Wenig Platz für Solidarität: Warum die berlinweite Erhebung obdachloser Menschen in den Winter verschoben wurde.

Eine Bank, der Fernsehturm und Sterne. Sie sind die Erkunngszeichen des Projekts. Foto: promo

Wenig Platz für Solidarität: Warum die berlinweite Erhebung obdachloser Menschen in den Winter verschoben wurde.

Die für Ende Juni angedachte „Zeit der Solidarität“, eine berlinweite Obdachlosenzählung, musste verschoben werden. Im Interview spricht der Projektleiter Bálint Vojtonovszki über die Gründe.

von Masha Slawinski

Bálint Vojtonovszki ist der Projektleiter der Zeit der Solidarität.
 Er plädiert für die Wichtigkeit einer Zählung im Sommer. | Foto: Agnes Fecher

In der Nacht zum 23. Juni sollten Berlins Obdachlose gezählt werden. Zum zweiten Mal seit dem Januar 2020. Organisiert hat das Projekt der Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V..
Die berlinweite Erhebung soll Aufschluss darüber geben, wie groß der Hilfebedarf obdachloser Menschen in der Hauptstadt zu verschiedenen Jahreszeiten ist. So können Anpassungen in der Wohnungslosenhilfe begründet werden.
Nun wurde die Zählung aber vom Sommer in den Winter 2023 verschoben. Zu wenig Freiwillige hatten sich für die Erhebungsnacht gemeldet. Im Interview spricht der Soziologe und Leiter des Projekts, Bálint Vojtonovszki darüber, warum es sich derzeit schwierig mit dem Ehrenamt verhält und wie es jetzt weitergehen wird.

Die Zeit der Solidarität wurde vom Sommer in den Winter verschoben, weil sich nur 1.200 statt der 2.400 Ehrenamtlichen dazu angemeldet haben. Hängt das mit der Pandemie zusammen?

„Teilweise liegt es sicherlich daran, dass sich die Menschen nach zwei Jahren Pandemie freuen, dass die Fallzahlen runtergehen – beziehungsweise sollen – und sie sich deswegen mit anderen Dingen beschäftigen. Andere haben immer noch Angst vor einer Infektion. Dazu kommt, dass bei der vergangenen Zählung viele Studierende teilgenommen haben, die von der Pandemie sehr getroffen wurden: Jetzt, wo sie nach zwei Jahren Online-Universität die ersten Male durch die Tore der Hochschulen laufen, sind sie völlig mit Präsenzterminen und Veranstaltungen überlastet.“

Sie haben es schon angedeutet: Wenn es wärmer wird, sinken üblicherweise die Fallzahlen und Menschen möchten sich mit anderen Dingen beschäftigen. Sind Menschen im Sommer weniger hilfsbereit?

„Ja, das sehen wir überall in der Freiwilligenlandschaft. Besonders für das Thema Wohnungslosigkeit ist es im Sommer schwer Freiwilligenkraft zu aktivieren. Einerseits schätzen die Menschen Wohnungslosigkeit als ein weniger gravierendes Thema ein, weil die Leute nicht frieren. Trotzdem haben die obdachlosen Menschen viele Probleme, zum Beispiel wegen der Hitze. Außerdem erhält das Thema Obdachlosigkeit im Sommer weniger Öffentlichkeit und uns erreichen seltener Medienanfragen. Im Sommer gibt es einfach weniger Empathie als im Winter, wenn die Lebensgefahr viel näher ist.“

Spielt der Ukraine-Krieg für das fehlenden Engagement eine Rolle?

„Vermutlich ja: Mehrere tausende Menschen helfen derzeit den ankommenden flüchtenden Ukrainer*innen. Ich denke, dass das ebenfalls ein Grund ist, warum wir Berlins immense Freiwilligenkraft nicht für unser Projekt aktivieren konnten. Mehr kann Berlin im Moment einfach nicht leisten.“

Das Projekt wurde von „Nacht der Solidarität in Zeit der Solidarität“ umbenannt. Es soll für mehr stehen als nur eine Datenerhebung. | Foto: promo

Das Projekt „Nacht der Solidarität“ wurde in die „Zeit der Solidarität“ umbenannt. War das ein Fehler, wegen der Wiedererkennbarkeit?

„Das denke ich nicht. Ein Kritikpunkt der Zählungsnacht im Januar 2020 war, dass es wenig Solidarisches an einer reinen Datenerhebung gibt. Wir haben uns für die Umbenennung entschieden, weil unser Projekt mehr bedeutet, als in einer Nacht die Daten obdachloser Berliner*innen zu erheben. Wir wollen langfristig Engagement fördern und Studierende und andere Menschen motivieren, sich langfristig zu engagieren. Unser Anliegen ist, dass Menschen nicht vergessen, dass Wohnungslosigkeit auch im Sommer existiert. Dafür haben wir im Mai und Juni viele Veranstaltungen initiiert. Zum Beispiel zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung.“

2020 wurden knapp 2.000 obdachlose Menschen in Berlin gezählt. Diese Zahl wurde von vielen Seiten als zu niedrig eingeschätzt. Haben die Menschen das Vertrauen in die Zählung verloren?

„Also ich komme aus Budapest – Ungarn und da wurden schon mehrmals solche Zählungen durchgeführt. Diese Überraschung seitens der Akteur*innen, dass sie weniger Menschen auf der Straße antreffen, als man es geschätzt hätte, ist immer da: Niemand kann alle obdachlosen Personen Berlins zählen und das ist auch nicht das Anliegen.
Eine reine Straßenzählung kann nur die sichtbaren Menschen im öffentlichen Raum finden. Man kann sagen, dass in der Nacht knapp 2.000 Menschen gefunden wurden, aber nicht, dass knapp 2.000 Obdachlose in der Stadt leben. Das Zählen ist aber nur sinnvoll, wenn man es regelmäßig macht, mit ähnlicher Methodik. Dann kann man reagieren und Hilfsangebote anpassen. “

Obdachlosigkeit ist nicht immer so klar erkennbar. Einige obdachlose Menschen wollen nicht gefunden werden. | Foto: Masha Slawinski

Aber was ist mit Hilfe für diejenigen, die nicht gefunden wurden?

„Einige Menschen wollen nicht gefunden werden. Sie leben in Dachböden, Kellern, Wäldern, Hausbooten oder Wohnmobilen und sind schwer zu erreichen. Meiner Meinung nach sind die Menschen, die wir gezählt haben, diejenigen, die am meisten Hilfe brauchen, weil sie sich eben nicht verstecken können. Das ist sehr wichtig.

Hat die Zählung aus dem Jahr 2020 etwas für obdachlose Menschen in Berlin verbessert?

„Also in kleineren Schritten man kann Verbesserungen sehen. Die Straßenzählung hat zum Beispiel ergeben, wie wichtig Safe Spaces und Übernachtungsplätze für Frauen sind, da fast 20 Prozent der gefundenen obdachlosen Menschen weiblich waren. Es ist auch ein wichtiger Aspekt, dass weibliche Obdachlosigkeit sich von männlicher Obdachlosigkeit unterscheidet. Aber leider wurden viele Diskussionen und Nacharbeit von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales nicht gemacht, wegen der Covid-Pandemie.“

Wird jetzt gar nicht mehr im Sommer gezählt?

„Wir wollen unbedingt noch eine Sommererhebung durchführen, da sie uns wichtige Daten liefern könnte. Die grundsätzliche Frage lautet: ‚Wo sind die obdachlosen Menschen im Sommer?’. Im Winter gibt es 1.000 Notübernachtungsplätze, im Sommer gibt es nur 400. Wo sind die 600 Menschen, die im Winter in Notübernachtungen übernachten?. Aber erstmal können wir uns nur auf den Winter konzentrieren.”

Kommt Hilfe im Januar nicht zu spät?

„Wir wollen die Zählung zusammen mit der bundesweiten Hochrechnung von Obdachlosigkeit verknüpfen und das wäre am 31. Januar. So können wir mehr Öffentlichkeitsarbeit leisten. Im Dezember wäre es schwer gewesen sowas zu organisieren, wegen Weihnachten. Im November ist die Kältehilfe noch nicht voll im Gang.“

Was passiert jetzt bis zum Januar?

„Wir sind jetzt gerade bei der Analyse, um zu lernen, was da passiert ist und wie wir es besser machen können. Wir müssen mehr Öffentlichkeit schaffen. Ich hoffe, dass das durch die Medien und die Unterstützung der Senatsverwaltung im Winter besser funktioniert und wir so die Mindestanzahl von 2.400 Teilnehmer*innen erreichen können.“

Dieses Interview erscheint im FU-Medienlabor – wird also vor allem von Studierenden gelesen. Wollen Sie ihnen etwas mit auf den Weg gaben?

„Melden Sie sich bei der Zeit der Solidarität an und lernen Sie die obdachlosen Nachbar*innen kennen, die in Ihren Kiezen leben. Das kann ein sehr interessantes Plus für das Leben sein.“

Infos zur Zählung im Winter: Die nächste „Zeit der Solidarität” ist für den 31. Januar 2023 angedacht. Zur Anmeldung geht es hier: https://zeitdersolidaritaet.de/mitmachen/


Masha Slawinski (24) studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität. Mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt sie sich schon länger. Sie finden sie bei Twitter. https://twitter.com/masha_ninon


2022-10-22T00:27:02+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen|Tags: , , , , , |