Minderjährig. Unbegleitet. Im Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und Ausländerrecht

Minderjährig. Unbegleitet. Im Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und Ausländerrecht

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stehen in Deutschland vor besonderen Herausforderungen. Ihre Situation und die Rolle des Bundesfachverbands „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“ schildert Franziska Schmidt, Referentin im Berliner Büro, im Interview.

Von Alexandra Klimenko

Erzählen Sie bitte über Ihre Organisation „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“. Worin bestehen deren Hauptaufgaben, Ziele und Struktur?

Wir sind der Bundesfachverband „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“ und wir sind eine NGO, ein kleiner Verein, der hauptsächlich Lobby-Aufgaben wahrnimmt. Wir haben einen dreiköpfigen ehrenamtlichen Vorstand. Hier in der Geschäftsstelle in Berlin sind 5 Referenten und Referentinnen, die in verschiedenen Projekten arbeiten. Dann haben wir zahlreiche Mitglieder, die in der Arbeit mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen tätig sind. Häufig sind sie Betreuer in Jugendhilfeeinrichtungen oder Vormünder im Jugendamt. Außerdem gibt es noch Landeskoordinatorinnen in fast jedem Bundesland, die berichten, was gerade der Stand ist.

Wir haben verschiedene Schwerpunktprojekte zur Aufnahmesituation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, also wie gestaltet sich die Aufnahme, Inobhutnahme, das Clearingverfahren und der Übergang in die Jugendhilfeeinrichtung. Wie sind die Standards? Wie läuft die Prozedur ab?

Die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist besonders. Man muss sich in ihren Bedürfnissen und ihrer rechtlichen Situation gut auskennen. Machen Sie eine Art Aufklärungsarbeit?

Die Verbesserung der Aufnahmesituation ist unser Schwerpunkt, aber wir machen auch Weiterbildungen. Wir schulen Jugendhilfeeinrichtungen, Vormünder, Jugendämter zu bestimmten rechtlichen Thematiken, zu neuen gesetzlichen Regelungen. Dazu organisieren wir Seminare, Fachvorträge, Podiumsdiskussionen.

Unser übergeordnetes Ziel ist es, auf der einen Seite, die Rechte von jungen Flüchtlingen präsent zu machen, auf der anderen Seite die Qualifizierung von Fachkräften. Denn viele Menschen, die in dem Bereich tätig sind, wissen wenig über das Ausländerrecht. Die Arbeit mit den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bewegt sich immer im Spannungsfeld von Kinderrecht – Was ist das Kindeswohl? – und Ausländerrecht, wo das Kindeswohl eine untergeordnete Rolle spielt.

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Welche Rechte haben die Jugendlichen, die ohne Begleitung nach Deutschland gekommen sind?

Seit 2005 werden in Deutschland die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge automatisch in Obhut genommen. In anderen Ländern ist das nicht so, dass ist unsere Besonderheit! Sie haben dann Anspruch auf komplette Leistungen. Sie sind gleichgestellt mit Jugendlichen, die hier in Deutschland aufgewachsen sind. Jeder Jugendliche bekommt einen gesetzlichen Vertreter. Aber diese Vormundschaftsbestellung dauert momentan sehr lange. Es gibt in Deutschland verschiedene Arten der Vormundschaft: Amtsvormund, ehrenamtlicher Vormund. Es kann jeder ein Vormund werden, aber man muss eine gewisse Qualifikation haben.

Das ist der Ablauf in der Theorie, in der Praxis sieht es ein bisschen anders aus. Die Situation ist von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zur Stadt komplett unterschiedlich. In Grenzregionen und großen Städten kommen sehr viele Jugendliche an und diese sind darauf besser vorbereitet. Da gibt es eine sehr gute Infrastruktur, verschiedene Bildungseinrichtungen nur für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, damit sie den Schulabschluss nachholen können. Aber die Bundesländer, die wenige Jugendliche aufnehmen, die haben keine Erfahrung. Das ist jetzt langsam im Aufbau.

In den letzten Jahren nahm die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge deutlich zu. Gibt es dagegen Maßnahmen?

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hat in Deutschland seit 2014 extrem zugenommen. Es gibt keine Plätze mehr, um sie unterzubringen. Auf Grund der Überlastung einzelner Städte hat das Bundeskabinett am 15. Juli das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“ verabschiedet. Dieses regelt faktisch eine bundesweite Umverteilung nach Quote.

Wir sehen das kritisch, weil die passgenaue Hilfe und gesetzliche Vertreter nicht gesichert sind. Es wird nicht mehr geguckt: Was braucht der/ die Jugendliche? Es gibt viele Traumatisierte und es ist wichtig, dass es psychosoziale Zentren gibt, in denen sie eine Therapie machen können.

Wenn stark traumatisierte Jugendliche jetzt in eine Region kommen, wo niemand sich mit der Thematik „Traumatisierung auf Grund von Flucht“ oder „Kriegserlebnissen“ auskennt, dann ist es sehr schwierig eine adäquate Versorgung sicher zu stellen.

Wie ich schon gesagt habe, wir sind ein Lobbyverein und das fällt auch in unseren Bereich. Wir verfassen viele Stellungnahmen, reden mit den Politikern, organisieren Treffen in Ministerien. Mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Ausländerbehörden treffen wir uns regelmäßig und versuchen die Perspektive der Jugendlichen und auch der Fachkräfte darzulegen.

Im Büro des Bundesfachverbandes „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“. © Alexandra Klimenko

Im Büro des Bundesfachverbandes „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge“. © Alexandra Klimenko

Wie werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gezählt? Kann man eigentlich sagen, wie viele es in Deutschland gibt?

Das ist ein großes Problem, es gibt keine einheitlichen verfügbaren Zahlen. Manche Jugendämter zählen die Inobhutnahme, andere nehmen die Zahl der Jugendlichen, die in die reguläre Hilfe übergehen. Aber während der Inobhutnahme gibt es diese Clearingphase, da wird geguckt, was bringt der Jugendliche mit: Bildungsperspektive und aufenthaltsrechtliche Perspektive, Alter, Familie und vieles mehr. Und während dieser Zeit, die ungefähr 3 Monate dauert, kann viel passieren. Manche Jugendliche hauen ab, sagen z.B. „Ich habe eigentlich Verwandte in Norwegen, ich mache mich auf den Weg“. Oder es kommt heraus, dass die Jugendlichen nicht 17 sondern 25 sind.

Wie wird das Alter der Jugendlichen festgestellt?

Die Aufgabe der Jugendämter bei der Inobhutnahme besteht darin, sich davon zu überzeugen, dass eine Minderjährigkeit vorliegt. Das ist vom Gesetz vorgeschrieben, aber es wurde nicht gesagt, wie das passieren soll. In der Erstaufnahmeeinrichtung und der Clearingstelle reden sie mit den Jugendlichen und gucken, wie verhalten sie sich und geben dann ihren Bescheid. Und wenn sie sagen, dass der Jugendliche z.B. 25 ist, dann beendet das die Inobhutnahme und es besteht kein Anspruch auf Jugendhilfe.

Manche Jugendämter verweisen auf eine medizinische Altersschätzung und das ist ein Problem. Es gibt verschiedene Methoden um das Alter festzustellen, die Handwurzeluntersuchung, die Untersuchung der Schlüsselbeine und der Zähne, aber keine ist exakt. Das Alter der Jugendlichen kann man definitiv nicht genau festlegen. Da gibt es eine Variation von zwei Jahren. Das ist eine Entscheidung fürs Leben. Wenn sie 17 Jahre sind, dann ist das mit Jugendhilfe und vielen Chancen verbunden. Wenn sie 19 sind, dann bedeutet das Gemeinschaftsunterkunft mit den Erwachsenen. Die Jugendhilfe ist natürlich teurer und da wird in der Regel ein höheres Alter angenommen. Und so scheiden viele Jugendliche aus, obwohl sie eigentlich minderjährig sind. Es ist sehr schwierig gegen diese medizinischen Gutachten zu klagen.

Was passiert mit den Minderjährigen, wenn die Hilfe endet?

Mein Kollege und ich arbeiten gerade in einem Projekt „Auf eigenen Füßen stehen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwischen Jugendhilfe und Selbstständigkeit“. Es ist durch Aktion Mensch, die UNO-Flüchtlingshilfe und die Heidehof Stiftung gefördert. Das Projekt richtet den Blick auf die Entwicklungsmöglichkeiten junger Geflüchteter nach der Jugendhilfe, der bislang fehlte. Wir entwickeln Handlungsempfehlungen und Qualifizierungsangebote für Fachkräfte. Und dabei spielt die Perspektive unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge eine wichtige Rolle. Es gibt einige ehemalige Flüchtlinge, die selbst Sozialarbeiter werden oder z.B. die Organisation „Jugendliche ohne Grenzen“, wo die Jugendlichen ihre eigene Fluchtgeschichte erzählen und die Rechte der minderjährigen Flüchtlinge vertreten, aber aus der eigenen Perspektive heraus. Sie reden über sich selbst und das ist das Wichtigste! Zudem werden Vorschläge zur Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen erarbeitet, um bestehende Spannungen zwischen Sozial-, Arbeits- und Ausländerrecht abzubauen, die die Übergänge in die Selbstständigkeit belasten.

Titelbild: ‚Underaged refugee in a camp located at the northeastern Greek island of Lesbos, 30 January 2016‚ von Mstyslav Chernov/Unframe / CC BY-SA 4.0


Alexandra Klimenko studierte Germanistik an der Weltsprachenuniversität in Taschkent, aber ihre Zukunftsperspektive sieht sie in der Verbindung von Journalistik und Sozialarbeit. Im Rahmen des Projekts „Journalisten International“ beschäftigt sie sich mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, weil sie überzeugt ist, dass dieses aktuelle und komplexe Thema richtig beleuchtet werden muss.

2017-07-06T12:18:05+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, IJK, JIL '15, Lesen, Macht + Medien|Tags: , , , , , |