Wilhelm von Humboldt, als Denkmal Unter der Linden.
Die Unterredung mit (Destutt de) Tracy nicht sonderlich merkwürdig. Immer und ewig Kantische Metaphysik; vorzüglich Moral, worüber nun nach allem, was ich gesehen habe, schwerlich mehr etwas Neues zu bemerken ist, stöhnt Wilhelm von Humboldt am 13. Juli 1798 in seinem Pariser Tagebuch. Zuweilen bis zum Überdruss stellt sich Humboldt während seines Frankreichaufenthaltes (1797-1801) den Fragen zu Herder, Kant und Goethe und macht diese in wissenschaftlichen Gesellschaften und persönlichen Gesprächen in Frankreich bekannt. Aber wurde er jenseits der Vermittlerrolle auch selbst als Sprachwissenschaftler und Sprachphilosoph in Frankreich wahrgenommen?
Zugleich stellt sich die Frage, welchen Eindruck das Pariser Umfeld auf Humboldt machte, welche französischen Schriften er liest und reflektiert. Dass es einen lebenslangen Bezug Humboldts zu Paris gibt, ist bekannt. Welche Rolle aber spielt die französische Forschung für die Genese seiner Schriften?
Im Arbeitsbereich des Humboldt-Forschers und Romanisten Prof. Dr. Jürgen Trabant wurde im Oktober ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt eingerichtet, das sich zum Ziel gesetzt hat, die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem älteren der beiden Humboldt-Brüder und unseren französischen Nachbarn zu untersuchen. Obwohl der preußische Adelige, der sich nicht nur als Universitätsreformer und Staatstheoretiker, sondern auch als Sprachwissenschaftler einen Namen gemacht hat, schon zu Lebzeiten regen Kontakt zu französischen Geistesgrößen pflegte, sind sowohl seine Beschäftigung mit französischer Forschung (Teilbereich I: Markus Meßling) als auch die Rezeption seines Werks in Frankreich (Teilbereich II: Sarah Bösch) kaum untersucht worden.
1789 reist Humboldt zum ersten Mal nach Paris, wo er das revolutionäre Frankreich erlebt. Die Auseinandersetzung mit der Grande nation ist fortan von wichtiger Bedeutung für Humboldts politisches Denken, und es ist die kulturelle Neugier an der Gesellschaft des Nachbarn doutre-rhin, die ihn 1797 wieder nach Paris führt. Humboldt möchte nun anthropologische Studien treiben: Die Seine- Metropole ist für ihn der Ort, an dem sich die charakteristischen Züge seiner Zeit am besten zeigen, denn Humboldts Anthropologie, die er zuvor im Plan einer vergleichenden Anthropologie (1795) skizziert hatte, bezieht sich nicht auf exotische Völker, sondern auf die zivilisatorisch am weitesten entwickelten Teile der Menschheit. Denn erst in einer vielseitig entfalteten Kultur bildet sich für Humboldt wirklich der Charakter der Individualität aus. Humboldt liest daher zahlreiche philosophische, anthropologische und ästhetische Abhandlungen und zeichnet in seinen Tagebüchern seine Pariser Lektüren und Begegnungen auf. Physiognomische, sprachlich-kulturelle und wissenschaftliche Porträts und Skizzen entstehen dabei ebenso wie eine Schrift Über die gegenwärtige französische tragische Bühne, die im April 1800 in Goethes Propyläen erscheint. Im Gegensatz zum Baskenland, über das Humboldt 1801 eine erste Arbeit vorlegt, entsteht erstaunlicher Weise aber keine Studie über Frankreich, die dem Anspruch der Ganzheitlichkeit seiner Anthropologie entspräche. Dennoch sollte Frankreich von herausragender Bedeutung für seine eigenen Forschungen werden. Denn im Umfeld der 1799 gegründeten Société des observateurs de lhomme reift die Erkenntnis von der Bedeutung der Sprache für anthropologische Studien heran. Humboldt dürfte an diesem Denkprozess seinen Anteil gehabt haben. So formuliert auch er in dieser Zeit in einem Brief an seinen Lehrer Wolf vom 20. Dezember 1799 eine Anthropologie als Sprachwissenschaft.
Das Jahr 1820, in dem Humboldt seinen Abschied aus der Politik nimmt, markiert einen Neuanfang seiner Forschungstätigkeit. Die wissenschaftlichen Neuigkeiten aus Paris spielen hierfür eine entscheidende Rolle und richten Humboldts Blick nach Asien. So stehen in der Tegeler Zeit zwei große Begegnungen im Vordergrund: diejenige mit Champollions Entzifferung der Hieroglyphen und jene mit Abel-Rémusats Schriften zum Chinesischen. Dabei sind diese Begegnungen gute Beispiele dafür, dass kulturelle Rezeption (fast) nie eine einfache Übernahme ist, sondern Begriffe und Inhalte in eigenen Kontexten adaptiert und zu einem eigenständigen Neuen transformiert werden. So generiert Humboldts Arbeit am Ägyptischen und Chinesischen zugleich seine Schrifttheorie und formuliert seine Sprachtypologie aus.
Im Gegenzug wird Humboldt auf der anderen Rheinseite nicht mehr wie noch bis 1820 üblich als Kant- und Goethe-Experte oder preußischer Staatsmann wahrgenommen, sondern seiner neuen Tätigkeit entsprechend als Sprachwissenschaftler.
Fast jede seiner Akademiereden wird in ausgesuchten Kreisen der Pariser Wissenschaftselite, vor allem im Kontext der entstehenden Orient- und Ostasienwissenschaften, zur Kenntnis genommen und privat in Briefwechseln sowie öffentlich in verschiedenen Zeitschriften kritisch diskutiert. Darüber hinaus veröffentlicht Humboldt selbst mehrere französischsprachige Aufsätze im Journal asiatique, dem Publikationsorgan der Pariser Société asiatique, deren korrespondierendes Mitglied er seit 1824 Dank der Initiative seines in Paris weilenden Bruders Alexander ist. Der in verschiedenen Pariser Wissenschaftsinstitutionen umtriebige Naturforscher weiß die Nachfrage nach den Forschungsergebnissen seines älteren Bruders gezielt zu schüren und setzt sich kontinuierlich für deren Verbreitung ein: Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich hier gequält werde, Deine sprachlichen Akademieabhandlungen zu besorgen. Man bittet mich dauernd darum. Bitte, schicke mir die Exemplare, die Du übrig hast, besonders über die Bhagavad Gita (12.3.1827). Hier bestätigt sich aufs Neue die in der Kulturtransferforschung immer wieder herausgestellte konstitutive Bedeutung der einen Kultur- oder Wissensgegenstand vermittelnden Individuen am Beginn eines jeden Rezeptionsprozesses.
Mit Alexanders definitiver Übersiedlung nach Berlin und Wilhelms Tod 1835 kommt dieser fruchtbare deutsch-französische Wissenschafts-transfer, der maßgeblich von den beiden Humboldts getragen wurde, zum Erliegen.
Die Rezeption der humboldtschen Schriften präsentiert sich von diesem Zeitpunkt an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als diskontinuierlich und wird vornehmlich von zeitlich und/oder institutionell unabhängig agierenden Einzelpersonen getragen. Eindeutige Schwerpunkte liegen in der entstehenden Baskologie und der französischen Germanistik. Seit den 1970er Jahren ist eine steigende Nachfrage nach Humboldt in den französischen Wissenschaftsdiskursen zu verzeichnen, die in zahlreichen Übersetzungen und Einzelstudien ihren Niederschlag gefunden hat.
Den Kontexten, Bedingungen und Motiven dieser Humboldt-Renaissance wird das Projekt in zunächst zwei Jahren ebenso nachspüren, wie den inhaltlichen Transformationen, die Humboldts Ideen durch die Übertragung in einen anderen kulturellen Zusammenhang erfahren.
Es bleibt abzuwarten, ob uns wie dies bei der französischen Rezeption Nietzsches oder Heideggers zu beobachten war letztlich auch ein anderer Humboldt aus Frankreich entgegentritt und inwiefern sich dieser Humboldt français vom deutschen Humboldt unterscheidet.
Sarah Bösch und Markus Meßling
Foto: UNICOM