In Friedenau steht ein Geisterhaus

Ein leerstehender Gründerzeit-Altbau in Friedenau soll gerettet werden. Foto: Jasper Graeve

In Friedenau steht ein Geisterhaus

Im Schöneberger Stadtteil Friedenau verfällt ein wunderschöner Gründerzeit-Altbau. Ingrid Schipper, langjährige Bewohnerin des Kiezes, ist entsetzt und gründet eine Nachbarschaftsinitiative. Während sie mit allen Mitteln versucht das Haus zu retten, hat die Eigentümerin offenbar andere Interessen.

Von Jasper Graeve und Ann-Kathrin Rust

Zum ersten Mal treffen wir Ingrid Schipper in einem kleinen Cafe im Herzen Friedenaus.  Auf den ersten Blick wirkt die große, schlanke Frau mit den kurzen roten Haaren eher schüchtern. Nicht wie die Frontfrau der Nachbarschaftsinitiative Friedenau, die sich bereits durch ihre vielen Protestaktionen im Schöneberger Stadtteil einen Namen gemacht hat. Sie ist freundlich, aber zurückhaltend, vielleicht auch ein bisschen aufgeregt wegen des bevorstehenden Interviews und irgendwie auch misstrauisch, was sie von uns zu erwarten hat. Doch als die Kellnerin schließlich ihren Tee bringt, gießt sich Frau Schipper eine Tasse ein und beginnt ohne zu zögern zu erzählen.

Leerstand und Verfall in Zeiten des Wohnraummangels

Die pensionierte Lehrerin wohnt schon seit mehr als 30 Jahren im Berliner Stadtteil Friedenau. Sie kennt sich im Kiez aus, kann die besten Cafes und Einkaufsmöglichkeiten benennen und weiß, was im Bezirk vor sich geht. Sie spaziert gerne durch die grünen Straßen der gutbürgerlichen Gegend. Der besondere Charme von Friedenau liegt für Frau Schipper vor allem in der Nachbarschaftlichkeit seiner Bewohner und den schönen, charismatischen Altbauten, die seine Straßen erst so attraktiv machen. »Friedenau ist ein schöner Ort, um eine Familie großzuziehen«, sagt sie und auch ihre eigene Familie wohnt im Kiez. Für ihren neuen Lebensabschnitt nach ihrer Pensionierung hatte sich die lebensfrohe Rentnerin eigentlich vorgenommen als Au-pair durch die Welt zu reisen, doch die Geburt ihres zweiten Enkels hielt sie schließlich Zuhause bei ihrer Tochter und ihrer Familie. Dabei hätte sie nie gedacht, dass eine leerstehende Immobilie zu ihrem neuen Lebensprojekt werden würde.

Das prächtige Wohnhaus aus der Gründerzeit, das seit nunmehr 15 Jahren leer steht, kennen viele Leute in der Nachbarschaft. Inmitten der lebensfrohen, familiären Atmosphäre, die Friedenau ausstrahlt, wirkt das Haus deplaziert. Es ist dunkel und kalt, die Fensterscheiben sind zerbrochen, Türen und Wände mit Graffitis bemalt. Wenn die Menschen daran vorbeilaufen, bleiben viele von ihnen kurz stehen. Dann schauen sie mit verständnislosem Blick an der eigentlich schönen Fassade mit den Jugendstilornamenten hoch und scheinen sich zu fragen, was bloß passiert sein mag, dass hier niemand mehr wohnt. Um das Haus herum steht ein großer Bauzaun, doch es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass hier gearbeitet wird. Viel mehr wirkt der Zaun wie eine Mauer, die unerwünschte oder zu neugierige Nachbarn fernhalten soll. Es scheint fast so, als würde jemand absichtlich wollen, dass dieses schöne Haus verkommt.

Die Nachbarschaft will Antworten

Man könnte Frau Schipper als eine typische Friedenauer Bewohnerin beschreiben. Akademisch, familiär und umweltbewusst. Doch in ihrem Aktionismus und ihrem Tatendrang unterscheidet sich die 70-Jährige von den anderen Bewohnern, die immer nur kopfschüttelnd an dem alten Haus vorbeigehen. Ingrid Schipper will nun endlich die Antworten auf die Fragen, die sich schon so viele Bewohner im Kiez gestellt haben. Als sie im Internet auf das Start-Up-Portal nebenan.de stößt, gründet sie kurzerhand eine Nachbarschaftsgruppe für Friedenau, aus der später die Initiative zur Rettung des leerstehenden Hauses wird. Überrascht von dem Anklang in der Nachbarschaft, organisiert Frau Schipper schließlich ein Treffen in einem Friedenauer Restaurant, bei dem sie sich mit anderen engagierten Nachbarn zu ihrem Anliegen austauschen will. Es sind vorwiegend Damen in Frau Schippers Alter, denen der Leerstand ebenfalls schon lange ein Dorn im Auge ist. An diesem Abend wird viel spekuliert, denn die genauen Gründe für die Situation des Hauses sind nach wie vor niemandem bekannt. Doch motiviert durch das große Interesse und angespornt von der neuen Gruppendynamik, entschließen sich die Frauen das tote Haus wieder in seine belebte Umgebung zurückzuholen und Frau Schipper, als neuer Kopf der Initiative, beginnt zu recherchieren.

Waltraud G. und ihr sterbendes Haus

Wahrscheinlich weiß in Friedenau mittlerweile niemand so viel über die Eigentümerin des leerstehenden Hauses, Waltraud G., wie Ingrid Schipper, auch wenn sich die beiden Frauen nie wirklich kennengelernt haben. Das Vorgehen Frau Schippers ähnelt teilweise dem einer Journalistin oder gar einer Detektivin. Indem sie sich ein Netzwerk vor Ort aufbaut und Einblicke in die Grundbücher verschafft, erfährt sie erstaunlich viel über die laut eigener Aussage kontaktscheue, ältere Dame.

So findet sie heraus, dass Waltraud G. das Haus in der Odenwald-/Stubenrauchstraße 1973 zusammen mit ihrer Mutter gekauft hat, nachdem ihr Vater verstorben war und seiner Frau und seiner Tochter ein gewisses Vermögen hinterlassen hatte. Zudem ist Frau G. im Besitz zweier weiterer Wohnhäuser, welche sich in einem ähnlichen, teilweise sogar noch kritischerem Zustand befinden. Schon relativ früh nach dem Verkauf sollen die Probleme in der Odenwaldstraße begonnen haben, da sich die neuen Eigentümerinnen wenig um das Haus kümmerten, auf Anfragen nicht reagierten und Waltraud G. durch ihr wechselhaftes, teils aufbrausendes Verhalten auffällig wurde. Schließlich kam es zu keinen Neuvermietungen mehr und das Haus wurde zunehmend leer gemietet, auch wenn die Eigentümerin vorerst selbst im Haus wohnen blieb.

Seit vielen Jahren steht das Haus in der Odenwaldstraße nun leer und wird dem Verfall überlassen. In den Jahren 2005/06 sollte das Haus bereits zwangsversteigert werden, jedoch konnte Waltraud G. die Gläubiger durch Bezahlung im letzten Moment davon abhalten. In der Odenwaldstraße fällt mittlerweile der Putz von der Fassade, viele Fenster sind offen oder ohne Scheiben und gewähren so Laub und Feuchtigkeit Eintritt. Das Dach ist eingebrochen und im Keller wurden nicht genehmigte, von der Bauaufsicht als  äußerst fragwürdig bewertete Baumaßnahmen vollzogen. Aus dem einst prachtvollen Gründerzeithaus wurde ein zur Schau gestellter, langsam dahin siechender Organismus, dessen Wunden für die Nachbarschaft immer klaffender erscheinen.

Die Fassade des leerstehenden Wohnhauses. Foto: Jasper Graeve

Ingrid Schipper will handeln

Mittlerweile bekommt die Initiative mehr und mehr Zuwachs. Unter ihnen sind Grafiker, Architekten, sogar eine Politikerin. In den kreativen Köpfen von Frau Schipper und ihren Anhängern wächst die Idee von einem »Leuchtturmprojekt« für Friedenau.

Das leerstehende Haus soll in ein Wohnbauprojekt verwandelt werden, welches das Lebensgefühl und freundliche Miteinander im Kiez widerspiegeln soll. Vorrangig soll das große Eckhaus mit den 16 Wohnparteien natürlich als Zuhause für Familien genutzt werden. Für die großen Ladenflächen im Erdgeschoss würde sich die Initiative dazu eine Kita für die Kleinen und eine Fahrradwerkstatt wünschen. Das Dachgeschoss könnte man zu einer großen Terrasse mit Dachbegrünung ausbauen.

Im ersten Schritt zur Verwirklichung ihres Projekts nimmt Frau Schipper schließlich den Kontakt zur Eigentümerin auf. Sie schreibt ihr eine Postkarte, in der sie das Interesse der Friedenauer Nachbarschaft an der Instandsetzung des Wohnhause bekundet, legte ihr sogar Blumen vor die Haustür und versuchte sie telefonisch zu erreichen. In dem Telefonat wird schnell klar, dass Frau G. keineswegs daran interessiert ist das Haus zu verkaufen. Sanieren möchte sie es anscheinend aber auch nicht. Von oben herab erklärt sie der Leiterin der Initiative, dass sie wisse, dass das Haus sehr begehrt sei, es jedoch zu familiären Zwecken nutzen würde. Alle weiteren Kontaktversuche werden vorsätzlich von der Eigentümerin abgeblockt. Frau Schipper geht davon aus, dass die Familie, von der Frau G. spricht, so gar nicht existiere, sondern Waltraud G. eine einsam lebende, irrational und destruktiv handelnde Frau sei und möglicherweise psychische Ursachen hinter ihrem Handeln stecken müssen.

Die pensionierte Lehrerin denkt jedoch nicht daran aufzugeben. Wenn es Frau G. offensichtlich egal ist, was mit dem Haus passiert, dann sollte es sie auch nicht stören, wenn jemand dort wohnen möchte, denkt sie sich und mietet sich kurzerhand selbst in das verfallene Haus ein. Mit der Hoffnung auf einen Mietvertrag, überweist Ingrid Schipper der Eigentümerin 100 Euro auf das frühere Mieterkonto und teilt ihr mit, dass sie eine der Wohnungen im Haus mieten möchte. Sollte die Eigentümerin dem nicht widersprechen, würde gesetzlich nach einer Frist von drei Monaten eine sogenannte “stillschweigende Übereinkunft” eintreten und ein offizielles Mietverhältnis zustande kommen. Doch Waltraud G. überweist ihrer ungeliebten Mieterin das Geld sofort zurück und beschwert sich über diese, in ihren Augen, unverschämte Anmaßung Frau Schippers.

Eigentum verpflichtet, aber der Schutz des Eigentums geht vor

Unterstützt durch eine Politikerin aus den eigenen Reihen, entschließt sich die Initiative schlussendlich die Bezirksverwaltung auf den Fall anzusprechen. »Eigentum verpflichtet«, heißt es schließlich und wenn die Eigentümerin nicht verkaufen will und das Haus absichtlich verwahrlosen lässt, müsste es doch die Möglichkeit der Zwangsenteignung geben. Nach einigen Gesprächen und Telefonaten wird jedoch klar, dass der Senat außer der Verhängung von Bußgeldern nichts ausrichten kann. Aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage ist eine Zwangsenteignung nicht möglich, da das Haus hierfür in einem bewohnbaren Zustand sein müsste. Der Schutz des Eigentums steht scheinbar über der Pflicht, sich um sein Eigentum zu kümmern. Wie Paradox, findet auch die Initiative.

In einem nächsten Schritt wendet sich Ingrid Schipper daher an die Presse. Durch die mediale Aufmerksamkeit erhofft sie sich nicht nur mehr Interesse für ihr Anliegen, sondern auch eine Gesetzesänderung, die es dem Bezirk oder der Nachbarschaftsinitiative möglich machen würde, das Haus zu ersteigern. Denn selbst wenn eine Zwangsenteignung ermöglicht werden könnte, hätte der Bezirk kein Vorkaufsrecht und die kleine Initiative trotz Fundraising keine Chance sich gegen große Investoren zu behaupten. Dann würde höchstwahrscheinlich aus dem Leuchtturmprojekt ein Bürogebäude oder Luxusappartements werden. Eine Vorstellung, die für die Initiative und Frau Schipper fast noch schlimmer wäre, als der weitergehende Leerstand.

Der Bezirk greift ein

Aktuell steht die Bauaufsicht des Bezirksamts Tempelhof-Schöneberg im engen Kontakt zu Waltraud G. und versucht sie zu den erforderlichen Baumaßnahmen zu bewegen. Die in der Vergangenheit verhängten Bußgelder soll sie dennoch nur teilweise gezahlt haben. Bezirksstadtrat Jörn Oltmann hofft auf eine Übereinkunft mit der Eigentümerin, ansonsten müsste die Bauaufsicht einschreiten und Zwangsmittel androhen. »Ich bitte aber zu bedenken, dass in einem solchen Falle der personelle und organisatorische Aufwand sowie das Kostenrisiko für die Allgemeinheit beträchtlich sind«, betont Oltmann.

Während die Senatsverordnung derzeit an einer Gesetzesänderung für das Zweckentfremdungsverbot-Gesetz arbeitet – die Novellierung des Gesetzes wird für April 2018 erwartet – lebt sich die Initiative kreativ aus. Sie dekorieren den Bauzaun vor dem Haus, schmücken ihn mit Plakaten und kreativen Sprüchen. Sogar im Haus sieht man wundersamerweise immer wieder kleine Veränderungen, wie beispielsweise an Halloween, als kleine Lichter und Figuren aus den zerbrochenen Fenstern der Odenwaldstraße 1 schauten. Während des Sommers wurden die Friedenauer jeden Samstag zu „Stand-ins“ aufgerufen, bei denen sich die Initiative vor dem Haus versammelt und protestiert hat. Zusätzlich wurden Unterschriften von Bewohnern aus der Nachbarschaft gesammelt. Für Frau Schipper ist es wichtig den Protest kreativ zu gestalten. Gerade wegen der vielen Rückschläge, welche die Gruppe bisher hinnehmen musste, ist es ihr wichtig nicht den Spaß an den Aktionen zu verlieren und ihre Mitstreiter weiterhin motivieren zu können.

Kritik aus der Nachbarschaft und eine ungewisse Zukunft für die Initiative

Obgleich die Nachbarschaftsinitiative viel Zustimmungen in Friedenau findet, ist sich Ingrid Schipper wohl bewusst, dass einige Bewohner des Stadtteils weniger begeistert von ihrem Herzensprojekt sind. Während viele Bewohner des Kiezes von dem nachbarschaftlichen Engagement beeindruckt sind und hoffen, dass das Wohnhaus irgendwann einmal wieder bewohnbar wird, grenzt für andere die schier unerschöpfliche Hartnäckigkeit, die die Mitglieder der Initiative gepackt hat, an Fanatismus. Die Tatsache, dass Waltraud G. immer wieder vor Ort beobachtet wird und von ihrer Anwesenheit sofort jeder im Netzwerk Bescheid weiß, erscheint für manch einen eher wie Stalking, als bloßes nachbarschaftliches Engagement. So erzählt Frau Schipper, wie einmal ein Nachbar während eines Stand-Ins auf sie zugekommen sei und sie aufgefordert habe, die arme Frau G. doch endlich mal in Ruhe zu lassen.

Es ist wohl dieses, für die Öffentlichkeit völlig irrational wirkende Verhalten der Eigentümerin, welches diesen Fall so besonders macht. Warum verkauft eine Waltraud G. ihr heiß begehrtes Wohnhaus nicht einfach, entgeht damit dem Wahnsinn der Behörden, den Bußgeldern und der ambitionierten Nachbarschaftsinitiative und erhält dafür sogar noch hohe Summen an Geld? Man würde davon ausgehen, dass sie angesichts der Familiengeschichte einen starken persönlichen Bezug zu diesen Häusern haben muss. Aber warum lässt sie diese Häuser dann hoffnungslos verrotten? Es wirkt wie ein tragisches, verzweifeltes und destruktives Verhältnis, welches die Eigentümerin zu ihren Häusern pflegt. Gleichzeitig scheint jedoch auch das Verhalten Frau Schippers teilweise etwas fragwürdig. Während ihr Engagement durchaus bemerkenswert ist, scheint die Methodik, mit der sie und die Initiative vorgehen, nicht immer klar durchdacht. Die Grenzen zwischen nachbarschaftlichem Engagement und den teils penetranten Versuchen Waltraud G. mürbe zu machen, verschwimmen zunehmend. Ob dieses Vorgehen letzten Endes dazu führt das Haus zu retten, bleibt offen. Fest steht jedoch, dass es eine Schande wäre, dieses schöne Haus sich selbst zu überlassen. Es bleibt weiterhin abzuwarten, ob die gesetzlichen Weichen für eine Zwangsenteignung gestellt werden können oder ob Waltraud G. eines Tages doch bereit sein sollte auf die Friedenauer Bewohner zu zu gehen. Für Frau Schipper steht fest, dass dieser Kampf noch nicht verloren ist. Ihr sei bewusst gewesen, dass es ein jahrelanges Projekt wird. Sie, als pensionierte Lehrerin, sei ohnehin schwer zu frustrieren.


Jasper Graeve studiert im 3. Semester Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Neben ersten journalistischen Erfahrungen hat er viele praktische Erfahrungen im Filmbereich gesammelt.


Ann-Kathrin Rust studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Nordamerikastudien und Deutsche Philologie an der FU Berlin. Aktuell ist sie im 5. Semester und plant in diesem Jahr ein Auslandspraktikum zu absolvieren, bevor sie ihre Bachelorarbeit scheibt.