Die richtigen Russland-Versteher

Die richtigen Russland-Versteher

Das Medienprojekt dekoder.org existiert kaum ein Jahr, ist aber bereits mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet worden. Das Portal ist für die deutsche Medienlandschaft einzigartig. So direkt hat bisher niemand im deutschsprachigen Raum die Stimme der russischen Zivilgesellschaft wiedergegeben. Nach dem Motto „Russland entschlüsseln“ übersetzt das Team von dekoder ausgewählte Artikel aus unabhängigen russischen Medien und begleitet mit wissenschaftlichen Kurzerklärungen Schlüsselbegriffe der russischen Wirklichkeit.

Der Gründer und Herausgeber des Portals, Martin Krohs, erzählt, was man tun muss, um Russland zu verstehen, wie man mit Propaganda umgehen soll und warum man im Westen so wenig von Russland weiß.

Von Viktoria Mokretsova

Herr Krohs, wie kamen Sie dazu, dekoder zu gründen?

Das war so ein Kristallisationsprozess. Ich wollte immer etwas zum Thema Russland machen. Und im Winter 2014, als die Ukraine-Krise schon am Abklingen war, habe ich eine Sendung auf dem russischen Fernsehsender „Doschd“ gesehen, in der die Teilnehmer eines runden Tisches über die Veränderungen in den zwischenmenschlichen Verhältnissen diskutiert haben, die diese Krise ausgelöst hat. Wir wissen ja alle, dass viele Freundschaften und auch Familien aufgrund der massiven Meinungsverschiedenheiten rund um die Ukraine-Krise zerbrochen sind. Darüber haben diese Menschen diskutiert, und das war sehr interessant zu verfolgen, weil die deutschen Medien diesen Blick nach innen überhaupt nicht darstellen konnten. Dann habe ich mir gesagt: Man müsste das eigentlich auch in Deutschland zeigen“.

Warum?

Es gab zumindest in dieser Zeit noch eine recht große Russland-Naivität in der deutschen Öffentlichkeit, die dadurch begründet ist, dass wir als westliches Europa von der früheren Sowjetunion eigentlich 70 Jahre lang informationsmäßig vollkommen abgekoppelt waren und kaum etwas mitbekommen haben. Es gibt diesen weißen Fleck, der heute noch Russland ist und der muss jetzt nach und nach gefüllt werden. Das Informationsdefizit war nicht so kritisch, solange es keine aktuellen außenpolitischen Verwicklungen mit Russland gab. Aber jetzt, da dieses Thema aktuell geworden ist, wird es schmerzhaft sichtbar, wie wenig wir voneinander wissen.

Gründer und Herausgeber von dekoder.org Martin Krohs

Gründer und Herausgeber von dekoder.org Martin Krohs. © Mauricio Bustamante.

Warum aber konnten die deutschen Medien diesen Einblick nicht leisten?

Da gibt es zwei Faktoren. Zum einen sind in den vergangenen Jahren sehr viele deutsche Korrespondenten aus Moskau und Kiew abgezogen worden. Die Presselandschaft hatte keine finanziellen Möglichkeiten, diese Leute zu halten, und man hat sich gesagt: „Ok, so viel Interessantes geschieht da jetzt auch nicht“, was natürlich ein ganz großer Fehler gewesen ist. Zum anderen haben wir jetzt dieses Schlagwort „Lügenpresse“. In dem Zusammenhang wird etablierten großen Medien auch vorgeworfen, dass ihre Berichterstattung über andere Länder oft durch die westliche Brille beeinflusst wird, durch eine ganz spezielle Sichtweise der etablierten Presse, hinter der auch gewisse politische Traditionen stehen. Die Überlegung war, wie kommt man aus diesem Vorwurf heraus. Und das kann man nur, wenn man Menschen von dort selber sprechen lässt.

Es gibt noch einen Begriff in diesem Zusammenhang: „Russland-Versteher“. Zählen Sie sich auch dazu?

Ich hoffe, dass wir die richtigen Russland-Versteher sind und nicht die, die ihre eigene Meinung als Russland-Verständnis ausgeben. Dieses Verstehen eines Landes, das sich auch kulturell stark unterscheidet, muss sehr kleinteilig stattfinden. Man muss wirklich mit Details vertraut sein. Mit unserem Projekt dekoder können wir zum einen Stimmen veröffentlichen und zum anderen auch diese kleinen Sachartikel, die konkrete Ereignisse ganz neutral und faktenmäßig darstellen.

Martin Krohs, 47, lebte nach dem Studium der Philosophie und Volkswirtschaft mehr als zehn Jahre in Moskau. Dort unterrichtete er Deutsch, war Mitgründer des europäischen Buchladens Pangloss und veröffentlichte als freier Journalist Artikel in NZZ, Zenith, Vokrug Sveta und anderen Medien. Er ist Gründer und Herausgeber des Portals dekoder.org, das seit September 2015 online ist.

Ich finde es aber ziemlich widersprüchlich, dass das Verstehen an sich bei diesem Wort eine negative Bedeutung hat. Woher stammt das?

Mit diesem Schlagwort meint man eigentlich den Kreml-Versteher – in dem Sinne, dass er sich damit solidarisiert, was im Kreml gemacht wird. Es gibt aber in Russland gesellschaftlich sehr viele verschiedene Strömungen. Es gibt zum Beispiel die „Intelligenzija“, die eine große Tradition in Russland hat, die aber in den seltensten Fällen mit dem Kreml einig ist. Und wenn man Russland verstehen will, dann muss man nicht nur den Kreml verstehen, dann muss man auch die Intelligenzija verstehen. Man muss auch verstehen, wie sich die Menschen aus den Regionen positionieren, die sich größtenteils aus dem Fernsehen informieren. Ein Russland-Versteher, im richtigen Sinne des Wortes, muss all diese Faktoren in Betracht ziehen.

Und versteht Ihrer Meinung nach Russland Europa?

Ich kann darauf mit einer Anekdote antworten. Als wir uns im März 2015 mit den Chefredakteuren unserer russischen Quellen getroffen haben, um Lizenzverträge zu unterschreiben, haben wir mehrfach gehört: „Oh, das ist toll, was ihr da macht. Aber macht bitte auch einen Dekoder für Russland, der uns Europa entschlüsselt.“ Es ist tatsächlich fast ein symmetrisches Problem, dass auch nach Russland nur ganz vereinfachte Bilder von Europa gelangen, die entweder eine Art Dämonisierung beinhalten oder umgekehrt eine Idealisierung, dass also in Europa alles prächtig funktioniert, es hier alle Freiheiten gibt und es das blühende Gebiet an sich ist. Wir können keinen umgekehrten Dekoder machen, aber wenn jemand das machen würde, dann würde das Ziel sein, differenziert zu zeigen, was in Europa geschieht.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass sie keine Gegenpropaganda machen wollen. Warum?

Gegen die Propaganda-Diskussion wehren wir uns tatsächlich sehr. Sie führt unserer Meinung nach zu nichts. Propaganda kann nie neutralisiert werden. Es werden lediglich noch mehr Konstrukte und Argumente gegeneinanderprallen. Man muss die Fakten in den Mittelpunkt stellen, und man muss gegen die Lüge arbeiten. Die Artikel, die wir übersetzen, tragen eine spezifische Meinung. Das ist die Abbildung eines Pluralismus, der in Russland existiert, der aber hier im Westen kaum wahrgenommen wird. Also geht es eher darum, das Bild zu vervollständigen.

Aber dieser Pluralismus ist nur für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung relevant.

Ja, dieser Sektor der unabhängigen Presse wird nur in den großen Städten wahrgenommen und dort auch nur von einer bestimmten Schicht. Das ist im weitesten Sinne die kreative, die neu entstandene Mittelschicht, und auch da kann man sagen, das ist eine Abbildung der Realität. Das sind die Meinungen, die nicht in irgendeinem Sinne extrem sind. Wenn man das mit Europa vergleicht, dann wären das eigentlich alles Meinungen aus dem Zentrum der Gesellschaft. In Russland kommen sie eher aus einem Randbereich, der sich in einem großen Umfeld von einer herrschenden Meinung befindet. Aber das machen wir unseren Lesern auch klar. Und wir haben auch noch eine Presseschau, wo wir zu aktuellen Themen einen Zusammenschnitt von Zitaten aus ganz verschiedenen Veröffentlichungen machen. Da zeigen wir wirklich alles: Die Staatsmedien ebenso wie die Unabhängigen. Dann sieht man, wie dort die Meinungen auseinandergehen.

Wie schätzen Sie es ein: Welche Auswirkungen hat Ihr dekoder insgesamt auf die deutsch-russischen Beziehungen?

Es gibt sicherlich Auswirkungen auf der persönlichen Ebene. Wir bekommen viele Leserbriefe, und ich erinnere mich an einen, in dem eine russische Leserin sagt, jetzt könne sie endlich ihrem Partner klarmachen, was sie ohnehin schon in der russischen Presse lese. Da haben wir bestimmt für dieses Paar ein Plus an Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen. Auf systemischer Ebene denke ich, unser Projekt wird eine Langzeitwirkung haben, denn auch unter unseren Lesern sind ja viele, die in Schlüsselpositionen sitzen, die zu den Entscheidern aus der Politik, aus Stiftungen oder aus dem Kulturbereich gehören. Die lesen uns mit großem Interesse. Und indem wir diese vielfältigen Meinungen aus Russland abbilden, bekommen diese sicherlich auch hier im Westen einen größeren Stellenwert – und sie werden sich auch in den Handlungen dieser Personen niederschlagen.

Titelbild: Das Team von dekoder. Foto: ‚Preisverleihung 2016‘ von Grimme-Institut/Arkadiusz Goniwiecha / CC BY-NC-SA 2.0


Viktoria Mokretsova wurde im ehemaligen Ostpreußen, dem heutigen Kaliningrader Gebiet geboren. Auf der Suche nach dem echten Russland zog sie mit 17 Jahren nach Sankt Petersburg, wo sie Journalismus und Europastudien studierte. Seit mehreren Jahren ist sie als freie Journalistin für russische und deutsche Medien tätig.