Die Schöneberger Nachtlichter bringen Licht ins Dunkel

Tiny House der Schöneberger Nachtlichter. Foto: Sarah Pilotti

Die Schöneberger Nachtlichter bringen Licht ins Dunkel

Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat eine hohe Kriminalitätsrate, besonders im Bereich Drogen, Prostitution und Gewalt. Die Berichte über Gewaltverbrechen im Kiez häufen sich und auch die Beschwerden im zuständigen Bezirksamt sind hoch. Seit 2020 sind die Nachtlichter eines der Pilotprojekte der Gewalt- und Kriminalitätsprävention in Tempelhof-Schöneberg. „Hingucken statt weggucken“ ist das Motto. Eine Nacht war die Autorin mit den Nachtlichtern unterwegs und durfte den Arbeitsalltag der „Augen und Ohren“ im Kiez mitverfolgen.

von Sarah Pilotti

Berlin Schöneberg, 21:00 Uhr. Es ist eine milde Augustnacht. Die Luft ist schwül, Regen ist angesagt. Trotz des Sommermonats ist es bereits dunkel. Die Straßen sind leer. Vor einem Kiosk in der Blumenthalstraße nahe U Kurfürstenstraße sitzen ein paar Menschen, vertieft in eine Unterhaltung. Hamudi holt mich ab, denn der Bauwagen, in dem wir auf den Beginn der Nachtschicht warten, ist ein wenig hinter Bäumen versteckt. Hamudi ist ein Schöneberger Nachtlicht, neben Alichan, Kaneh und Volodymyr eines von Vier, die in der Nacht vom 20. auf den 21. August 2022 zwischen 21:00 Uhr und 03:00 Uhr im Kiez unterwegs sind. Das Ziel: Präsenz zeigen und den Kiez ein wenig sicherer machen. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat eine hohe Kriminalitätsrate, besonders im Bereich Drogen, Prostitution und Gewalt. Die Berichte über Gewaltverbrechen im Kiez häufen sich und auch die Beschwerden im zuständigen Bezirksamt sind hoch. Seit 2020 sind die Nachtlichter eines der Pilotprojekte der Gewalt- und Kriminalitätsprävention in Tempelhof-Schöneberg. „Hingucken statt weggucken“ ist das Motto.

Nach und nach treffen auch die anderen Nachtlichter ein, melden sich an und packen Diensthandy und Nachtlichter-Westen für die Schicht zusammen. Entlang der Kurfürstenstraße, vorbei am „LSD“ machen wir uns auf den Weg in Richtung Tiny House am Bürgerplatz Ecke Fuggerstraße/Eisenacher Straße, wo die Schicht offiziell beginnt. Währenddessen machen sich die Nachtlichter ein erstes Bild vom Geschehen im Kiez. Sie schauen, an welchen Ecken sich Menschenmassen sammeln und welche Bars gut besucht sind, um später an diese Orte zurückkehren zu können. Volodymyr entdeckt auf dem Weg einen neuen Späti und beginnt ein Gespräch mit dem Verkäufer. „Ich habe mich kurz vorgestellt und ihm eine Karte dagelassen. Wenn etwas passiert, kann er sich melden“. Auch das gehöre zu der Aufgabe der Nachtlichter. Sie haben eine Telefonnummer, die öffentlich zugänglich ist. Hat jemand Probleme, wird belästigt, angegriffen oder beobachtet eine Situation, die zu eskalieren droht, kann er*sie die Nachtlichter auf ihrem Diensthandy erreichen. Da sie im Kiez unterwegs sind, brauchen sie meist nicht lange, um vor Ort schlichtend einzugreifen. „Wir reden dann mit den Menschen und versuchen, die angespannte Situation zu deeskalieren. Das funktioniert am besten über Kommunikation und häufig reicht das schon aus, um einen Konflikt zu verhindern“, berichtet Hamudi, der mehrere Monate Berufserfahrung hat und sich in der Gegend gut auskennt. Auch Patrick Peikert-Rein, der Ansprechpartner für das Projekt „Nachtlichter“ im Rathaus Schöneberg, sieht in der Kommunikation den Schlüssel zum Erfolg. „Das Beste an dem Projekt ist, Konflikte im öffentlichen Raum mit einem anderen Ansatz händelbarer zu machen. Die Nachtlichter begegnen Menschen auf Augenhöhe und helfen, Konflikten vorzubeugen, bevor sie eskalieren“.

Die erste Runde verläuft ruhig und bis auf die Begegnung im Späti fällt nichts weiter auf. In dieser Nacht sind keine Menschenmassen unterwegs, laut Volodymyr eine Folge des Wetters. Er holt das Diensthandy raus und spricht einen Lagebericht ein, der zur Auswertung der Nachtschicht an das Koordinationsbüro geschickt wird. Am Tiny House angekommen, liegt ein Mann vor der Tür, der sich zum Schlafen auf der Veranda zusammengerollt hat. Die Nachtlichter wecken ihn mit Mühe, denn er ist stark alkoholisiert. Als er ansprechbar wird, versichern sie sich, dass keine Verletzungen vorliegen und kein Krankenwagen benötigt wird. Der Mann steht langsam auf und schlürft zu einer der Tischtennisplatten auf dem Bürgerplatz. Dort legt er sich wieder schlafen. Durch die Anwesenheit der Nachtlichter ist er sicher vor Diebstahl oder Raub. Alichan und Kaneh haben in der Zwischenzeit angefangen, aufzubauen. Sie holen eine Kabeltrommel aus dem Tiny House und schließen sie neben der anliegenden Bar „Tabasco“ über einen Verteilerkasten des Bezirksamts ans Stromnetz an. Dabei tragen sie Handschuhe, denn der Bürgerplatz ist ein beliebter Ort für Drogenkonsum- und Handel, Wildpinkler oder für die Ausübung sexueller Praktiken. Vor dem „Tabasco“ stehen Tische und Stühle, auf denen ein paar Gäst*innen Platz genommen haben. Alichan geht aktiv auf sie zu und beginnt ein Gespräch. So könne er sich und die Arbeit schon mal vorstellen, Kontakte knüpfen oder alte Bekanntschaften pflegen. Hamudi macht das auch oft. „Um die Zeit ist normalerweise total viel los. Der Bürgerplatz ist an Wochenenden voll mit Menschen, die Alkohol trinken und sich amüsieren. Unter ihnen viele, die Drogen verkaufen oder konsumieren. Da kommt es gerne mal zu Auseinandersetzungen, teilweise fliegen Glasflaschen durch die Luft. Wenn ich die Leute kenne, kann ich die Situation und die Gefahrenlage besser einschätzen und auch bedachter auf die Personen reagieren. Ich habe einen persönlichen Bezug zu ihnen“.

Bürgerplatz Fuggerstr./Eisenacher Str. | Foto: Sarah Pilotti 

Die Nachtlichter starten während ihrer Schicht mehrere Runden, um in der Umgebung nach dem Rechten zu sehen. Die Routen sind genau vorgegeben. Unter der Woche schauen sich die Koordinatoren des Projekts den Kiez an, sprechen mit Bar- und Restaurantbesitzern und vermerken darauf basierend Orte, auf die die Nachtlichter zu den Hauptausgehzeiten ein Augenmerk legen sollen. So gibt es keine Standardrouten, sie werden je nach Wochenende und Geschehnissen vorheriger Schichten angepasst. „Wir teilen uns immer in Zweierteams auf, von denen im Wechsel ein Team die Runde dreht und das andere Team beim Tiny House bleibt, um als Ansprechpersonen für Menschen mit Problemen da zu sein“, erklären Volodymyr und Hamudi, als wir die erste Route abgehen. In der Kartenansicht auf dem Diensthandy sind GPS- Punkte eingezeichnet, die passiert werden müssen. Als wir an den Punkten vorbeikommen, leuchten sie grün auf und geben das Signal, dass wir dort waren. Einer der GPS-Punkte ist das „Bulls“, eine Szenebar für LGBTQIA+-Menschen, vor dem sich eine Menschentraube gebildet hat. Rauchend stehen die Besucher*innen in fancy Outfits mit Flaschen in der Hand vor der Tür und begutachten uns mit neugierigen Blicken. Ein Stück vor uns raunt ein*e Gäst*in skeptisch ihrer*seiner Begleitung etwas zu, der Blick wandert abschätzig an uns herunter. Auf Misstrauen und Neugier stoßen Volodymyr und Hamudi häufiger, da die Arbeit der Nachtlichter noch nicht vielen Menschen bekannt ist. Trotzdem wird das Projekt gut angenommen. „Wir haben das Gefühl, dass unsere Arbeit wirklich etwas bewirkt, da wir viele Streits schlichten können, bevor Schlimmeres passiert. Die Menschen sind uns gegenüber freundlich gesinnt und diejenigen, mit denen wir ins Gespräch kommen, sind dankbar für die Hilfe.“ Sie führen fort, dass es auch Nachtlichter gibt, die mit Sexarbeitenden ins Gespräch kommen und sich nach deren Wohlergehen erkundigen. „Es freut die Sexarbeiter*innen, wenn sich jemand auch für die individuellen Hintergründe interessiert. Sonst steht häufig nur die Dienstleistung im Vordergrund und nicht die Persönlichkeit.“

Doch im Team gibt es auch kritische Stimmen. Da die Nachtlichter keine Weisungsbefugnis haben und Passant*innen nicht gegen ihren Willen von öffentlichen Plätzen verweisen dürfen, kann die Arbeit auch deprimierend und frustrierend sein. „Man gibt sich viel Mühe, aber manchmal erfüllt es einfach nicht den gewünschten Zweck“, erläutert Alichan, als wir zurück am Tiny House sind. Er würde sich wünschen, in manchen Momenten mehr rechtliche Befugnisse zu haben, um einen größeren Einfluss auf die Sicherheit im Kiez zu nehmen. „Wir sehen aber auch, dass es häufig keine rechtliche Autorität benötigt, um Personen zurechtzuweisen. Es kommt stark darauf an, mit welcher Einstellung wir in die Situation gehen. Unsere persönliche Autorität hilft uns dabei weiter, da die Leute wissen, dass wir ihnen nichts Böses wollen, aber auch nicht alles mit uns machen lassen“, ergänzt Volodymyr. Erfahrungsgemäß reagieren die Szenekiezer meistens positiv auf die Nachtlichter und befolgen deren Handlungsempfehlungen. Doch es kommt auch vor, dass reine Kommunikation nicht weiterhilft.

LSD an der U Kurfürstenstraße | Foto: Sarah Pilotti

„Letzte Woche kam eine junge Frau zu uns, die ein Stück mitlaufen wollte, weil sie verfolgt wurde. Vor einiger Zeit ist ein Kollege sogar Augenzeuge geworden, wie jemand vorm „LSD“ erstochen wurde. Das hat ihn mental fertig gemacht“. Der Kiez ist beim LSD an der U Kurfürstenstraße gezeichnet von gewalttätigen Angriffen homophober Natur, von großen Schlägereien, die in bewaffneten Auseinandersetzungen enden können. In solchen Situationen können die Nachtlichter nur dem Ordnungsamt oder der Polizei Bescheid geben. Die Nächte im Regenbogenkiez sind nicht ungefährlich. Die Teams bestehen aktuell nur aus männlich gelesenen Personen, die sich zutrauen, teilweise hohe Risiken einzugehen, um zu schlichten.

In der 100-Tage Bilanz der Pilotprojekte „Regenbogenkiez“ aus dem Jahr 2020 lassen sich aber Besserungen erkennen. „Die Beschwerden von Anwohnenden beim Bezirksamt gegen die Partyszene im Kiez sind weniger geworden, auch nach den Corona-Lockdowns, als die Lokalitäten wieder öffnen durften“, so Patrick Peikert-Rein. „Die Polizeieinsätze sind zurückgegangen, weil durch die Nachtlichter so manch strafbare Handlungen gar nicht erst passieren. Auch die Gäst*innen von Hotels im Kiez fühlen sich sicherer und wohler.“ Trotzdem gäbe es im Kiez eine hohe Dunkelziffer an Verbrechen, die gar nicht erst zur Strafanzeige gebracht würden. Dafür lassen sich vor allem die Stigmatisierung von Prostitution und Queerness anführen, darüber hinaus die eigene Beteiligung an kriminellen Handlungen. Viele Betroffene, die Gewalt aufgrund ihrer Arbeit oder ihrer (sexuellen) Identität erleben, haben häufig Gründe, diese nicht zur Anzeige zu bringen. Menschen, die sich bislang nicht geoutet haben, möchten nicht riskieren, dass ihr Umfeld davon erfährt, wie sie sich in ihrer Freizeit ausleben. Andere haben ein großes Misstrauen gegenüber der Polizei. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht oder führen selbst illegale Tätigkeiten aus, wie illegale Prostitution oder Drogenhandel und müssen die strafrechtliche Verfolgung der eigenen Person befürchten. Diese Menschen sind häufig ohne angemessenen Schutz von Gewalt bedroht. Die Nachtlichter können hier die Sicherheit im öffentlichen Raum erhöhen, sowie auf Hilfsangebote sozialer Stiftungen verweisen, die ohne Polizeikontakte Hilfe oder anonyme Anzeigen ermöglichen.

Nach Beenden der letzten Route kommen wir gegen halb drei wieder am Tiny House an. Alichan und Kaneh rollen die Kabeltrommel zusammen, räumen die Stühle von der Veranda ins Innere und schließen ab. Es geht zurück zur Blumenthalstraße in den Bauwagen, wo sich die Nachtlichter vom Dienst abmelden und die letzten Berichte ins Diensthandy sprechen, um dann in den Feierabend zu gehen. Insgesamt war es eine ruhige Nacht, die nicht besonders repräsentativ ist für die Herausforderungen, denen sich die Nachtlichter in anderen Schichten stellen müssen. Trotzdem ließ sich ein guter Eindruck gewinnen, mit welchen Problemen der Bezirk und die Menschen vor Ort täglich zu kämpfen haben und in welcher Rolle die Nachtlichter dabei unterstützen können. „Wir sind die Augen und Ohren im Kiez. Wenn Hilfe benötigt wird, sind wir zur Stelle.“


Sarah Pilotti studiert Geschichte und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Besonders gern schreibt sie Reportagen und Portraits oder führt Interviews zu gesellschaftlichen Themen – Hauptsache ein Genre, bei dem man mittendrin ist und sich viel mit den Menschen darin und deren Hintergründen beschäftigt.


2022-12-07T07:57:31+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen|Tags: , , , , , |