Ende September 2021, Gize kommt nach einem zweiwöchigen Urlaub nach Hause. Schon von weitem erkennt sie eine riesige Baustelle, die plötzlich gegenüber ihrem Wohnhaus steht. Sie ist überrascht und fragt sich, woher diese Baustelle plötzlich kommt? Sie war doch nicht lange weg und in diesen zwei Wochen entsteht eine Baustelle auf dem alten Park, der seit Jahren abgesperrt ist und leer steht. Was sie nicht weiß, schon im Jahr 2014 gab es erste Überlegungen, die große leerstehende Fläche für ein soziales Bauprojekt zu nutzen.
von Ceyda A.
Gize erinnert sich gut, wie sie als Kind immer auf dem Park gespielt hat: “ Ja, als Kind habe ich immer dort gespielt. Ich bin von der Schule nach Hause, was eine Minute gedauert hat, hab meine Sachen abgelegt und bin runter, um zu spielen. Gefühlt waren alle Kinder auf diesem Spielplatz. Auch Eltern, die z.B. picknickten, während ihre Kinder buddelten oder rutschten.“
Wieso der Park geschlossen wurde, ist ihr nicht bekannt. Beobachtet hat sie nur im Laufe der Zeit, dass er zunehmend dreckiger wurde, sich Obdachlose, teilweise Drogenabhängige dort gerne versammelten und viele Eltern und Kinder den Park zunehmend mieden. Irgendwann war er dann endgültig gesperrt und stand jahrelang leer. Bis jetzt.
Die Idee für das Projektes
Schon im Jahr 2014 ist die Situation am Berliner Wohnungsmarkt angespannt. Mieten wurden teurer und vor allem Personen aus vulnerablen Gruppen, wie z.B. Suchterkrankte, Behinderte oder psychisch Erkrankte hatten Schwierigkeiten eine bezahlbare Wohnung zu finden. Und auch soziale Träger hatten es schwerer, sogenannte Trägerwohnungen zu mieten. Trägerwohnungen sind Räume, die von sozialen Trägern gemietet werden, um sie dann an Menschen weiter zu vermieten, die diese Hilfe benötigen.
Trägerwohnungen sind zwar ursprünglich nur für therapeutische Wohngemeinschaften oder größere Einrichtungen gedacht gewesen, doch je angespannter der Wohnungsmarkt in Berlin wurde, desto mehr neue und kreative Ideen mussten die Sozialen Träger entwickeln, obwohl dies nicht ihrer eigentlichen Aufgabe entspricht.
Beginn des Projektes
Dem Infomaterial zum Bauprojekt (Gotenburger Straße 4 – Kiezquartier) ist zu entnehmen, dass das Projekt schon 2014 begonnen hat. Werner Duskat von L.I.S.T., eine Stadtentwicklungsgesellschaft, hat das Grundstück in der Gotenburgerstraße 4 ausfindig gemacht und Träger kontaktiert, die nach Wohnraum suchten. Die L.I.S.T. hat mit den sozialen Trägern und dem Architektenbüro Anne Lampen Architekten Ideen und erste Skizzen für das gemeinsame Projekt entwickelt.
Zu dem Zeitpunkt gab es Überlegungen des Bezirkes das Grundstück für eine Schulerweiterung zu nutzen, da eine Grundschule direkt angrenzt. Ein Teil der Fläche ging dann auch an die Grundschule und der Rest wurde der Nutzung für Soziales zugeordnet.
Die Degewo bekam das Grundstück anschließend als landeseigenes Wohnungsunternehmen, weil nach einem Beschluss des Senates im Jahr 2016 Grundstücke nicht mehr an Private gehen durfte und obwohl noch nichts sicher war, wurde zu dem Zeitpunkt schon viel Arbeit und Geld in die Projektentwicklung gesteckt. Doch die Zweckbindung des Grundstückes an Soziales, habe den Akteur*innen eine kleine Bestätigung gegeben.
Die L.I.S.T bildete fortan die Schnittstelle zwischen dem baulichen Teil und dem sozialen Teil. Da sie schon mit der Degewo und auch schon in ähnlichen Konstellationen zusammengearbeitet haben.
Um das Vertrauen noch zu stärken, wurden wohl zahlreiche Workshops durchgeführt, die das das Projekt auch inhaltlich weitergebracht haben. Jeder soziale Träger hat genau überlegt welche Bedürfnisse der Bezirk Wedding und der Soldiner Kiez hat.
Das Projekt nimmt seinen Lauf
Im Prozess stellten sich die Akteur*innen selbst die Frage, ob es überhaupt möglich sei, Wohnraum für über 100 Menschen zu entwickeln, mit unterschiedlichsten Problemlagen und Lebenssituationen. Abgesehen von Größe und Nutzen der Räume, musste beispielsweise auch bedacht werden, welche Gruppen wo untergebracht werden, damit ein Suchterkrankter nicht neben jemandem wohnt, der clean sein will.
Lösung: Zwei Treppenhäuser und eine unterschiedliche Verteilung auf die Stockwerke. Hier stellt sich die Frage, ob eine räumliche Trennung ausreicht.
Die Partner sind Raum für Raum durchgegangen und haben besprochen was sie genau benötigen und wie man die Flächen am sinnvollsten und effektivsten Nutzen kann. Für Betreutes Wohnen beispielsweise werden viele kleine Wohnungen benötigt, die jede eine Küchenzeile und ein Bad haben. Dies steigert allerdings auch die Kosten.
Die Finanzierung
Die Finanzierungsfrage erwies sich als sehr komplex und langwierig. Denn auch wenn es sich um ein soziales Projekt handelt, muss es für die Degewo rentabel sein. Benötigt wird ein Mietpreis der rentabel für Degewo ist, aber bezahlbar für die Sozialen Träger. Der Mietvertrag hat schließlich 25 Jahre Laufzeit.
Eine Gesamtfinanzierung ist schließlich gelungen und es wurde bewiesen, dass so ein Haus im Sinne der schwarzen Null gebaut werden kann.
Eigentlich sollte die L.I.S.T. die Funktion des Generalmieters übernehmen, doch dies entpuppte sich für sie als risikobehaftet. Deshalb wurde die KiezQuatier GmbH gegründet. Die Gesellschafter sind somit die gemeinnützigen Träger. Die KiezQuatier GmbH mietet also die Räume und vermietet sie dann an die Einrichtungen weiter. Sie nutzen die Räume, tragen aber auch das Risiko.
Das Haus
Das Haus hat 3.300 Quadratmeter Wohn- und Gemeinschaftsfläche. 11 WG- und Cluster-Wohnungen und 47 Ein-Zimmer-Apartments. Es gibt 104 Plätze für Betreutes Wohnen, z.B. für Alleinerziehende oder auch sucht- oder seelisch-erkrankte Menschen. Außerdem beinhaltet das Haus eine Kita mit 63 Plätzen und ein Berufsbildungsprojekt für schuldistanzierte Jugendliche. Das Haus soll Ende 2023 fertig sein und es wurden 14,7 Mio. Euro investiert.
Die Akteur*innen sind sehr überzeugt und behaupten, dass es wohl kaum jemanden in der Politik gäbe, der gegen dieses Projekt sein könnte und bezeichnen das Projekt als Selbstläufer. Es gibt bereits ein weiteres gemeinsames Projekt in Treptow-Köpenick, einen Quartiersplatz mit vier Häusern.
Was sagen die Anwohner*innen dazu?
Gize versteht das Konzept nicht. Die ersten Informationen erhielt sie aus einem Artikel. Das Suchterkrankte und ein Kindergarten unter einem Dach zusammenkommen sollen, kann sie nicht verstehen.
„Was ist denn, wenn die Suchterkrankten in Kontakt mit den kleinen Kindern kommen? Die Gegend hier ist bestimmt nicht gut für sie und was ist mit psychisch erkrankten Menschen? Ich möchte nicht gemein sein, aber wieso tut man Menschen die Suchterkrankt sind oder vielleicht starke psychische Probleme haben in ein Haus zusammen mit einer Kita und neben eine Grundschule? Ich weiß, dass in dem Haus nicht nur Suchterkrankte wohnen und nicht alle gleich gefährlich sind, aber wieso lässt man die Kita nicht weg und baut sie woanders?
Welchen Nutzen erzielt diese Konstellation?“
Eine weitere Anwohnerin beschwert sich. „Ich wohne seit über 20 Jahren in dieser Straße. Es ist immer schlimmer geworden. Es ist laut und dreckig. Man hört alles von der Straße. Die Grundschule stört ja nicht, aber direkt gegenüber der Schule ist eine Flüchtlingsunterkunft eröffnet worden. Und auch wenn es nicht alle sind, natürlich nicht, ist die Straße schon voll mit Menschen, die laut sind, rücksichtslos und ihren Müll einfach auf die Straße werfen. Ich weiß, dass sie Hilfe brauchen und nicht jeder automatisch schlecht oder gefährlich ist, aber reicht es nicht in dieser winzigen Straße schon eine Grundschule und einen Flüchtlingsunterkunft zu haben? Jetzt soll auch noch ein Haus hier hin, in dem die unterschiedlichsten Menschen zusammenleben sollen? Wer kann denn garantieren, dass die hier ansässigen Dealer ihre Dinge nicht anfangen in dem Haus loszuwerden? Und das es noch lauter wird? Außerdem hätte ein neuer Spielplatz der Nachbarschaft bestimmt gutgetan.“
Ein Anwohner, der ebenfalls in dieser Straße groß geworden ist, sieht das Projekt etwas positiver: „Also ich verstehe die Bedenken und habe selbst auch welche, doch ich denke mal die Verantwortlichen haben sich etwas dabei gedacht und die zu betreuenden Personen sind ja nicht allein gelassen. Das mit dem Kindergarten im selben Haus wie Suchterkrankte verstehe ich allerdings ebenfalls nicht. Ich hoffe sehr, dass die Kinder nicht in Berührung mit dieser Thematik kommen.“
Zu erkennen ist: Die erste Reaktion auf das Modellprojekt ist ziemlich negativ. Anwohner*innen scheinen einfach Angst zu haben, dass sich der Zustand der Straße und Nachbarschaft verschlechtert. Sie sind schon unzufrieden mit der Straße und dem Kiez. Die Gotenburgerstraße ist tatsächlich ziemlich kurz, bevor sie links abbiegt und es ist in der Tat beachtlich, dass in der Zukunft eine Grundschule, eine Flüchtlingsunterkunft, Wohnhäuser und ein soziales Zentrum hier ihren Platz finden werden.
Ceyda A. studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im Hauptfach und BWL im Nebenfach. Sie findet, dass die Wohnungssituation in Berlin eines der größten Probleme der Stadt ist.