Die Kirche der Zukunft in Berlin

Die Kirche der Zukunft in Berlin

Vorbeisein werden die Zeiten, als die Protestanten in die eine Kirche gingen und die Katholiken in die andere. So jedenfalls sieht Stephan Mark Kienberger die Zukunft des Christentums. Der Pfarrer arbeitet in der American Church in Berlin-Schöneberg. Bei seinen Gottesdiensten trifft sich jeden Sonntag die Welt en miniature. Norweger sitzen neben Namibiern, Kalifornier neben Kreuzbergern, Liberale treffen Konservative. Alle gehören verschiedenen Konfessionen an, aber sie beten gemeinsam. Und so findet Kienberger: Die Zukunft der Kirche ist hier in Schöneberg schon längst in der Gegenwart angekommen.

Von Erin Hastey

An jedem Sonntag um 10.45 Uhr läuten die Glocken der Lutherkirche in Berlin-Schöneberg. Obwohl es auch deutsche Gottesdienst-Besucher gibt, ist hier selten Deutsch zu hören. Aus 30 verschiedenen Ländern kommen Menschen in die American Church in Berlin: Es ist ein Treffpunkt für alle Christen, die Englisch sprechen.

Unterschiedliche Altersgruppen, Kleidung und Konfessionen bringen eine große Vielfalt in den Raum. Ein Jugendlicher, der einen Kapuzenpulli und Jeans trägt, sitzt hinter einer Frau mit traditioneller südafrikanischer Tracht. Er kämpft darum, an ihrem großen, glänzenden, goldenen Hut vorbeizusehen.

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Beim Gottesdienst (Foto: E. Hastey)

Die Gemeinde selbst ist ökumenisch, aber die Gottesdienste basieren auf der Liturgie der evangelisch-lutherischen Kirche in den USA. Das heißt, die traditionelle Liturgie, Kirchenlieder und das Abendmahl gehören zu jedem Sonntagvormittag dazu.

Ehrwürdige Orgelmusik summt leise vor sich hin. Auf der Agende steht das Vaterunser auf Englisch und, diese Woche, auch auf Portugiesisch. Zu Beginn des Gottesdienstes können sich die Besucher vorstellen. Heute wird die Gemeinde von Leuten aus Norwegen, Kalifornien, Namibia, und Kreuzberg besucht.

Pfarrer Stephan Mark Kienberger spricht an diesem Sonntag über den Galaterbrief: „Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Christus seid ihr alle eins.“ Kienberger erwähnt auch die Ich bin ein Berliner-Rede von US-Präsident John F. Kennedy von 1963, mit der dieser den West-Berlinern Solidarität im Kalten Krieg zusicherte. „Mit diesen Worten hat Kennedy die vereinende Macht einer gemeinsamen Sache gezeigt. Genauso bringt der Einsatz für Freiheit uns Christen zusammen.“

Kienberger, ein Mann mittleren Alters, ist kein Fremder im internationalen Pfarramt. Er betreut die American Church in Berlin seit 2010. Vorher arbeitete er als Pfarrer in den USA, der Karibik, Norwegen und an anderen Orten in Deutschland. Sein Haar ist grau, aber sein Lächeln und seine blauen Augen strotzen vor Energie. Er ist stolz auf seine Gemeindemitglieder: „Multikulturelle, ethnisch durchmischte Kirchengemeinden sind die Kirche der Zukunft in den USA.“

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Lutherkirche Schöneberg (Foto: E. Hastey)

Pfarrer Kienberger glaubt, dass sie hier in Berlin weiter sind als im Mutterland der amerikanisch-evangelisch-lutherischen Kirche: Zum Beweis zitiert er aus einem Artikel der Zeitschrift Yale Theological Review, der sich mit der Zukunft der Kirchen beschäftigt. „Die Christen der Zukunft suchen kein konfessionell getrenntes Kirchenleben. Und dieser Artikel fragt, wie die Kirchen der Zukunft aussehen werden. Wir sind hier in Berlin da schon angekommen. Die Kirche der Zukunft ist die Kirche, die wir jetzt haben.“

Aber diese Vielfalt bedeutet auch eine große Herausforderung, zum Beispiel die unterschiedlichen politischen Haltungen der Gemeindemitglieder. Konservative kritisierten die Kirche als zu liberal und für Liberale sei sie wahrscheinlich nicht liberal genug, so Kienberger.

Ein deutsches Mitglied sagte, dass die American Church in Berlin das Beste vom liberalen Protestantismus sei. Kienberger lächelt und scherzt: „Das klingt wie ein Schimpfwort für die Konservativen.“

Einerseits sind die politischen Unterschiede Teil des Gemeindelebens, andererseits ziehen die Mitglieder bei sozialen Einsätzen an einem Strang. So unterstützt die American Church die Arbeit der Berliner Tafel, die dafür sorgt, dass übrig gebliebene Lebensmittel aus Geschäften und Gastronomie eingesammelt und an Bedürftige verteilt werden. Mit dem Learning-Café bietet die Kirche auch einen Ort zum Deutsch- und Englischlernen an, die Lehrer arbeiten ehrenamtlich.

Dieser Einsatz für den sozialen Dienst eint die Gemeinde. Obwohl die Mitglieder aus vielen verschiedenen Ländern kommen und sie auf unterschiedliche Arten Christen sind, leben sie ihre Religion leidenschaftlich und engagieren sich in der Berliner Gesellschaft. Wenn diese Gemeinde tatsächlich die Zukunft der US-amerikanischen Kirche in Miniatur darstellt, dann stimmt das optimistisch.


P1030587Erin Hastey wurde in der Nähe von Sacramento, Kalifornien, geboren. Seit 2010 studiert sie Anglistik, Deutsch und Kommunikationswissenschaft an der University of Montana. Sie interessiert sich besonders für Fragen und Probleme der US-amerikanischen Hochschullandschaft. Erin will Literaturprofessorin werden oder in der Uni-Verwaltung arbeiten. Sie hat eine Leidenschaft für die Humanwissenschaften an der Hochschule, die sie in einer zunehmend marktorientierten Öffentlichkeit neu aufstellen will. Ihr Praktikum absolvierte sie in der Pressestelle der Freien Universität.

Internationales Journalisten-Kolleg ǀ internXchange ǀ Sommer 2013