Joseph E. Stiglitz zu Gast an der Freien Universität.
Vor dem Völkerkundemuseum in Dahlem herrschte an diesem winterlichen Januartag großer Andrang. Anlass war der Vortrag des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Stiglitz, der aus Platzgründen vom John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien in den großen Vortragssaal des Museums verlegt wurde. Der breiten Öffentlichkeit ist der Gastredner nicht nur als Nobelpreisträger des Jahres 2001 bekannt, sondern auch als prominenter Globalisierungskritiker. In seinem Buch Die Schatten der Globalisierung geht er mit der weltwirtschaftlichen Integration viel härter ins Gericht als die Mehrheit seiner wirtschaftswissenschaftlichen Kollegen. Der 2002 erschienene Band übersetzt in 26 Sprachen entwickelte sich schnell zu einem Bestseller, der in seiner pointierten und zugleich gut verständlichen Darstellung auch zahlreiche Nichtökonomen in seinen Bann zog. Aufmerksamkeit fanden die kritischen Aussagen des Volkswirtschaftlers von der Columbia University auch, da er sich mit Fragen der Weltwirtschaft in der Vergangenheit nicht nur an amerikanischen Eliteuniversitäten beschäftigte, sondern auch als Chef-Volkswirt der Weltbank.
In seinem Vortrag griff Stiglitz ein weiteres viel diskutiertes Thema auf: den Wirtschaftsboom, den die USA in den neunziger Jahren erlebten. In Deutschland ist wenig bekannt, welche besondere Dynamik die amerikanische Volkswirtschaft in den Roaring Nineties entfaltete: Das Wirtschaftswachstum betrug durchschnittlich drei Prozent und lag damit doppelt so hoch wie hierzulande. Diese Entwicklung half, jährlich 2,7 Millionen neue Jobs zu schaffen. Der amerikanische Staatshaushalt, der in anderen Industriestaaten hohe Defizite auswies, produzierte Ende der neunziger Jahre mehrfach Überschüsse in dreistelliger Milliardenhöhe.
Stiglitz trat dem weit verbreiteten Eindruck entgegen, es handle sich bei den neunziger Jahren um ein wirtschaftlich überaus erfolgreiches Jahrzehnt. Die Clinton-Regierung (1993-2001) sei zwar mit dem Ziel angetreten, zwischen liberalen Vorstellungen der Republikanischen Partei und der stärker auf sozialen Ausgleich gerichteten Programmatik der eigenen Partei einen Dritten Weg zu finden. In der Realität habe sich die amerikanische Wirtschaftspolitik jedoch stärker an den republikanischen Zielen orientiert. Sie öffnete den Interessen der Wirtschaft Tür und Tor. Besonders stark sei der Einfluss des amerikanischen Finanzsektors gewesen. Dabei schöpfte der Nobelpreisträger auch bei diesem Thema aus eigenen wirtschaftspolitischen Erfahrungen. Als eines von drei Mitgliedern und Vorsitzender des Council of Economic Advisers stand er zwischen 1993 und 1997 Präsident Clinton als Ratgeber zur Seite.
Stiglitz sprach auch die sich häufenden Finanzskandale wie etwa beim siebtgrößten US-Unternehmen Enron an, die aufgrund unzureichender Regulierungsmaßnahmen verstärkt wurden. Er nannte die Spekulationsblase am Aktienmarkt, die von US-Zentralbankchef Allan Greenspan nicht eingedämmt wurde, obwohl ihm dazu ein besonders geeignetes Instrument (margin requirements) zur Verfügung stand. Die Themen, die Stiglitz ausführlich in seinem neuen Buch The Roaring Nineties der entzauberte Boom behandelt, dürften in Deutschland einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der amerikanische Gast sieht die Ursache für die hiesigen Wirtschaftsprobleme weniger in strukturellen Faktoren wie der starken Regulierung des Arbeitsmarktes, sondern vielmehr in der Geld- und Steuerpolitik, die sich ihrer Verantwortung für die Konjunkturbelebung weitgehend entzogen habe. In den USA finden die aktuellen Überlegungen von Stiglitz aufgrund des Präsidentschaftswahlkampfs besondere Beachtung. Durch die Rekorddefizite, die sich unter Präsident George W. Bush in den vergangenen Jahren aufgetürmt haben, wäre ein demokratischer Nachfolger in Hinblick auf die Staatsfinanzen mit einer ganz ähnlichen Ausgangslage konfrontiert wie Präsident Clinton, der bei seinem Amtsantritt hohe Haushaltsdefizite von seinen Vorgängern Bush Senior und Reagan übernahm. Nach Meinung von Stiglitz bestand einer der Fehler der Clinton-Regierung zu Beginn der neunziger Jahre in einem allzu schnellen Defizitabbau.
Die lebhaften Reaktionen von weit mehr als 300 Zuhörern zeigten, dass der amerikanische Nobelpreisträger mit seinen anschaulich und humorvoll präsentierten Thesen zumindest beim Dahlemer Publikum einiges Interesse für die wirtschaftspolitischen Kontroversen in den USA geweckt hat.
Welf Werner
Foto: Hertel