Nach Marzahn mit der S-Bahn 7

Nach Marzahn mit der S-Bahn 7

Täglich fährt die Berliner S-Bahn von Wannsee bis nach Marzahn. Wie verändert sich das Stadtbild, und welche Menschen trifft man? Eine Reise in der S-Bahn.

Von Norman Prange

An einem verfallenen Backsteinhaus am Potsdamer Bahnhof steht DER NEUE OSTEN, das Graffito muss schon älter sein. Denn die Stadt hat sich herausgeputzt: renovierte Häuser mit gelben Fassaden verdecken die Bauruinen am Griebnitzsee. Bisher noch keine Spur von den teuren Villen im Berliner Südwesten.

Die S7 nach Ahrensfelde fährt in den Bahnhof ein. 29 Halten sind es bis dahin, der Himmel ist grau, und ich mache es mir in der Bahn gemütlich.

Ein älterer Herr lässt sich in den Sitz gegenüber sacken. Ein pinkes Täschchen mit der Aufschrift „I love Oma“ hängt an seinem Gehwagen. Er schiebt seine Hornbrille nach oben und blickt mich an. Ich schaue nach draußen. Die Bahn legt an Tempo zu, als wir parallel zur Autobahn fahren und den Grunewald hinter uns lassen. Schrebergärten und Tennisplätze ziehen an uns vorbei. Der Herr fühlt sich beobachtet.

Am Westkreuz steigen Kinder zu und besetzen die Plätze neben uns. Er atmet aus: eine willkommene Ablenkung. Wer will schon seine Accessoires, besonders wenn sie pink sind, von Fremden beurteilt wissen? Von Kindern ist es etwas anderes.

Es wird städtischer, als die Bahn Charlottenburg erreicht. Hohe Mietskasernen stehen am Bahnhof Zoo, meistens sind es die grauen Hinterwände, die man sieht. Einige Gebäude gibt es schon seit 1918.

Die Wohnlage hier ist „überwiegend gut“, so der Berliner Mietspiegel. Wer hier lebt, darf mit gutem Gebäudezustand, starker Durchgrünung und gepflegtem Straßenbild rechnen. Allerdings steigen die Mieten: 13 Prozent teurer ist es in den letzten zwei Jahren geworden, hauptsächlich wegen Neuvermietungen.

Zwischen den Häuserkomplexen verlaufen Straßen mit Cafés und Restaurants. Berlins Shopping-Meile, der Ku’damm, ist nicht weit von hier, und die Touristen sind es auch nicht: Neun Milliarden Euro bringen sie jährlich nach Berlin, wovon vor allem Hotels und der Einzelhandel profitieren. Auch Apple hat davon gehört und einen Store in zentraler Lage eröffnet. Auf dass Digital Natives mehr teure Apple-Produkte in der Hauptstadt kaufen.

Wir sind am Hauptbahnhof. Eine schöne Gegend mit Parks, viel Grün und der Spree. Doch die Baustelle des neuen Innenministeriums neben den Gleisen stört die Landschaft: Kräne und halbfertige Mauern versperren die Sicht. Bisher war das Ministerium in drei Gebäuden untergebracht. Eines davon, das Bundeshaus, ist ein rotes Backsteinhaus mit Rundbogen-fenstern. Architektonisch das Gegenteil des Neubaus, der mehr wie ein weißer Klotz mit schmalen Fenstern aussieht. Der Neubau wurde 2009 vom Bundestag beschlossen, und im Dezember 2014 soll er fertig sein. Ob sich die Bahnreisenden, die auf dem Weg zum Hauptbahnhof sind, über den Anblick freuen?

Am Alexanderplatz steige ich aus, um einen Kaffee zu kaufen. Ein Zeitungsverkäufer in weißen Turnschuhen bringt seinen Wagen in Stellung und holt die neuste B.Z. heraus: „Bine, wirf dich in Schale“ steht auf der Titel-Seite. Tennis-Weltmeisterin ist sie trotz ihres Outfits nicht geworden. Die Schlagzeile verkauft sich aber gut.

An der Warschauer Straße steigt ein junger Mann mit blauer Bierflasche zu. Es ist elf Uhr abends. Seinen iPod, Jutebeutel und Reisekoffer trägt er lässig bei sich. Er rückt seine blonden Locken in der spiegelnden Tür zurecht und bleibt stehen, obwohl es in der Bahn freie Plätze gibt. Dass die zerschnittene Jeans seine gelbe Unterhose nicht verdeckt, gehört zum Style. Dann steigt er aus, fährt die Rolltreppe hoch, und ist verschwunden.

Am Ostkreuz zeigt die kastenförmige Bahnanzeige Ahrensfelde. Die Uhr daneben lässt sich schlecht entziffern, da die Zahlen abgeblättert sind. Am Bahnsteig liegen Kabel, Rohre und Müll verstreut, abgefallener Putz und Flaschen zwischen den Gleisen.

Draußen ist es stockdunkel. Nur einzelne Lichter der Straßenlaternen zeigen, wie es in Lichtenberg aussieht: ziemlich grün. Kleinstadt-mäßig. Aber auch grau wegen der Plattenbauten, die immer häufiger zu sehen sind. Verlassene Lagerhallen und Baustellen lassen die Landschaft bei Springfuhl düster erscheinen. Man lebt hier in Betonhäusern, deren Fassaden leer wirken. Auf den Balkons blühen ein paar Blumen, ansonsten unterscheiden sich die Wohnblocks nicht.

Eigentlich war das neue Ministerium ganz schön. Etwas abwechslungsreicher.

Das Wohnungsunternehmen Degewo verwaltet Plattenbauten in Marzahn-Hellersdorf, und versucht, bezahlbaren Wohnraum anzubieten. Gentrifizierung greift in den östlichsten Bezirken Berlins bisher nicht um sich, aber wie sieht es in zehn Jahren aus? Werden aus Platten luxussanierte Prachtimmobilien? Eine bizarre Vorstellung. Wie lange noch, ist die Frage.

„We are now approaching the last stop of the line“, schallt es aus den Lautsprechern, als wir in Ahrensfelde ankommen. Die nächste Bahn zurück geht in fünf Minuten. Die Leute steigen aus, und ich nutze die Zeit, um die Gegend zu erkunden. Wie leben die Menschen in Marzahn?

Ein Stück weit entfernt vom S-Bahnhof, aber noch in Sichtweise, steht eine Kiosk-Bude. Hinten ist sie mit Graffiti vollgesprüht, vorn die Wand hochgeklappt. Der Kiosk hat geöffnet. Fünf Herren unterhalten sich lautstark bei ihrem Bier. Das erste scheint es nicht zu sein, denn auf dem Plastiktisch stehen mehrere leere Flaschen.

Einer der Männer sitzt im Rollstuhl. Ihm fehlen beide Beine. Er reicht knapp an die Tischkante heran und wollte mich wohl gerade ansprechen, als ich vorbeiging. Stattdessen setzte er seine Unterhaltung fort. Ich ging zurück zur Bahn. Sicher war ich mir nicht, was ich auf die Frage „Was machst du hier?“ oder „Warum guckst du so?“ hätte antworten sollen.

“Ahrensfelde ist schön, deshalb bin ich hier“, eher nicht. Ich will Berlin kennenlernen, wohl eher. Sie hätten es gewiss verstanden.


Norman PrangeNorman Prange, 20, studiert Publizistik und Politik. Seit August 2013 lebt er in Rio de Janeiro, wo er zwei Semester Journalistik und Internationale Beziehungen studiert. In Rio vermisst er nicht nur die Berliner S-Bahn.

2017-07-06T12:18:14+02:00 Kategorien: Berlin + Brandenburg, Lesen|Tags: , , , |