Es ist Sommer. Der warme Wind weht über die Sonnenallee in Berlin Neukölln und lässt den Asphalt der Straße glitzern. Hinter dem Sonnencenter befindet sich die High-Deck-Siedlung, eine Gemeinschaftssiedlung mit etwa 6000 BewohnerInnen. Die baulich-funktionale Trennung von FußgängerInnen und dem Autoverkehr ermöglicht eine hochgelagerte, begrünte Fläche, dem sogenannten High-Deck. In der Joseph-Schmidt-Straße, eine der Straßen, die auf das High-Deck führen, wohnt die 19-jährige Ebru mit ihrer Familie.
von Acelya Tüney
Heimat Neukölln
„Ich lebe schon seit meiner Geburt hier und fühle mich sehr wohl“ sagt Ebru zu mir, als wir auf einer Parkbank neben dem Sonnencenter sitzen. Ihre ganze Kindheit verbindet sie mit diesem Ort. Der Ort, der durch seine hohe Zahl an Personen mit Migrationshintergrund bekannt ist. Allein in Neukölln leben 155 verschiedene Nationen zusammen. Das sind fast so viele Nationen, wie sie auf der ganzen Welt verteilt sind. „Hier leben zwar so viele unterschiedliche Nationen zusammen, aber sie haben keine Vorurteile gegenüber Moslems oder Christen, wie es in den Nachrichten dargestellt wird“ betont Ebru, während sie an ihrem Kratzeis spielt. „Die Menschen hier sind alle sehr offen, was andere Kulturen und Nationalitäten angeht.“ Nicht umsonst trägt Neukölln den Europapreis für das außergewöhnliche Engagement zugunsten der europäischen Integration. Der interkulturelle, Multikulti-Bezirk, wie einige ihn nennen, zeichnet sich aber nicht nur durch seine Offenheit aus, vielmehr ist es ein Bezirk voller Leben. Egal ob die Dönerbude um die Ecke, dem Britzer Garten oder dem Schloss Britz – Neuköllns Flair ist berlinweit bekannt.
Angstbezirk Neukölln
„Früher habe ich mich hier wohler gefühlt, je älter ich werde, desto unsicherer fühle ich mich manchmal“ offenbart Ebru, wobei sie einen Tropfen Wasser von ihrer Hose wischt. „Manchmal sind die Blicke von den Jugendlichen komisch und man fühlt sich dann als Frau sehr unwohl.“ Vor allem die Gegend vom Herrmannplatz zum S-Köllnische Heide versucht sie möglichst zu vermeiden. „Ich fahre dann meistens mit dem Auto durch die Sonnenallee runter zum Herrmannplatz, da bin ich auch froh, endlich einen Führerschein zu haben.“ Trotzdem betont sie, dass sie sich rund um die High-Deck-Siedlung wohlfühlt. „Ich hatte letztens erst ein Gespräch mit den Mädels aus meiner Klasse, die aus Brandenburg kommen. Die denken alle gefährlich über Neukölln, aber das kommt auf die bestimmten Gegenden an. Hier wo ich wohne, ist es nicht so schlimm“.
„Ich hatte danach jeden Tag Angst, dort zu arbeiten“
Im Februar 2021 ging Ebru wie gewöhnlich zur Arbeit, ohne davon zu ahnen, dass später ein Überfall stattfinden würde. Sie arbeitete zu der Zeit in einem Supermarkt im Sonnencenter, direkt bei sich um die Ecke. „Ich war hinten im Büro mit meinen KollegInnen und habe die Kassen gezählt, als am Eingang die Schiebetüren des Ladens aufgebrochen wurden“ erzählt Ebru angespannt, als würde sie den Vorfall nochmals erleben. Sie berichtet, dass die Einbrecher zwei junge Männer gewesen waren und sich durch den Laden bis zum Büro Zugang verschafften. „Der eine hatte eine Machete in der Hand und der andere ein großes Pfefferspray“. “Hände hoch auf den Boden“ schrien die Täter, woraufhin Ebru und ihre KollegInnen den Anweisungen nachkamen, da sie Angst hatten, verletzt zu werden. Anschließend nahmen sie eine Kasse, sowie 8000€ Bargeld mit und sprühten das ganze Büro voller Pfefferspray. „Wir konnten am Ende nicht mehr atmen“ sagte Ebru und betonte „es waren zwei ältere Personen mit im Büro und denen ging es danach sehr schlecht“. Die Täter flüchteten währenddessen wieder aus dem Laden und verschwanden, als wäre nichts gewesen. „Hier in der Umgebung gibt es viele Verstecke, wo man schnell verschwinden kann vor der Polizei. Das ist der Nachteil von hier“, äußert Ebru, derweil sie mir den Eingangsbereich des Supermarkts zeigt. In ihrer Stimme erkennt man Verzweiflung und Wut, die dabei zum Ausdruck kommt. „Ich hatte danach jeden Tag Angst, dort zu arbeiten“ bekennt Ebru und erzählt mir, dass sie im Sommer ihre Kündigung einreichte.
Versagen der Polizei
Einer der geflüchteten Täter war Ebru bekannt. Sie erzählte der Polizei den Namen und gab somit seine Identität preis. „Sie glaubten mir einfach nicht“, sagte Ebru traurig. Obwohl sie den BeamtInnen ein vielleicht entscheidendes Indiz übergab, wurde ihre Aussage nicht akzeptiert. Den Grund weiß sie bis heute nicht. „Ich habe mehrmals versucht mich zu erklären und den Vorfall geschildert, aber ich wurde nicht ernst genommen.“ Auch beteuert sie, dass der Vorfall bereits geplant war und sogar die Security mit involviert war. „Der Chef von der Bande ist der Security-Mann von dem Laden direkt nebenan gewesen, da er genau wusste, wann wer wo arbeitet.“ Somit fiel es den Tätern nicht schwer, den Überfall genaustens zu planen und zu vollstrecken. Immer noch sind die Täter auf der Flucht. „Ich habe mehrmals gesagt, wer der eine Täter ist, aber wenn sie mir nicht zuhören, dann ist das deren Pech“ gibt Ebru spöttisch von sich.
Vorurteile gerechtfertigt?
„Es gibt auch in anderen Bezirken Überfalle. Man kann sich jetzt nicht nur auf Neukölln fixieren“ sagt Ebru selbstbewusst. „Es leben hier halt viele Clanfamilien und die Medien heben das so stark hervor, dass viele deshalb direkt Vorurteile bilden“. Laut Statista wurden für das Jahr 2020 etwa 42.870 Straftaten in Neukölln registriert, jedoch gab es fast doppelt so viele Fälle in Berlin Mitte. „Einerseits verstehe ich die Vorurteile der Menschen, weil hier in dem Bezirk so oft etwas passiert und man viel mitbekommt, aber andererseits kann genauso etwas in anderen Stadtbezirken passieren.“ Als wir mit Ebru die Sonnenallee Richtung S-Köllnische Heide runterlaufen, treffen wir den 82-jährigen Herrn Linn. Ich frage ihn, wieso Neukölln seiner Meinung nach einen schlechten Ruf hat. „Neukölln war ja immer ein Arbeiterbezirk und hier war Armut schon immer vorhanden. Durch den Wandel kamen auch immer mehr arabisch- und türkischstämmige Familien her und damit verbunden viele Kinder und das stellt ein Problem dar“ erzählt er uns, während er sich an einer Laterne festhält, da er eine Gangstörung hat. „Ich komme ursprünglich aus Düsseldorf, aber lebe mittlerweile seit über 50 Jahren in Berlin und denke nicht negativ über Neukölln.“ Er fährt fort: „Es mag sein, dass der schlechte Ruf daherkommt, weil hier so viele Ausländer leben, aber es ist eben eine Entwicklung, die muss man mitmachen und ich finde die Menschen hier sehr nett.“ Auch die 18-jährige Anise ist der Meinung, dass man nur schlechtes über Neukölln zu hören bekommt. „Ja da leben ja so viele Ausländer, da gibt es immer Schlägereien, da ist es so laut und da passiert immer etwas“. Sie wohnt erst seit kurzem in Neukölln, davor hat sie in Charlottenburg gelebt. „Es ist ganz okay hier“ sagt sie zu mir, auch wenn sie ihren alten Bezirk vermisst.
Einmal Neuköllner, immer Neuköllner!
Neukölln ist zwar ein Bezirk, in dem immer was los ist, aber woanders leben würde Ebru nicht gerne. „Es gibt zwar Zeiten, wo ich sage, ich will hier nicht mehr leben, aber mir gefällt es in Neukölln, weil ich auch hier groß geworden bin.“ Ihr würde es schwerfallen, in einem anderen Bezirk zu leben, da sie sich bestens in ihrer Gegend auskennt und ihr jeder Winkel bekannt ist. „Nach einer Zeit interessieren mich die Blicke von den anderen Personen auch nicht mehr, ich versuche sie dann meistens einfach zu ignorieren“ bezieht sich Ebru nochmals auf die Situation rund um den Sonnenkiez. Alles was mit ihrer Kindheit zu tun hat, verbindet sie mit dem Bezirk und vor allem mit dem High-Deck, wo sie als kleines Mädchen gerne mit ihren FreundInnen gespielt hat.
Acelya Tüney studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität in Berlin. Ihre Leidenschaft zum Schreiben hatte sie schon ihr ganzes Leben. Bereits im Kindergarten erzählte sie ihre Geschichten anhand von selbstgemalten Bildern.