Berlin bietet wohnungslosen Menschen in Form von Notübernachtungen Hilfe bei der Suche nach einem geeignetem Schlafplatz. So auch die Einrichtung „Marie“ in der Tieckstraße 17, die dem Träger der Koepjohann’schen Stiftung angehört und ausschließlich Frauen beherbergt. Eine Mitarbeiterin erzählt von ihrer Arbeit.
von Malin Friedrich
Es ist Montagnachmittag, 17:30 Uhr. Die Sonne geht allmählich unter, der Himmel färbt sich rot und die Luft wird kühler. Sie überlegt, wo sie heute schlafen kann. Ihre Entscheidung fällt auf eine Notunterkunft für wohnungslose Frauen. Damit ist sie nicht allein, viele Frauen nehmen diese Angebote dankbar an. Gleichzeitig bereiten sich Sozialpädagogen*innen und Mitarbeiter*innen auf ihre Nachtschicht und die Ankunft der Frauen vor.
Eine genaue Statistik über die Anzahl wohnungsloser Menschen in Berlin gibt es nicht. Der Versuch, durch manuelles Zählen Licht ins Dunkle zu bringen, ist laut Expert*innen in der sogenannten „Nacht der Solidarität“ nicht als realitätsgetreu zu werten – Ergebnis dieser Zählung sind mindestens 2.000 Menschen ohne Wohnung. Die wirkliche Anzahl wird laut Tagesspiegel-Bericht „Ergebnis der Obdachlosenzählung in Berlin – Warum die Zahl so weit unter den Schätzungen liegt“ auf 6.000-10.000 Menschen geschätzt. Durch die Corona-Pandemie könnte die Zahl weiter gestiegen sein. Studierende mussten teilweise in ihre Elternhäuser zurückkehren, Menschen verloren ihren Job und andere konnten ihre Miete nicht rechtzeitig bezahlen.
Direkthilfe für obdachlose Frauen: Schlafplatz, Essen, Wäsche und Gespräche
Neben ihrem Studium der Sozialen Arbeit unterstützt Annika R. die Notübernachtung „Marie“ regelmäßig von 19:00 Uhr abends bis 8:00 Uhr morgens. Meistens ist sie zehn Minuten früher vor Ort, damit sie sich mit Hilfe des Dienstbuches einen Überblick der letzten Nacht verschaffen kann. Danach schließt sie die Zimmer auf, öffnet die Fenster und schaltet den Luftfilter an. Dieser ist seit der Corona-Pandemie fest in den routinierten Ablauf integriert. Langsam kommen die ersten Frauen an, finden sich in den Schlafzimmern ein. Währenddessen kümmert sich Annika mit ihrer Kollegin um andere Dinge, wie die Vorbereitung des Abendessens oder um die Wäsche. Die Abende laufen immer unterschiedlich ab: Mal läuft ein Film, mal wird etwas gespielt, und manchmal sind Annika R. und ihre Kollegin auch einfach nur Ansprechpartnerinnen mit einem offenen Ohr. Ab 22:00 Uhr herrscht Nachtruhe bei „Marie“ und somit stoppt auch die Aufnahme weiterer Übernachtungsgäste. Am nächsten Morgen startet der Tag gegen zehn vor sechs. Die Frauen werden geweckt, das Frühstück vorbereitet und der Putzdienst eingeteilt. Spätestens um 8:00 Uhr muss jede die Unterkunft verlassen haben, bevor sie um 19:00 Uhr erneut ihre Türen öffnet.
Geschätzt leben, laut NTV-Recherchen, 3.000 Frauen auf den Straßen Berlins oder in schwierigen Wohnverhältnissen. Für diese Anzahl stehen knapp 60 Betten in sieben Einrichtungen zur Verfügung, die ausschließlich von Frauen genutzt werden dürfen. „Marie“ ist eine dieser Unterkünfte. Nach aufwändigem Umbau und Kernsanierung eines alten Pfarrhauses ist im März 2019 die erste barrierefreie Notübernachtung eröffnet worden. Üblicherweise dürfen die Frauen zwei Wochen am Stück bei „Marie“ übernachten. Danach gibt es eine zweiwöchige Sperrfrist, die sie bis zum nächsten Aufenthalt einhalten müssen. Insgesamt gibt es zehn Schlafplätze auf zwei Räume verteilt, mit je zwei Doppelstockbetten und einem Einzelbett. Nicht gestattet sind Tiere oder das Mitbringen von Kindern. Außerdem gibt es bestimmte Hausregeln, die eingehalten werden müssen. Dazu zählt unter anderem, dass die Unterkunft pünktlich um 8:00 Uhr zu verlassen ist, die Frauen sich an die Einteilung ihrer Dienste halten müssen und dass sie sich nicht gegenseitig beleidigen oder diskriminieren. Auch das Konsumieren von Alkohol und anderen Drogen ist untersagt. Andernfalls gibt es Abmahnungen, die nach der dritten Verwarnung zu einem Hausverbot führen können.
Gefördert wird „Marie“ durch das integrierte Sozialprogramm (IPS) des Landes Berlin. Diese Mittel werden durch die Koepjohann‘sche Stiftung und durch Spenden ergänzt. Tagsüber ist die Einrichtung Anlaufstelle für Frauen, die Sozialberatungen in Anspruch nehmen wollen, Unterstützung benötigen, beispielsweise bei der Erstellung von Anträgen, oder andere Anliegen haben. Das Ziel ist es, möglichst vielen Frauen tatkräftig bei ihrem Weg in ein neues Leben zur Seite zu stehen und helfen zu können.
Corona-Maßnahmen in der Notübernachtung
Durch die Corona-Pandemie hat sich einiges verändert: Die Frauen werden wöchentlich mindestens einmal getestet, es wird Fieber gemessen, vier Luftreinigungsfilter sorgen zusätzlich für möglichst gereinigte Luft und es müssen überall Masken getragen werden, mit Ausnahme der Schlafzimmer. Zu Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Unterkünften, die explizit nur für Frauen ausgelegt sind, rasant an. Durch die unsichere Situation waren viele von ihnen noch verzweifelter als zuvor. Es kam zu vermehrten Schließungen von Einrichtungen wie Suppenküchen, Tagesstätten und Notübernachtungen.
Auch „Marie“ musste ihre Schlafplatzanzahl von zehn auf sechs Betten reduzieren. Trotz aller Umständen wurde Corona mit der Zeit zu einer Chance vieler wohnungsloser Menschen: Es wurden Ausweichmöglichkeiten geschaffen wie Hostels, die zu 24/7 Einrichtungen umfunktioniert wurden, in denen wohnungslose Menschen Zuflucht und Ruhe fanden. Die Stadtmission hat es geschafft, eine Quarantäne-Station für wohnungslose Menschen einzurichten, in der Substitutionen bei Abhängigkeit mit Hilfe von Ärzt*innen durchgeführt werden durften. Es wurden Angebote bereitgestellt, die auf diese neue Situation abgestimmt wurden, aber schon deutlich länger notwendig gewesen wären.
„Ich möchte helfen, wo ich kann“
Annika R. ist 23 Jahre alt und arbeitet seit Oktober 2019 bei „Marie“. Schon lange beschäftigt sie sich mit der Lage von wohnungslosen Menschen in Berlin. Nach dem Abitur 2016 machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof und kann sich auch zukünftig vorstellen, mit wohnungslosen Menschen zusammenzuarbeiten. Sie sieht eine Herausforderung bei der Erstellung passender Angebote für wohnungslose Menschen, weil keine genauen Statistiken über die Anzahl existiert. Außerdem gibt es einen Mangel an Unterkünften für Menschen mit Haustieren oder einer Substanzabhängigkeit. „Es müssen Ruheorte geschaffen werden, an denen sie sich erholen können.“ Auch Annika und ihre Kolleginnen müssen sich vor jedem Dienstantritt testen lassen und Masken tragen, obwohl sie zu der Priorisierungsgruppe 2 zählen und bereits größtenteils geimpft sind.
Was sind für sie Herausforderungen bei ihrer Arbeit in der Notübernachtung? „Es ist wichtig, beim Verlassen der Notübernachtung die Ereignisse und Geschichten dort zu lassen. Man sollte versuchen, sie möglichst nicht mit Nachhause zu nehmen.“ Sie habe schon einige Situationen erlebt, die sie im Nachgang beschäftigt haben. Aus datenschutzrechtlichen Gründen kann auf diese Situationen nicht explizierter eingegangen werden. Jede Frau hat ihre ganz eigene Geschichte, die wahrgenommen werden muss. Annika erzählt, dass es auch manchmal unschöne Momente gibt: „Wenn wir Frauen wieder wegschicken müssen, weil unsere Kapazitäten bereits ausgeschöpft sind. Gerade in den kalten Monaten gibt einem das ein sehr negatives Gefühl.“ Die einzige Möglichkeit ist dann, jede andere Notübernachtung abzutelefonieren und zu hoffen, dass irgendwo noch ein Platz frei ist. „Ich mache diese Arbeit sehr gerne und möchte helfen, wo ich kann. Dafür nehme ich auch schlaflose Nächte in Kauf.“
Die gravierenden Probleme von wohnungslosen Menschen sind weiterhin ein Tabu unserer Gesellschaft, sie werden oft nicht gesehen wird. Es sind vor allem Frauen, die sich bewusst der öffentlichen Stigmatisierung ein Stück weit entziehen wollen und mit Hilfe eines gesellschaftlich akzeptierten Auftretens dem Alltag auf den Straßen Berlins entgegenwirken. Umso wichtiger sind Menschen wie Annika R., die sich für Frauen in prekären Lebenslagen einsetzen und ihnen temporär ein Stück Normalität bieten.
Malin Friedrich studiert Deutsche Philologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin. Sie findet, dass das Problem der Obdachlosigkeit in Berlin viel mehr Aufmerksamkeit verdient.