Prekäre Arbeit im Lieferservice: Profit auf dem Rücken der Radkuriere

Prekäre Arbeit im Lieferservice: Profit auf dem Rücken der Radkuriere

Lieferdienste boomen in der Coronakrise, neue Fahrradkuriere und Lagermitarbeiter werden gesucht. In Berlin streiken die Lieferantinnen und Lieferanten für bessere Arbeitsbedingungen.

von Lucie Rank

Der Regenradar kündigt Schauer ab 16 Uhr an, die Mittagspause von Dennis geht gerade zu Ende. Dass es seit seinem Schichtbeginn um 11 Uhr erst einen Euro Trinkgeld gab, hebt die Laune auch nicht gerade. Aber immerhin sind die Temperaturen angenehm. Das Wetter ist ein entscheidender Faktor, wenn man wie Dennis seinen Arbeitstag auf dem Fahrrad verbringt. Der 24-jährige Berliner arbeitet als Lieferant für eine Burgerkette. Ein großer Teil der Bestellungen verläuft über den Onlinedienst Lieferando, doch das Unternehmen hat seine eigenen Lieferanten. Seit zwei Jahren ist Dennis in einer der Berliner Filialen fest angestellt. Eine verhältnismäßig lange Zeit in einer Branche, die für ihre prekären Arbeitsverhältnisse bekannt ist.

Die Unsicherheit der Probezeit

Burgerlieferant Dennis auf dem Fahrrad. Foto: Lucie Rank

Dennis hat diese Arbeitsverhältnisse bei seinen vorherigen Arbeitgebern bereits am eigenen Leib erfahren: „Ich habe zu Schulzeiten angefangen bei Foodora zu arbeiten, einfach weil ich da Bock drauf hatte, Fahrrad zu fahren und ein bisschen Geld verdienen. Die haben mich dann nach drei Monaten ohne Angabe von Gründen rausgeworfen“, erzählt er. Anschließend arbeitete Dennis neben seinem Freiwilligen Sozialen Jahr als Fahrradkurier bei Lieferando. Doch auch bei Deutschlands größtem Lieferdienst wurde er noch während der Probezeit gekündigt, nachdem er aufstockendes Hartz IV beantragen wollte. „Als ich denen mein Formular geschickt habe, hieß es wir melden uns in ein paar Tagen wieder, aber in der Zeit kam dann die Kündigung. Das ist da, wie ich das mitbekommen habe, leider Alltag“, so der 24-Jährige.

Ein ähnlicher Fall löste kürzlich beim Lieferdienst Gorillas einen Streik der Beschäftigten aus. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin, verspricht die Lieferung von per App bestellten Lebensmitteln und anderen Supermarktwaren in nur zehn Minuten und zu Retailpreisen. In Packstationen werden die Bestellungen zusammengestellt und gelangen durch die Riders, wie die Fahrradkuriere in dem englischsprachigen Unternehmen heißen, zum Kunden. Ein Geschäftsmodell, das eine große Menge an Standorten und Beschäftigten benötigt, um zu funktionieren.

Als ein Rider am 9. Juni 2021 in der Probezeit fristlos gekündigt wurde, legten viele seiner Kolleg:innen am selben Tag spontan ihre Arbeit nieder. Aus dem ungeplanten „wilden Streik”, welcher ohne eine anerkannte Gewerkschaft geführt wurde, entwickelte sich eine Blockade zweier Berliner Warehouses, auch an den zwei darauffolgenden Tagen wurden Blockaden fortgeführt. Doch die Entlassung des Kollegen sei, laut Gorillas Rider Linus, nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. „Das Ganze basiert auf einer Historie von Arbeitsrechtsverletzungen“, so der 21-jährige Soziologie Student. Linus arbeitet seit zwei Monaten als Rider für Gorillas und streikt gemeinsam mit dem Gorillas Workers Collective aktiv für bessere Arbeitsbedingungen. Das Gorillas Workers Collective ist ein Zusammenschluss aus Ridern und Packern. Seit Februar 2021 organisieren sich die Arbeiter:innen im Kollektiv.

Gorillas und co. – Boom der Lieferdienste

Gorillas ist ein junges Unternehmen. Nach der Gründung im Mai 2020 wuchs der Lieferdienst jedoch rasant, so dass er sich inzwischen, mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar, zu einem so genannten Einhorn, entwickelt hat.

Fahrräder vor Gorillas Warehouse in Moabit. Ein Graffiti kritisiert das Konzept als „Gipfel der menschlichen Faulheit“. Foto: Lucie Rank

Der Erfolg von Gorillas ist kein Einzelfall, Lieferdienste gehen in der Corona Krise als Gewinner hervor. Dies zeigte eine Studie des Digitalverbands Bitkom im Juni 2020. Während vor der Pandemie noch etwa 33 Millionen Deutsche häufig online Essen bestellt haben, waren es während des ersten Lockdowns fast 44 Millionen. So stieg beispielsweise der Umsatz des niederländischen Lieferdienstes Just Eat takeaway.com, zu dem Lieferando gehört, 2020 um 54 Prozent auf 2,4 Milliarden Euro an, wie das Handelsblatt berichtete.

Die Gründe liegen auf der Hand: Viele Menschen arbeiten im Homeoffice, Restaurants hatten lange geschlossen und auch nach den Lockerungen vermeiden viele Menschen aufgrund der Ansteckungsgefahr essen zu gehen. Sich Mahlzeiten und Einkäufe vor die Haustür liefern zu lassen, ist eine gern genutzte Alternative. Bestellungen können online gezahlt werden und die Lieferungen somit kontaktlos erfolgen.

Was haben die Lieferant:innen vom Erfolg?

Nicht alle profitieren von diesem Bestell-Hype in der Pandemie gleichermaßen. Um die kontaktlose Lieferung zu ermöglichen, führte Lieferando im Mai 2020 eine Trinkgeldfunktion in der App ein. Diese sollte nach eigenen Angaben einen besseren Schutz der Essenskuriere und Kund:innen ermöglichen. Für Dennis und seine Kollegen bedeutete sie aber vor allem eines: weniger Geld. Die Funktion sei bei Dennis Arbeitgeber ohne Vorankündigung und für 4-5 Monate verfügbar gewesen und sei dann eingestellt worden, so der 24-Jährige. Das eingezahlte Trinkgeld habe der Chef aber einbehalten, unter dem Vorwand, dass ihm das Geld als Umsatz überwiesen wurde, wodurch es nicht zu versteuern sei.

Lieferandos Presseabteilung gab auf Nachfrage an, dass Fahrer:innen, welche direkt bei Lieferando angestellt sind, das online gezahlte Trinkgeld mit ihrer Gehaltszahlung erhalten würden. Restaurants mit eigenem Lieferpersonal, wie in Dennis Fall, seien selbst für die Auszahlung verantwortlich. Das Unternehmen habe seine Partner aber ausreichend über die neue Funktion informiert und appeliere an diese, das Trinkgeld direkt ans Lieferpersonal weiterzugeben. „Rein rechtlich steht mir ein großer Anteil des Geldes zu“, berichtet Dennis. Das Thema sei aber irgendwann einfach totgeschwiegen worden.

Auch bei Gorillas warten viele Arbeiter:innen auf ihr Geld. „Zahlungen kommen selten pünktlich, teilweise mit zwei Monaten Wartezeit und dann stimmt der überwiesene Lohn oft nicht,“ berichtet Linus. Doch die Arbeiter:innen wollen nicht zulassen, dass hier etwas totgeschwiegen wird. Über Instagram, Twitter und private Chatgruppen tauschen sie sich untereinander aus und werden im Gorillas Workers Collective aktiv. Rider Linus sieht einen Vorteil hierbei in den Lagerhäusern von Gorillas. Hier begegnen wir uns untereinander täglich und können Verbindungen aufbauen, eine Möglichkeit die viele Lieferant:innen bei anderen Lieferdiensten nicht haben. Außerdem können die Lagerhäuser blockiert werden, wie es bei den Streiks der vergangenen Wochen passierte.

„Wir werden weiterkämpfen, bis wir Verbesserungen unserer Arbeitsbedingungen erfahren“

Die Proteste sind noch nicht vorbei. Am 28. Juni demonstrierten Gorillas Mitarbeiter:innen und Unterstützer:innen vor der Zentrale des Unternehmens in Prenzlauer Berg, auch Linus war unter ihnen. Das Gorillas Workers Collectives rief auf Social Media zum Protest auf, da das Management per Mail eine zukünftige Verlängerung der Arbeitszeiten verkündet haben soll, ohne ausreichend auf Forderungen der vorherigen Streiks zu reagieren. „Pay the workers“, forderten die Demonstrierenden lautstark. Gorillas CEO Kağan Sümer kam wenig später vor die Zentrale. Es folgte eine öffentliche Diskussion zwischen ihm und einzelnen Ridern. Einige Punkte stachen heraus, welche sich auch in der Liste der Forderungen wiederfanden, die das Gorillas Workers Collective am darauffolgenden Tag veröffentlichte.

Die Arbeiter:innen fordern eine Abschaffung, oder zumindest eine Verkürzung der Probezeit. Momentan sind sechs Monate Probezeit vorgesehen, „das Mindeste was wir wollen, ist dass das auf einen Monat heruntergebrochen wird. Als Rider brauchen wir keine sonderlich große Einarbeitung, aber die lange Probezeit sorgt dafür, dass Leute ohne Angabe von Gründen gefeuert werden“, so Linus. Die Gorillas Angestellten fordern zudem, eine korrekte, pünktliche Zahlung des Gehalts, wobei gleiche Arbeit gleich entlohnt und Überstunden und Krankheitsgeld angemessen vergütet werden sollen.

Auch die Ausrüstung der Rider sei verbesserungswürdig. Gorillas verspricht auf der eigenen Website die „coolste Ausrüstung, funktional, komfortabel und stylisch“. Linus sieht das anders: „Die Lieferung in schweren Rucksäcken schadet dem Rücken, vor allem wenn man mit mehreren schweren Glasflaschen über Kopfsteinpflaster fährt und das acht Stunden am Tag“. Fahrräder mit Körben, oder Lastenräder wären hier eine potenzielle Alternative, meint der 21-Jährige. Auch an wetterfester Kleidung, wie Regencapes würde es mangeln, kritisieren die Rider. Der Forderungskatalog beinhaltet außerdem gestellte Arbeitshandys für die Rider, Air-Conditioning in den Lagerhäusern und eine bessere Kommunikation zwischen Management und Arbeiter:innen, im speziellen wenn es um Probleme mit den Arbeitsvisa von ausländischen Beschäftigten geht.

CEO Kağan Sümer räumte in der Diskussion mehrmals ein, man würde sich um Verbesserungen bemühen. Die Demonstrierenden besänftigte das kaum, die Riderin Zeynep verkündete nach dem Vorlesen der Forderungen bei der Demonstration: „Wir werden weiterkämpfen bis wir Verbesserungen unserer Arbeitsbedingungen erfahren!“ Auch Linus möchte weiterhin an der Seite seiner Kolleg:innen im Gorillas Workers Collective aktiv sein. Es handle sich um ein Problem, dass nicht nur in Berlin und nicht nur bei Gorillas existiere. „Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns weiter connecten, auch mit anderen Lieferant:innen anderer Lieferdienste“.

 


Lucie Rank studiert im 4. Semester Sprache und Gesellschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Vor dem Studium arbeitete sie als Flugbegleiterin und sie interessiert sich sehr für die heutige Arbeiter:innenbewegung.