Kreuzberger Oberschulen auf dem Weg zum Erfolg: Integrationsangebote fruchten

Kreuzberger Oberschulen auf dem Weg zum Erfolg: Integrationsangebote fruchten

Im Berliner Bezirk Kreuzberg leben mehr als 150.000 Menschen aus mehr als 180 unterschiedlichen Nationalitäten zusammen, weshalb bestimmte Voraussetzungen wie Toleranz und Integration aus dem Alltag nicht wegzudenken sind. Durch die kulturelle und sprachliche Vielfalt ergeben sich aber auch unterschiedliche Herausforderungen für das Lernen an Kreuzberger Oberschulen. Der Umgang damit erfolgt kreativ – die Lösung heißt konzeptionelle Integration. Wir haben mit Schülern und Lehrern der Hermann-Hesse-Schule und der Robert-Koch-Schule über ihre Erfahrungen damit gesprochen.

Von Laura Dittmann, Nadezhda Kurteva und Sude Yildiz

Da war ich der einzige Türke in der Klasse. […] Und meine Noten haben sich drastisch verschlechtert und dann kam ja in der 10. Klasse das MSA […], sodass wir gesagt haben, keine Zeit mehr für Experimente. So bin ich wieder auf die Hermann-Hesse-Schule gewechselt.

Nach der Grundschule wechselt Yusuf A.* auf das Hermann-Hesse-Gymnasium in Kreuzberg, deren Schülerschaft zu 74,4% aus Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund besteht. Nach anfänglicher Unzufriedenheit über die Beschaffenheit der fast nur türkischstämmigen Schülerschaft in seiner Klasse beschließt er, die Schule zu verlassen. Er entscheidet sich für das Walther-Rathenau-Gymnasium im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Im Jahr 2012 weist diese Schule einen 23,6 prozentigen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund auf. Zwei Jahre verbringt Yusuf auf der Schule bis die Entscheidung folgt, doch wieder an die Hermann-Hesse-Schule zu wechseln. Im Interview ist Yusuf der Meinung, dass es nicht „einfacher“ sei auf dieser oder jener Schule gute Noten zu schreiben. Er betont aber, dass die Hermann-Hesse-Schule auf die Bedürfnisse der divergenten Schülerschaft in besonderer Weise eingehe. Seine Noten haben sich dort wieder verbessert.

Yusuf A. ist mit seiner Schulwechselgeschichte nicht alleine. Auf Oberschulen mit einem geringen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und wenig bis keinen Integrationsangeboten fühlen sich Schüler wie er schnell unwohl. Sprachliche Barrieren gekoppelt mit der Tatsache, aus einer nicht akademischen Familie zu kommen, erschweren die Ankunft auf dem Gymnasium. Ähnlich sehen es zwei weitere Schülerinnen, die später an die Hermann-Hesse-Schule gewechselt sind. In Bezug auf die Abiturprüfungen sehen sie zwischen den Schulen keinen Bildungsunterschied.

Die Unterrichtsmaterialien sind dieselben, da die Abiturprüfungen zentral sind und deshalb kann man diesem Unterrichtsstoff nicht entgehen. Deshalb denke ich, dass das Bildungsniveau recht einheitlich ist, jedoch wird man auf der Hermann-Hesse-Schule motiviert und unterstützt. Die Schüler werden mit dem ganzen Schulstoff nicht alleine gelassen.

Kreuzberg: Bezirk der Vielfalt, der Herausforderungen und der innovativen Problemlösungen

Kreuzberg: Kiez der Kulturen

Berlin Kreuzberg- ein Bezirk der innerhalb, aber auch weit über die Grenzen der Hauptstadt hinaus bekannt ist für sein junges, buntes Äußeres, seine einzigartige Szene und seine Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen. Kreuzberg ist auch der Bezirk in Berlin, in dem wohl die meisten Menschen unterschiedlichster Kulturen zusammenleben. Mit 184 verschiedenen Nationalitäten und einem Migrationsanteil von fast 25 Prozent lässt sich das ohne Zweifel feststellen. Dies drückt sich vor allem in dem hohen Angebot an kulinarischen Verführungen aus allen Ländern der Welt, an den vielen Sprachen, die man hört, wenn man durch Kreuzberg schlendert, aber auch am hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Kreuzberger Schulen aus.

Für viele Kreuzberger Kids ist das Aufwachsen in dem Berliner Bezirk mit der größten kulturellen Vielfalt nicht immer leicht. Oft gibt es neben sprachlichen Barrieren, die das Lernen erschweren, auch Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung, die sich zusätzlich negativ auf den Schulalltag der Kinder und Jugendlichen auswirken. Kommt irgendwann auch noch das Abitur in Sicht, ist es für viele Schüler mit Migrationshintergrund oft schwer, mit jenen mitzuhalten, die aus akademischen Haushalten kommen. Zusätzlich wird mit Hinblick auf die zentralisierte Prüfung oft das Tempo der Stoffvermittlung angezogen und es bleibt kein Raum für individuelle Förderung. Dies hat nicht nur negative Auswirkungen auf die schulischen Leistungen, sondern auch das Selbstbewusstsein leidet und der Prozess der Identitätsbildung wird negativ beeinflusst. Was also kann man tun, um Chancengleichheit zu gewährleisten und allen die Möglichkeit auf eine produktive, positive Schulzeit zu gewähren? Leider gibt es dafür kein Patentrezept, sondern hier ist es die Verantwortung der Schulen, zu erkennen, dass sich durch den hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund auch spezifische Herausforderungen für den Schulalltag ergeben, die es durch besondere Integrationskonzepte zu bewältigen gilt.

Die Carl-von-Ossietzky-Schule und das Robert-Koch-Gymnasium zählen mit einem Migrationsanteil von ca. 50 und 82 Prozent zu den Schulen in Kreuzberg, die sich genau diesen Herausforderungen entgegengestellt sehen. Die beiden Schulen versuchen durch besondere, der vielfältigen Schülerschaft angepasste Konzepte des Lernens und des Miteinanders, allen Schülern einen produktiven Schulalltag zu ermöglichen, individuelle Identitätsbildung zu unterstützen und die interkulturelle Kompetenz der Schüler zu stärken.

Die größten Herausforderungen: kulturelle Unterschiede und mangelnde Sprachkompetenzen

In diesen Schulen lernen ganz normale Kinder – sie brauchen Unterstützung, gute Beziehungen mit den Mitschülern, sowie Motivation, um ihre Kenntnisse zu zeigen und gute Leistungen zu erbringen. Bis zu einem gewissen Grad sind sie aber auch unterschiedlich.

Sie haben kulturelle Unterschiede. Sie kennen zwar die deutsche Kultur, aber haben doch ein divergentes Selbst- und Weltbild. Sie haben ein religiöses Weltbild und wir versuchen so gut wie es geht, sie zu öffnen. Aber wir nehmen sie auch so, wie sie sind.

Das erzählt Hülya Savvidis, Lehrerin am Robert-Koch-Gymnasium. Sie selbst hat türkische Wurzeln. Mit ruhiger Stimme tritt sie freundlich und selbstbewusst auf und wirkt sehr pragmatisch, zielstrebig und aufgeschlossen. Das Gespräch mit ihr findet während der Unterrichtspause im Musikraum statt. Vor der Tür warten schon die Schülerinnen und Schüler auf die nächste Stunde.

“Von deutschen Schulen, das heißt, wo die meisten Schüler deutscher Herkunft sind, unterscheiden wir uns mit Sicherheit. Wir versuchen die Defizite auszugleichen”, erklärt die Lehrerin weiter. Die Schülerschaft des Robert-Koch-Gymnasiums bestehe vor allem aus Schülerinnen und Schülern mit türkischem, arabischem oder kroatischem Migrationshintergrund. Fast alle von ihnen sind in Deutschland geboren, fühlen sich aber in die deutsche Gesellschaft meistens nicht richtig integriert. In der Familie und unter Freunden sprechen die Schüler vor allem die Muttersprache und benutzen selten deutsche Medien. Daraus resultieren kulturelle und sprachliche Defizite.

Integrationskonzepte sind Pflicht für die Weiterentwicklung der Schüler mit Migrationshintergrund

Diesen Herausforderungen könne man vor allem durch auf die Schülerschaft angepasste Integrationsangebote begegnen. So ist es Aufgabe der Schule und der Lehrer spezifische Konzepte zu entwickeln, um die Schüler zum Lernen zu motivieren. Entsprechende Konzepte sind eine essentielle Voraussetzung für die Weiterentwicklung und Identitätsbildung der Kinder und Jugendlichen.

Integrationsangebote bestehen am Robert-Koch-Gymnasium aus dem Türkischunterricht und der Teilnahme an der Initiative “Migranten werden Lehrer”. Die türkische Sprache wird sowohl als Grund-, als auch als Leistungskurs angeboten. Der Leistungskurs, den nur zwei Schulen in Berlin anbieten, gibt den Oberstufen-Schülern die Möglichkeit, Türkisch als Prüfungsfach im Abitur zu belegen. Worin liegen hier die Vorteile? Zum einen beweisen viele Studien, dass das sichere Beherrschen einer Sprache das Selbstbewusstsein fördert und darüber hinaus die kognitive Leistung positiv beeinflusst. Zum anderen erweitern sich durch die Besserung der Muttersprache die Sprachkompetenzen und es wird ein Sprachvermögen entwickelt, welches dem Schüler das Erlernen von Fremdsprachen angenehmer und leichter macht. Hierzu sei es aber auch wichtig, dass die Schüler im Türkischunterricht ihre Geschichte und ihre Kultur aus neutralen Quellen kennen lernen und folglich hinterfragen können. Auf diese Weise bilden sie sich eine eigene Meinung und fallen “nicht irgendwelchen Tendenzen politischen oder religiösen zum Opfer”, erklärt Frau Savvidis.

Ein weiterer Aspekt des integrativen Konzepts des Robert-Koch-Gymnasiums ist die Initiative “Migranten werden Lehrer”. Ursprünglich wurde die Initiative von Lehrern und teilweise von Lehramtstudenten ins Leben gerufen und hat zum Ziel, Schülern mit Zuwanderungsgeschichte das Konzept des Studiums sichtbar und zugänglich zu machen. Beteiligte Universitäten sind die Humboldt-Universität und die Freie Universität Berlin. In der ersten Phase des Programms kommen Mentoren aus den Universitäten in die Schule und kontaktieren die Schüler, welche sich für den Lehrerberuf interessieren. Die Schüler hospitieren dann für vier Tage an Berliner Schulen und erhalten auf diese Weise praxisnahe Einblicke in das Studium, in den Beruf und in die zahlreichen Karrieremöglichkeiten. Schließlich werden sie von den Mentoren im Prozess der Studienwahl und – vorbereitung unterstützt und begleitet. Die Unterstützung durch das Robert-Koch-Gymnasium hört für die Schüler mit dem Abitur nicht auf. Während des Studiums wird diesen Schülern die Möglichkeit eines Praktikums an der eigenen Schule geboten.

Das Programm “Migranten werden Lehrer” zeigt auf diese Weise Vorbilder und Erfolgsgeschichten, die auch weitere Schüler für ein Studium begeistern können. Dadurch versucht die Schule auch das strukturelle Problem, dass an Schulen mit einem hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund vor allem deutsche Lehrer unterrichten, zu lösen. Es bedient auch die höhere Nachfrage von Lehrkräften mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Zum einen wird dadurch die Vielfalt nicht nur auf der Schülerebene gewährleistet, sondern auch innerhalb der Lehrerschaft. Zum anderen können jene Lehrerinnen und Lehrer auch auf Basis ähnlicher kultureller Hintergründe als Anlaufstelle für diejenigen Schüler mit Migrationshintergrund dienen, die Kommunikationsschwierigkeiten haben.

Die Carl-von-Ossietzky Schule gibt Integration noch ein anderes Gesicht

Auch die Carl-von-Ossietzky-Schule in Kreuzberg leistet wie das Robert-Koch-Gymnasium einen Beitrag zur Integration. Hier ist in das reguläre Gymnasium ein Schulzweig der Staatlichen Europa-Schule Berlin (SESB) integriert, der es den Schülern ermöglicht ihr Abitur zweisprachig zu absolvieren. Im Falle der Carl-von-Ossietzky-Schule ist diese zweite Partnersprache Türkisch. Die Schülerschaft der Carl-von-Ossietzky-Schule zeichnet sich, wie bei vielen Schulen in Berlin und vor allem in Kreuzberg, durch einen hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund aus. Der Schulzweig der SESB besteht dann paritätisch zu je 50 Prozent aus deutschen und türkischen Muttersprachlern, die jeweils ein Fach aus dem Grundkursbereich und dem Leistungskursbereich in Türkisch belegen. Der Unterricht findet zu 50 Prozent in Türkisch statt und auch das Abitur muss zweisprachig abgelegt werden. Die Lehrerinnen und Lehrer berücksichtigen im Unterricht zusätzlich die Lehrpläne der Partnerländer, sodass die Schüler hier einen Einblick in den schulischen Alltag des Partnerlandes gewinnen. Nun bleibt jedoch die Frage nach dem Mehrwert dieses Konzeptes offen. Letzten Endes steht auf dem Abiturzeugnis der Schüler der SESB das Gleiche, wie bei jedem anderen Schüler in Deutschland.

SESB: für mehr interkulturelle Kompetenz und eine gestärkte europäische Identität

Zum einen soll das Konzept die interkulturelle Kompetenz der Schüler fördern, indem es ihnen einen differenzierten Einblick in die Kultur des Partnerlandes bietet. Die europäische Identität wird gestärkt und die Schüler lernen Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Kulturen. Dies wird auch durch ein hohes Maß an Projektarbeiten zu europäischen, interkulturellen oder Türkei bezogenen Themen gewährleistet. Neben der persönlichen und sozialen Entwicklung gibt es aber auch rein formale Mehrwerte, die für die Schüler der SESB Vorteile für ihren Berufseinstieg in eine globalisierte Welt bedeuten. Schließlich erhalten sie am Ende ihrer Schullaufbahn mit dem Abitur und auch nach Bestehen jedes Jahres ein Zertifikat, welches die Zweisprachigkeit und das erreichte Sprachniveau nach Europäischem Referenzrahmen bescheinigt.

Auf ideeller Ebene gibt es an dem zweisprachigen Konzept erstmal nichts auszusetzen. Es bestehen aber Zweifel, dass sich aus der Berücksichtigung der Lehrpläne der Partnerländer keine Nachteile für die Vermittlung des deutschen Abiturstoffes ergeben. Wie sieht es mit dem Erfolg der SESB in Bezug auf geltende Bildungsmaßstäbe aus?

Schüler der SESB schneiden besser ab als Schüler ohne bilinguale Kompetenz

In Rahmen einer Studie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) wird der Erfolg des bilingualen Konzepts der Staatlichen Europa Schule Berlin evaluiert. Laut CAU soll die Studie, die im Jahre 2014 begann, sprachliche, fachliche und interkulturelle Kompetenzen der bilingual unterrichteten Schülerinnen und Schüler mit konventionell unterrichtenden Schulen vergleichen. Die Studie überprüft auch die Umsetzung des SESB-Konzepts in Bezug auf einen effektiven Einsatz der Lehrkräfte. Die Ergebnisse sind erstaunlich: In allen untersuchten Disziplinen schneiden die Schülerinnen und Schüler der SESB besser ab als diejenigen, deren Schulen kein bilinguales Konzept anbieten. Das Konzept der Carl-von-Ossietzky-Schule leistet so einen wichtigen und vor allem praktischen Beitrag zur Integration, indem es Schülern, deren Muttersprache primär nicht Deutsch ist, die Möglichkeit gibt, das Abitur zu erwerben. Und zwar nicht mit Ach und Krach, schlechten Noten und abgekauten Fingernägeln sondern mit mehr interkultureller Kompetenz, dem Vorteil der Zweisprachigkeit und einem gestärkten Selbstbewusstsein.

„Ich bereue [es] nicht.“

Welches Integrationsangebot in den Schulen umgesetzt wird, hängt individuell von der Beschaffenheit der Schülerschaft ab. Die Ergebnisse sind in allen Fällen positiv, weil das Wohlfühlen der Schüler zur guten Leistung beiträgt.

„Ich muss sagen, dass ich es nicht bereue, gewechselt zu haben. Ich denke, ich habe einen rechtzeitigen Wechsel gemacht, sodass ich nicht viel verloren habe“, erzählt Yusuf A. nach kurzem Überlegen. Er habe unterschiedliche Erfahrungen gesammelt und sei nun froh darüber, sein Abitur erfolgreich an der Hermann-Hesse-Schule, einer Schule die den Schülerinnen und Schülern zuhöre und auf deren Bedürfnisse eingehe, absolviert zu haben.

*Name wurde von den Verfasserinnen geändert


Laura Dittmann studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft im 5. Semester an der Freien Universität Berlin.


Nadezhda Kurteva studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft im 5. Semester an der Freien Universität Berlin.


Sude Yildiz studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft im 5. Semester an der Freien Universität Berlin.


2017-08-08T13:55:14+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen, Wissen + Wirken|Tags: , , , , , , |