finden.
Wenn man einen Club begeht, versucht man also es unterschwellig zu machen. Nicht: “Licht an, Musik aus, Alle rein”. Natürlich nur dann nicht, wenn es die Lage zulässt. In dem Fall war es so, ich glaube die meisten die ausgelassen gefeiert haben, haben nicht mal gemerkt, dass es einen Polizeieinsatz gab.

Blaulicht. Es leuchtet blau. | Foto: Max Fleischmann / CC0 1.0 

Was sind nachts die häufigsten Einsätze?

Häusliche Gewalt, Körperverletzungen und Raubtaten. Verkehrsunfälle hat man seltener, die hat man eher zur Rush Hour, wenn die Leute nach der Nacht noch groggy sind. HGs [Häusliche Gewalt] gehören nachts mit den zu den Haupteinsatzanlässen, neben dem unzulässigen Lärm, der sich manchmal natürlich auch aus einer HG ergibt. So werden HGs manchmal auch zuerst von den Nachbarn gemeldet, als unzulässiger Lärm.

Wie geht die Polizei bei häuslicher Gewalt vor?

Wir probieren erstmal, die Nachbarn zu befragen. Es gibt auch Situationen, da rufen die Kinder an, oder manchmal die betroffene Frau oder der betroffene Mann, also das Opfer. In den Fällen wissen wir direkt, wo wir hinmüssen. Wenn es die Nachbarn sind, dann versuchen wir kurz Rücksprache zu halten, wo es genau ist. Natürlich nur, wenn wir es nicht schon selber hören.
Wenn wir hören, dass im Hausflur bereits richtig Bambulé ist, mit Schreien, Schlägen, Beleidigungen und wir die Wohnung zweifelsfrei lokalisieren können, dann wird schnell an die Tür herangetreten und erstmal geklopft. Falls wir dann als Reaktion Hilfeschreie wahrnehmen, müssen wir natürlich davon ausgehen, dass momentan eine Straftat gegen Leib oder Leben einer Person durchgeführt wird. Dann greift der klassische “Gefahr im Verzug” Begriff und wir können die Tür gewaltsam öffnen.

Und sobald Sie die Wohnung betreten haben?

Es wird erstmal die ganze Lage eingefroren. Dann wird geguckt was vorliegt. Die Parteien werden räumlich getrennt und unabhängig voneinander befragt. Auf jeden Fall ist es in einer fremden Wohnung immer wichtig auf Eigensicherung zu achten. Weil man nie weiß, was sind das für Leute, wie ticken sie. Die sind gerade hochemotional, die hatten grad einen Streit, der auf einer Beziehungsbasis stattfindet, also sehr hochgekocht ist. Und die wissen, wie ihre Wohnung geschnitten ist. Wir nicht, wir kommen da rein, in eine unbekannte Situation. Das ist ein bisschen schwieriger.
Meistens sind auch Alkohol oder Drogen im Spiel. Außerdem sind Sachen wie Küchenmesser frei zugänglich, dementsprechend muss man auch darauf immer ein bisschen ein Auge haben. Dass man sie immer begleitet und sieht was sie machen. Nichts wäre fataler, als wenn eine Person kurz in ein Nebenraum geht und mit einer beliebigen Waffe wiederkommt.
Es wird also erstmal eingefroren. Man versucht rauszubekommen, wer der Aggressor ist und was die Umstände sind. Und dann kommt es zu einer Wegweisung, woraufhin diese Person die Wohnung bis zu 14 Tage nicht mehr betreten darf.

Kommt das immer vor?

Nein, nicht immer. Es kommt wirklich häufig vor. Problematisch daran ist, dass sich die Wogen oft schnell glätten. Diese Wegweisung gibt der geschädigten Person nur die Chance, in dieser Zeit Abstand zu nehmen und Behördengänge zu machen. Einen Titel gegen die andere Person zu erwirken, um Abstand zu gewinnen, ein Kontaktverbot zu erwirken. Das alles dauert leider seine Zeit, weil die Bürokratie in Berlin und auch Deutschland im Allgemeinen nicht grad die Schnellste ist. Wenn der Aggressor in dieser Zeit Kontakt aufnimmt, wäre das sofort ein Verbot gegen das Gewaltschutzgesetz und er könnte in Gewahrsam genommen werden.
Problematisch ist nur, sofern die Person, die als Opfer in Erscheinung getreten ist, die anderen Person einfach wieder in die Wohnung lässt; dann ist die Maßnahme hinfällig. Es basiert alles auf Freiwilligkeit, wir können niemanden zwingen, keinen Kontakt zu einer anderen Person zu haben. Meistens ist deshalb nach dem Aussprechen einer Wegweisung die Person am nächsten Tag – wenn nicht sogar am gleichen Tag – wieder da. Weil sie sich einfach wieder vertragen. Oder weil sie sagen: “Wir sind in einer Beziehung, wir lieben uns, das war ja nur ein Ausrutscher”. Meistens ist es aber der zehnte Ausrutscher.

Ist immer offensichtlich, wer Aggressor und wer die geschädigte Person ist?

Früher gab es den Grundsatz: Der Mann verlässt immer die Wohnung, weil immer der Mann die Frau schlägt. Heute weiß man, dass das nicht immer der Fall ist, sondern häusliche Gewalt auch umgekehrt vorkommt. Deswegen wird erstmal gefragt: Wie ist es dazu gekommen. Und anhand der Personalien überprüfen wir dann auch die polizeiliche Geschichte der Personen. Wir schauen, ob es schon Einträge gibt. Wenn ja, wie waren die gestrickt? Häufig sind es Wiederholungstaten und daraus kann man sich ein Bild machen. Dazu kommt unsere Erfahrung aus früheren Einsätzen. Meistens finden wir heraus, wer die Aggression gestartet hat.

Man braucht also eine ganze Menge Einfühlungsvermögen und Deeskalationsvermögen?

Absolut. Wenn man da ankommt und quasi mit herrschender Faust irgendwas machen will und sehr die Autoritätsperson raushängen lässt, dann kommt man nicht weit. Meistens wird auch dafür Sorge getragen, dass auch eine weibliche Beamtin mit vor Ort ist, sofern es sich um ein Heteropaar handelt. Eine Frau, die gerade von einem Mann geschlagen wurde, die möchte oder kann vielleicht nicht direkt wieder mit einem Mann sprechen. Da wird versucht, auf gleichem Augenlevel und mit viel Einfühlungsvermögen daran zu arbeiten, dass man die Sache so geschmeidig wie es bloß geht löst. Demnach handelt es sich bei diesen Einsätzen meistens auch um sehr, sehr Langwierige. Wenn man zu einer HG kommt, bei der es eine größere Auseinandersetzung gab, dann dauert die Bearbeitung wirklich so sechs Stunden. Weil man sich Zeit lässt und versucht, alles entspannt über die Bühne zu bringen.

„Der Beruf ist immer noch männerdominiert und es gibt zu wenig weibliche Polizistinnen“. | Foto: Jonas Augustin / CC0 1.0

Wird bei der Zuweisung des Einsatzes schon darauf geachtet, dass mindestens eine Frau dabei ist?

Es wird versucht. Wenn nicht, wird möglichst schnell über die Einsatzleitzentrale gefragt, ob in der Nähe ein anderer Wagen mit einer weiblichen Kollegin ist. Wenn schon eine dabei ist, ist es natürlich perfekt. Es kann natürlich sein, dass die weibliche Person in der Wohnung die Täterin ist. Dann müsste es gegebenenfalls weitere Maßnahmen geben, wie eine Durchsuchung, auch zu unserer Eigensicherung. Da gilt das Gleichgeschlechterprinzip, dass also eine Frau nicht von einem Mann durchsucht werden darf oder andersrum. 

Sie haben gerade gesagt „es wird versucht“. Gibt es zu wenig weibliche Einsatzkräfte?

Ich glaub‘ auf dem Abschnitt ist es relativ ausgewogen. Auf der Einsatzhundertschaft ist es ein bisschen was Anderes. Da waren bei mir im Zug von circa dreißig Leuten vielleicht zwei Polizistinnen. Dann ist es natürlich nicht so einfach mit solchen Situationen. Das ist dem Umstand geschuldet, dass der Beruf immer noch männerdominiert ist und es zu wenige weibliche Polizistinnen gibt, ja.

Sie haben eben die Eigensicherung im Zusammenhang mit der HG angesprochen, haben Sie brenzlige Situation in diesen Einsätzen erlebt?

Bei einem meiner Einsätze habe ich auf dem Couchtisch unter einer Zeitung ein Messer gesehen. Da wollte der Aggressor gerade hin greifen. Ob er das einsetzen wollte, weiß man natürlich nicht, da kann man nicht in den Kopf schauen. Aber der Griff ging dahin und dementsprechend kam die Reaktion. Da wurde er dann kurz von uns auf den Boden gelegt und musste den Rest des Abends in Handfesseln auf der Couch verbringen.

Ihre Waffen haben Sie und Ihre Kolleg:innen also nicht gezogen?

Nee, dazu hätten wir auch gar nicht die Zeit gehabt. Wir standen direkt an ihm dran. Die ersten zwei, drei haben sich raufgeschmissen und alles war unter Kontrolle.
Wäre er etwas weiter entfernt gewesen, wäre es eine ganz andere Situation gewesen. Dann hätte man schauen müssen, wie es sich entwickelt. Das Reizstoffsprühgerät innerhalb einer Wohnung einzusetzen ist natürlich nicht das Non-Plus-Ultra, da schadet man sich meistens selbst mehr als dem Anderen. Da muss man schauen, wie man die Situation löst.
Es ist auch schon öfter vorgekommen, bei mir zum Glück nicht, dass sich HGs schnell zu einer Geiselnahme entwickelt haben. Deswegen muss man immer sehr aufpassen, wie alles gestrickt ist. Weswegen man aber eben versucht, die Parteien sofort auseinanderzubringen und räumlich zu trennen. Auch so zu trennen, dass sie keinen Blickkontakt zueinander haben und sich nicht gegenseitig hören können. Sofern das in der Wohnung möglich ist. 

Wird den als Opfern in Erscheinung getretenen Personen noch in irgendeiner Form über den Einsatz hinaus geholfen?

Ja. Es gibt Handlungsempfehlungen beziehungsweise Qualitätsstandards für Einsatzlagen der HG. Das ist wie eine Auflistung an Sachen, an die wir zu denken haben. Beispielsweise dass Frauenhäuser vorgeschlagen werden, die BIC-Hotline empfohlen wird, dass Broschüren ausgehändigt werden et cetera.
Wenn diese Person das erste Mal in dieser Situation gewesen ist und man ihr sowas an den Kopf knallt wie: “Erwirken Sie einen Titel, gehen Sie zum Gericht und machen Sie dies und jenes…” – damit können die meisten nicht viel anfangen. Deswegen, wenn man ihnen die Broschüre gibt beziehungsweise sie damit bei der Hotline einen Ansprechpartner finden, dann ist den Leuten mehr geholfen, als wenn man sie mit irgendwelchen Betitelungen oder Verwaltungskram vollmüllt, den sie gar nicht verstehen. Auch die Lage lässt das manchmal gar nicht zu, weil sie noch viel zu emotionalisiert sind.

Gibt es auch falsche Alarme?

Ja, das kommt vor. Es kamen schon Anrufe, da meinten die Nachbarn: “Ich glaub’ die hauen sich die Köpfe ein!” Und da war’s dann der Fernseher. Oder es wurde recht erschrocken von einem Mann im Handtuch aufgemacht. Die haben da gerade richtig den Intercourse geprobt. Und in einer Lautstärke, dass da Leute dachten, die töten sich.
Man guckt dann natürlich trotzdem, ob es Allen gut geht, oder die Situation doch eine HG ist. Aber ansonsten gibt es dann ein Du-Du, dass es ganz schön laut war. Und dann ziehen wir wieder von dannen.

Was würden Sie Nachbarn raten, die sich nicht sicher sind, ob sie gerade Geräusche einer HG hören?

Im Zweifel immer die 110 rufen. Immer. Da geht die Sicherheit absolut vor. Wenn es sich dann als etwas Anderes herausstellt, ist das kein Problem. Es ist immerhin der Job der Polizei dem nachzugehen, dafür sind wir da. Nachbarn sollten sich also niemals scheuen, den Notruf zu wählen. Lieber einmal mehr anrufen als einmal zu wenig. Ansonsten kann es schnell zu spät sein.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wobig!

Sehr gerne!


Lasse Hilse studiert Japanstudien und Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Er interessiert sich besonders für die Kultur und Politik Japans und Südostasiens im Allgemeinen, begeistert sich aber auch für Subkulturen wie Goth und Metal.


2023-05-22T13:52:20+02:00 Kategorien: Lesen, Lesetipp, Macht + Medien|Tags: , , , , , |