Über Arbeit wurde in den letzten Monaten oft gesprochen: Wie man sich am besten im Homeoffice fit hält, welche Branche es jetzt besonders schwer hat und vor allem, welche Berufe für das Funktionieren einer Gesellschaft wirklich relevant sind. Es gab Diskussionen über staatliche Hilfen für die Lufthansa und die Automobilindustrie und immer wieder ging es dabei darum, ob eine Branche eine Lobby hat – oder aber eben keine. Die Arbeitssituation von Menschen mit Behinderungen war dabei selten Thema.
Von Susanne Ködel
An einer Lobby fehlt es vermutlich vielen Berufsgruppen, aber sie können sich vielleicht mal mehr, mal weniger erfolgreich öffentlich Gehör verschaffen. Sie können streiken und politisch mitgestalten. Für Berufstätige mit einer geistigen Behinderung ist das schwer, erklärt der Aktivist Raul Krauthausen. Es gibt wenige Ausnahmen: Auf seinem YouTube-Kanal SakulTalks berichtet Lukas Krämer von aktuellen Debatten und wichtigen Themen sowie angesichts der sogenannten Corona-Krise auch von der Situation in den Werkstätten. Über zentrale Themen wie Inklusion oder Arbeitsrechte wird auch in der Kommentarspalte der Videos weiter diskutiert. Dennoch haben Menschen mit Behinderung oft keinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung und schon gar keine Lobby. Das sagt Raul Krauthausen und das sagt auch Fried Gebhardt, Leiter einer Werkstatt in Berlin.
Zwei Seiten der Diskussion
Abgesehen davon vertreten beide jedoch verschiedene Positionen in einer Debatte, in der es um die Arbeitssituation von Menschen mit Behinderung geht. Eine Debatte, die breit geführt wird – schaut man in die entsprechenden Kreise. Außerhalb davon wissen die wenigsten über den Streit um die Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfMB) Bescheid, kaum einer weiß von den Arbeitsbedingungen und nur wenige kennen jemanden, der dort arbeitet. Raul Krauthausen wäre nach der Schule beinahe in eine Werkstatt gekommen. Heute ist er Autor, Moderator, verkürzt gesagt vielleicht ein „Medienmensch“, vor allem aber ist er Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit – und ein Gegner des Werkstattssystems.
„Wir alle glauben, es ist total gut, was die Menschen dort machen, aber in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Die Werkstätten sagen seit mindestens 15 Jahren, sie haben sich auf den Weg der Inklusion gemacht und einfach nichts ist passiert.“
Fried Gebhardt ist seit vielen Jahren Leiter einer Werkstatt von Integral e.V., einem der 17 Werkstattträger in Berlin. An vielen Stellen sei die Kritik berechtigt, sagt er, aber er spricht auch von den Schwierigkeiten, vor denen viele Werkstätten stehen und von dem Versuch, etwas an der Situation zu verändern. WfMB sind dafür da, Menschen so zu rehabilitieren, dass sie es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen können. Sie sollen Menschen mit Beeinträchtigungen Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen. Das sei das oberste Ziel, erklärt Gebhardt, dem müsse sich alles unterordnen. Dabei stehen die Interessen der Beschäftigten im Vordergrund: Jeder, der sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausprobieren will, soll die Chance dazu bekommen.
„Die Schwierigkeit ist der Gesellschaft klar zu machen, dass wir eigentlich bei Krauthausen sind, aber uns die Gesetze etwas anderes machen lassen und dass wir uns bemühen diese Gesetze langsam zu verändern. Die UN-Konvention, das ist eine wichtige Geschichte, aber daraus zu machen, dass Werkstätten abgeschafft werden müssen, ist nach meinem Dafürhalten der falsche Weg.“
Werkstätten in der Kritik
Was aber sind die Kritikpunkte, gegen die sich Werkstätten wie die von Integral e.V. wehren wollen? Wenn das Ziel Inklusion heißt, dann kann das Werkstattsystem dort nicht hinführen, sagen die Kritiker. Tatsächlich gelangen nur etwa 1% der Beschäftigten auf den ersten Arbeitsmarkt. Der Vorwurf lautet oft, man ließe sie nicht, sie würden nicht genug gefördert und schon gar nicht genug ermutigt. Die Werkstätten stehen trotz ihres unternehmerischen Sonderstatus in Konkurrenz zu anderen Produzenten und unter dem Zwang der Wirtschaftlichkeit. Da macht es ihnen zu schaffen, wenn sie ihre besten Mitarbeiter verlieren. Auch wird Unternehmen, die Aufträge extern an eine WfMB geben, nicht nur eine kostengünstige Produktion geboten, sondern auch eine Reduktion der Ausgleichsabgabe. Diese Ausgleichsabgabe soll von Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern als finanzieller Ausgleich geleistet werden. Sie fällt an, wenn sie der Beschäftigungspflichtquote von 5% nicht nachkommen und weniger oder gar keine Menschen mit Behinderung einstellen. Auch wenn diese Abgabe ohnehin sehr gering ist, wird es Arbeitgebern so noch schmackhafter gemacht, Aufträge extern zu vergeben und eben keine Arbeitnehmer mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung einzustellen. Das ist, was Inklusionsaktivist*innen meinen, wenn sie sagen, dass Werkstätten Inklusion verhindern. „Sicherlich sind Werkstätten besser als keine Aufgabe“, findet Krauthausen, vor allem jedoch: „Aber es darf nicht als Grund dienen, weswegen wir das System erhalten, sondern wir müssen immer die Frage stellen, wie können wir die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen und Werkstätten abschaffen.“
„Es ist ein anderer Arbeitsmarkt“
Auf der anderen Seite ist der erste Arbeitsmarkt selbst auf Inklusion schlicht nicht vorbereitet, nicht auf lange Einarbeitungszeiten, nicht auf ein variierendes Arbeitstempo, manchmal nicht einmal auf eine Rampe am Eingang. Für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung sind Arbeitsklima und soziale Kontakte in der Werkstatt oft angenehmer, es herrscht weniger Druck und mehr Verständnis. Wer sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht wohl fühlt, der kann noch so qualifiziert sein. Den Absprung zu schaffen ist schwer und verlangt einen starken Willen und viel Durchhaltevermögen. Beide Seiten müssen das wollen, gibt Gebhardt zu bedenken.
„Es ist ein anderer Arbeitsmarkt. Die Bedingungen in der Werkstatt sind natürlich nicht so leistungsorientiert wie in der freien Wirtschaft. Der Umgangston miteinander ist ein anderer, das Verständnis für verschiedene Schwierigkeiten ist ein völlig anderes. Der allgemeine Arbeitsmarkt ist darauf nicht vorbereitet, der erwartet, dass man seine Arbeitskraft verkauft, weil man dafür Geld kriegt. Für den Verkauf der Arbeitskraft gibt jeder Betrieb irgendeinen Rahmen vor. Wenn ich das nicht schaffe, dann ist da niemand, der sagt ‚Kann ich dir helfen‘, sondern da wird gesagt: Entweder Sie schaffen das oder wir müssen uns vielleicht von Ihnen trennen.“
Für Menschen, die nie eine Werkstatt betreten haben – und davon gibt es viele – geht damit viel öfter die Assoziation von etwas, das man vielleicht „Beschäftigungsmaßnahme“ nennen könnte, einher. An Produktivität, an Wirtschaftlichkeit denken die wenigsten. Es gibt solche WfMB, auf die trifft das mehr zu als auf andere. Hier werden die Mitarbeiter mehr beschäftigt als gefördert. Dennoch, erklärt Fried Gebhardt, gibt es ein Kriterium für die sogenannte „Werkstattfähigkeit“, dabei spricht man von „wirtschaftlich verwertbarer Arbeit“. Diese Bezeichnung wird zwar unterschiedlich ausgelegt, zeigt aber doch klar, auf was WfMB aufbauen. Der Großteil der Tätigkeiten besteht aus einfachsten Arbeiten, den Anforderungen einer Industrie 4.0 können und wollen die meisten nicht entsprechen. „Und einfachste Arbeiten werden nun mal einfachst bezahlt.“, erklärt Gebhardt, der zugleich für eine Änderung des Lohnsystems plädiert. Das ist für Raul Krauthauen und viele Inklusionsaktivist*innen ebenfalls ein zentraler Kritikpunkt. 1,35 Euro, so viel verdienen die Angestellten durchschnittlich pro Stunde. Der Lohn ist überhaupt nicht auf einen Lebensunterhalt ausgelegt. Er ist ein Taschengeld neben der staatlichen Grundsicherung, die an sich schon genügend Problematiken birgt.
Was getan wird und was getan werden muss
Trotz der Kritik hält Fried Gebhardt daran fest, dass die Werkstatt ein guter Inklusionsbetrieb sein kann. Indem die Angestellten so gut wie möglich auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden, indem man einzelne Interessen fördert, indem man Teilhabe am Arbeitsleben und Perspektiven verschafft: „Wir haben keinen Erziehungsauftrag, sondern wir haben einen Förderauftrag.“ Und doch muss sich vieles ändern, wenn Werkstätten den Weg zu einer inklusiven Gesellschaft mit bereiten wollen. Vollständige Inklusion ist kein unerreichbares Ziel, das versucht Raul Krauthausen immer wieder zu vermitteln. Aber: „Es hat auch niemand behauptet, dass Inklusion einfach und billig ist, oder kostenlos oder wir uns nur alle ein bisschen mehr anstrengen müssen.“
In den letzten Jahren haben sich aber eben diese beiden Standpunkte herausgebildet, die sich oft vielmehr gegeneinander als zueinander wenden. Eine Talkrunde bei Maischberger, in der die Diskussion endlich öffentlich und von allen Beteiligten geführt wird, das würde sich Fried Gebhardt wünschen. Wie auch Krauthausen fordert er, dass die Werkstätten sich mehr öffnen, transparenter werden und für Austausch sorgen müssten. Auch deshalb nimmt die Werkstatt von Integral e.V. jedes Jahr am Schichtwechsel-Tag teil, an dem Berufstätige aus den verschiedensten Bereichen mit Angestellten eines Werkstattbetriebs tauschen und ein Gefühl für die Arbeit des anderen bekommen können. Es braucht solche Initiativen, wenn Werkstätten sich behaupten, dass sie Inklusion mitgestalten wollen.
Dass wir dabei noch am Anfang stehen, sieht man an vielen Dingen: Auch daran, wie wir Arbeit an sich betrachten. Geht man einmal sozialwissenschaftlich an die ganze Sache und entwirrt all die Ansätze, die sich um den Begriff der Arbeit ranken, fällt einem das Wort „Inklusion“ nur sehr selten in den Blick. Genauso wie Beschäftigungsverhältnisse von behinderten Menschen. Wir haben, wie so oft, keine ganzheitliche Definition für etwas, das uns alle umfasst. Und wieder einmal, müssen wir zuhören lernen. Wir müssen lernen, andere zu verstehen. Wir müssen unser Zusammenleben neu erlernen. In Deutschland leben knapp 8 Millionen Menschen, die als schwerbehindert gelten. Jeder kann sich selbst fragen, wie viele Bekannte er hat, die einen Behindertenausweis bei sich tragen, in einer Werkstatt arbeiten oder nur in ein Gebäude gelangen können, wenn es barrierefrei ist. Es fehlt nicht nur an einer Lobby oder einer medialen Aufmerksamkeit, es fehlt eine inklusive Gemeinschaft.
Susanne Ködel studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaften sowie Sprache und Gesellschaft im sechsten Semester. Mit dem Thema Inklusion hat sie persönliche Berührungspunkte und sich deshalb bereits in früheren Uni-Projekten damit beschäftigt.