Stimmrecht Gegen Unrecht: Barrierefreier Feminismus aus Berlin

Stimmrecht Gegen Unrecht: Barrierefreier Feminismus aus Berlin

Seit 2018 kämpft eine Gruppe von Berliner Aktivistinnen für gerechtere Abtreibungsgesetze in Deutschland. Gleichzeitig wollen sie Feminismus zugänglich und begeisternd für Einsteiger*innen machen. Unbezahlt aber lohnend: So erleben sie freiwillige feministische Bildungsarbeit bei „Stimmrecht Gegen Unrecht“.

von Valentina Perezalonso

Es ist Sommer 2018. Die Sonne scheint durch das Fenster und strahlt auf dem Computer zurück. Im Hintergrund spielt eine Debatte rund um das Thema Schwangerschaftsabbruch in Deutschland. Eine Grünen-Politikerin äußert sich dazu. Vier Privatpersonen sitzen im Raum einer feministischen Sommer-Uni in Berlin und fragen sich: „Wie können wir eine Änderung vorantreiben?“ Vier Studentinnen, die mit der Gesetzeslage
von Abtreibungen in Deutschland gar nicht einverstanden sind. Lea, Hannah, Inga und Svenja schließen sich zusammen und nutzen die warmen Tage, um sich am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu treffen, um eine Briefaktion zu organisieren. Eine Facebook-Veranstaltung wird angekündigt. Der Titel dieses Events verfolgt sie bis heute. Sie nehmen Stift und Zettel in die Hand und schreiben alle zusammen Briefe an die SPD. Die Idee dahinter: Mit dem Brief nutzt man sein Stimmrecht gegen Unrecht.

Vier von den SGU-Mitgliedern, oben v. l. n. r. Klara und Leo; unten v. l. n. r. Pauline und Carla. Foto: Stimmrecht Gegen Unrecht, Ann-Kristin Janssen

Die Briefe sind auf dem Weg zu ihren Empfängerinnen, die letzten Workshops der Sommer-Uni fanden schon statt und die Türen des SoWi Instituts schließen sich für den Tag. Die Aktion hinterlässt ein empowerndes Gefühl bei den vier Freundinnen, aber auch eine Leere. Die Frage hängt noch im Hinterkopf: „Wie können wir eine Änderung vorantreiben?“ Aus Kaffee wird Bier und aus dem miteinander Reder ein Kollektiv: Aktivismus zu betreiben findet keine leicht, aber ein eigenes Kollektiv zu gründen? Vielleicht ist das genau der verlangte Wandel. So entsteht Stimmrecht Gegen Unrecht, ein Kollektiv mit dem Ziel Feminismus für Menschen zu machen, die explizit kein Vorwissen haben, sich aber engagieren wollen – Feminismus für Einsteiger*innen. Eines ist von Anfang an klar: Um diese Zugänglichkeit zu schaffen, ist eine Verknüpfung von Offline-Aktionen und Aktivismus im digitalen Raum notwendig. Kurz nach der Gründung traten zwei neue Teammitglieder ein, Jessi und Theresa, und direkt ging es los mit einem neuen Briefprotest und dem ersten Instagram-Beitrag.

Hinter den Kulissen: Wer, wie, was?

Wandlungen und Fluktuationen in der Struktur sind das tägliche Brot von ehrenamtlichen Kollektiven. Heute sind etwa neun bis elf Personen im Koordinierungskreis von SGU aktiv. Daneben gibt es zwei Aktionsgruppen, die sich mit spezifischen Themen wie Sexualität oder „digitaler Gewalt“ beschäftigen. Diese Gruppen haben Mitglieder, die nur für die jeweiligen Projekte arbeiten, aber nicht unbedingt Teil der Basisgruppe sind. Den harten Kern bilden Studierende u.a. aus der Politikwissenschaft, der Kulturwissenschaft, der Geschichte, der Erziehungswissenschaft und aus dem Fach Soziale Arbeit. Einige jobben noch zusätzlich. Anne, die Social-Media-Beauftragte bei SGU, sagt, dass die Gruppe versucht immer wieder zu reflektieren, wie ihr Aktivismus so gestaltet werden kann, dass er aus den akademischen Kontexten heraustritt. Studieren ist ein Privileg und es ist wichtig für SGU, dass politischer Protest alle Menschen anspricht.

An die Arbeit: Plenum im Park, v. l. n. r. Anne, Pauline, Sheena, Alina; Foto: Stimmrecht Gegen Unrecht, Lea Wessels

Eine feste Rollenverteilung ist nötig, um Zeitmanagement-Probleme zu vermeiden und die Effektivität zu steigern, mit der die eigene Botschaft in die Welt getragen wird. Die Kollektivstruktur besteht aus zwei großen Arbeitsgruppen: Social Media und Presse & Öffentlichkeitsarbeit. Darunter fallen eine Gestaltungs- und Design AG, eine Finanzenbeauftragte sowie zwei Mailpostfachbeauftragte. Die Recherche und Zusammenstellung eines alle zwei Wochen erscheinenden Newsletters, die Konzeption und Gestaltung von Social-Media- und Website-Inhalten, die Organisation von feministischen Aktionen auf der Straße, oder die Teilnahmen an verschiedenen Demos. Die Durchführung von Online- und Offline-Kampagnen, wie z.B. „#Toxicmalenet“, zur digitalen Gewalt. Das Angebot von Barabenden, um Menschen über feministische Themen ins Gespräch zu bringen. All das sind Aufgaben, die SGU sich vornimmt. Jede steckt ungefähr 5-10 Stunden pro Woche in das Kollektiv, schätzt Anne.

Braucht Feminismus Geld?

Die Ideen fließen nach der Neugründung des Kollektivs, allerdings braucht deren Umsetzung neue Fähigkeiten, um auch im digitalen Raum sichtbar zu werden: Vom Erlernen wie man digitale Illustrationen erstellt über Bildbearbeitungsprogramme bis hin zum Bauen einer Website. Das Ziel, digitale feministische Bildungsarbeit, erfordert Zeit und Mühe. Finanzielle Unterstützung für das Kollektiv zu bekommen ist schwierig. Im nächsten Schritt soll SGU ein Verein werden, um Spenden sammeln und Förderung beantragen zu können. Und bis dahin? Ihre persönliche Leistung belohnen sie nicht, aber für Kampagnen, die finanzielle Unterstützung brauchen, wenden sie sich zum Beispiel an die Asten der Berliner Universitäten. Durch sie war z.B. die Plakatierung in Berlin im Rahmen der #toxicmalenet-Kampagne möglich, berichtet Anne, die Socia-Media-Beauftragte von SGU.

Aktivismus im urbanen Raum: Plakat der #Toxicmalenet Kampagne. Foto: Stimmrecht Gegen Unrecht, Lea Wessels

„Ich finde, alles was so Richtung Bildungsarbeit geht, auch Bildung im Kontext von Selbstbestimmung, ist schon auf jeden Fall finanzierungswert und es wäre toll, wenn es da bessere Zugänge dazu gäbe. Ich habe das Gefühl, um Gelder zu beantragen, muss man sich wirklich sehr gut reinfuchsen und irgendwie auch Connections haben, man muss Netzwerke aufbauen und pflegen“, sagt Anne. Das kann sich durchaus lohnen. Die Zusammenarbeit mit der Influencerin Nike Van Dinther hatte zur Folge, dass sie heute von einer Spendenaktion des Unternehmens OUI begünstigt werden. Diese Kooperation könnte der Gruppe die Möglichkeit geben, Ressourcen auch an andere Projekte weiterzugeben.

Corona und ehrenamtliche Arbeit

Wie können wir unsere Strukturen professionalisieren? Was machen wir mit all den Menschen, die uns schreiben und bei uns mitmachen möchten? Wie sieht’s aus mit der Postplanung für Instagram? Solche Fragen beschäftigen jede Woche die Mitglieder des Kollektivs. Nach intensiven organisatorischen und inhaltlichen Diskussionen in den Plenen, gab es sonst immer ein Bier und Snacks zum Entspannen. Seit Beginn der Pandemie fällt dieser Spaß aber aus und die Abende, an denen sich die Menschen von SGU gerne persönlich getroffen haben, finden jetzt über Zoom statt. Was hat das zur Folge? Mehr Low-Phasen. Zeiten, wo wenig auf Instagram gepostet, kaum Kampagnen vorbereitet und die Recherche für den Newsletter pausiert werden. Die Barabende sind auch komplett ausgefallen, der Offline-Aktivismus kam fast zum Stillstand. „Die Pandemie war einfach auch für aktivistische Kontexte super kräftezehrend“, meint Anne. Jedoch war der Einfluss der Online-Räume auf die Arbeitsstrukturen von SGU nicht nur negativ: Seitdem sie sich für Plenen online treffen, sind sie effektiver geworden. Wie sie trotz der Corona-Hürden auf ein gutes Zusammenarbeiten vertrauen können, hängt von jedem einzelnen Mitglied ab. Wichtig sind Feedbacks und eine angenehme Atmosphäre. Diese Form der ehrenamtlichen Arbeit betrachten Anne als ein Privileg, das sie nicht für selbstverständlich nimmt. Sei es Freundschaft, Lob oder berufliche Kompetenzen, die Mitglieder von SGU nehmen viele Erfahrungen für sich mit, es ist eben mehr als nur unbezahlte Arbeit.

 


Valentina Perezalonso studiert studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft. Sie interessiert sich für soziale Bewegungen und Feminismus und ist selbst in der feministischen Szene Berlins aktiv.