Stolpersteine in Charlottenburg-Wilmersdorf: Gisela Morel-Tiemann im Interview

Stolpersteine in Charlottenburg-Wilmersdorf: Gisela Morel-Tiemann im Interview

„Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an den Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass sie nicht vergessen werden.“ Gisela Morel-Tiemann, 77 Jahre alt, Rentnerin und ehrenamtliche Koordinatorin der Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf, spricht über die Stolpersteine im Bezirk und deren große Bedeutung für die Erinnerungskultur in Deutschland.

von Kristin Thimsen

MedienLabor: Frau Morel-Tiemann, Sie wurden am 28.01.1944 geboren. Fast genau ein Jahr später, am 27.01.1945, wurde das Konzentrationslager in Auschwitz durch sowjetische Truppen befreit. Wann hörten Sie zum ersten Mal etwas über die schrecklichen Geschehnisse des Nationalsozialismus, die Konzentrationslager und den Holocaust?   

Gisela Morel-Tiemann: Ich gehöre der Generation des großen Schweigens an. Sowohl die Eltern als auch die Großeltern, niemand von ihnen hat in der Nachkriegszeit etwas erzählt. Und wenn was erzählt wurde, dann war niemand Nazi und niemand hat etwas gewusst, gehört oder gesehen. Ich hatte aber das große Glück auf dem Gymnasium einen Geschichtslehrer zu haben, der uns erzählt hat, was er von der Nazizeit wusste. Es war nicht viel, aber immerhin mehr als die anderen Geschichtslehrer vermittelten. Bei denen war die Weimarer Republik schon kein Thema mehr und Hitler erst recht nicht.

Gisela Morel-Tiemann bei der Verlegung der Stolpersteine in der Friedbergstraße (Foto: Jan Lange)

MedienLabor: Wie kamen Sie dann von den Erzählungen Ihres Geschichtslehrers zu der ehrenamtlichen Tätigkeit mit Stolpersteinen im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf?

Morel-Tiemann: Das Thema hat mich mein ganzes Leben begleitet. Ich habe vor über 50 Jahren hier in Berlin am OSI Politik und Geschichte studiert. Im Jahr 2012 habe ich in meiner Straße mit noch 20 weiteren Bewohner*innen die „Stolpersteininitiative Friedbergstraße“ gegründet. Denn mich hatte es verwundert, dass in allen umliegenden Straßen bereits Stolpersteine verlegt worden waren, nur in meiner Straße nicht. Es stellte sich heraus, dass die Friedbergstraße in der NS-Zeit von den Nazis in Steffeckstraße umbenannt worden war. 1947 wurde sie wieder zur Friedbergstraße. Grund dafür war, dass es den Nationalsozialisten widerstrebte, eine Straße zur Würdigung des liberalen Juristen und Politikers Heinrich von Friedberg zu benennen, zumal er jüdischer Herkunft war.  Zum 75. Jahrestag der Pogromnacht 1938, am 10. November 2013, haben wir 19 Stolpersteine in der Friedbergstraße verlegt. Seither engagiere ich mich für das Stolperstein-Projekt und nun auch seit zweieinhalb Jahren ehrenamtlich als Koordinatorin der Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf.

MedienLabor: Besteht die Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf ausschließlich aus ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen?

Morel-Tiemann: Bei uns in Berlin ist es so, dass jeder Bezirk eine eigene Stolpersteine-Initiative hat und manche sind beispielsweise an kommunale Museen angebunden. Jedoch arbeiten die meisten ehrenamtlich und wir hier in Charlottenburg-Wilmersdorf arbeiten komplett ehrenamtlich. Wir sind eine Initiative von um die 20 aktiven Menschen, die meisten sind im Rentenalter.

MedienLabor: Kann sich jeder, der will, bei Ihnen in der Initiative einbringen?

Morel-Tiemann: Ja, sehr gerne. Gerade um den 09. und 10. November und 27. Januar herum hatten wir viele Anfragen von zum Glück auch jüngeren Leuten, die gerne am Stolperstein-Projekt mitmachen wollen. Und denen erkläre ich dann, was die Initiative ist, wie wir arbeiten, was unsere Aufgaben sind. Es kann sich dann jeder bzw. jede gerne an der Stelle einbringen, wo er oder sie gerne will. Schwierig ist es momentan wegen Corona, da wir keine Treffen haben können und somit alles online stattfinden muss. Da ist die „Einarbeitung“ der neuen Mitglieder komplizierter.

MedienLabor: Als Koordinatorin arrangieren Sie die Zusammenarbeit unter den Ehrenamtlichen in der Initiative. Was genau sind Ihre Aufgaben als Koordinatorin?

Morel-Tiemann: Genau. Ich kann Ihnen sagen, ich habe mich nicht um diese Aufgabe gerissen, weil es sehr viel ist und auch durchaus keine erfreuliche Arbeit. Zu meinen Aufgaben gehört z.B. alle Anträge in Sachen Stolpersteine entgegenzunehmen, den ersten Kontakt mit den Interessierten zu haben und dann die konkreten Wünsche nach Stolpersteinen zu listen. Zudem organisiere ich die Termine zur Verlegung der Stolpersteine. Dabei stehe ich unter anderem im Austausch mit dem Bürgermeister, dem Bezirksamt und der Polizei. Die einzelnen Rechercheaufgaben werden dann von den unterschiedlichen Mitgliedern der Initiative übernommen. Diese setzen sich mit den Antragsteller*innen in Verbindung. Das können Nachkommen sein, Hausgemeinschaften, einzelne interessierte Bürger *innen oder selbst gegründete Initiativen. Aber irgendwann muss dann alles wieder zusammenlaufen.

MedienLabor: Das bedeutet, egal wer hier im Bezirk einen Stolperstein verlegt haben möchte, muss den Antrag vorab an Sie bzw. an die Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf stellen?

Morel-Tiemann: Richtig. Jedoch werden später alle Inschriften für die Stolpersteine nochmals durch die Stolpersteinkoordinierungsstelle in Berlin überprüft, das sind bezahlte Leute. Sie koordinieren die zwölf Bezirksinitiativen, die es in Berlin gibt. Zudem halten sie den direkten Kontakt zum Künstler Gunter Demnig und nehmen auch Anfragen, unter anderem aus dem Ausland, entgegen. Außerdem gibt die Stolpersteinkoordinierungsstelle Berlin beispielsweise Recherchetipps oder Workshops für das Biografie schreiben.

MedienLabor: Wer ist dann für die weitere Recherche der Stolpersteine verantwortlich?

Morel-Tiemann: Im Prinzip wünschen wir uns, dass die Menschen, die Stolpersteine verlegen lassen wollen, selbst recherchieren, weil das eine persönliche Beziehung zu dem Opfer aufbaut. Irgendwann hat man das Gefühl man kenne die Person, sie wird für einen wieder lebendig und das ist ganz wichtig für die Erinnerungsarbeit. Es ist ein gesellschaftliches Projekt. Kein Projekt was von oben runter, von der Politik initiiert ist, sondern ein Projekt, das von der Bevölkerung getragen ist und immer wieder erweitert wird.

MedienLabor: Werden bei der Recherche für Stolpersteinverlegungen auch die Nachkommen kontaktiert?

Morel-Tiemann: Ja, bei der Recherche soll man sich auch bemühen Nachkommen zu finden. Unter anderem geht das über die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem oder auch über das Holocaust-Museum in Washington. Es ist wichtig, da es auch Nachkommen gibt, sehr wenige, die keine Stolpersteine verlegt haben wollen und gegen deren Willen verlegen wir dann auch nicht.

MedienLabor: Nachdem die Recherchearbeiten abgeschlossen sind, wird dann der Stolperstein verlegt?

Morel-Tiemann: Genau. Nur haben wir derzeit eine Warteliste von vier bis fünf Jahren. Deshalb machen wir momentan auch keine „Werbung“ für Stolpersteine. Nicht in Schulen und nicht an Universitäten. Aber Geschichtslehrer*innen machen mit ihren Schüler*innen Projekte. Da bemühen wir uns, diese Steine vorzuziehen, da die Schüler*innen oft nur ein oder zwei Jahre zusammen im Kurs sind. Genauso werden Angehörige, die über 80 beziehungsweise 90 Jahre alt sind, auf der Warteliste bevorzugt behandelt.

MedienLabor: Was bedeuten die Stolpersteine für die Nachkommen?

Morel-Tiemann: Ich sehe, wie wichtig es den Nachkommen ist. Gerade bei Ermordeten, die kein Grab haben. Mit den Stolpersteinen haben die Menschen dann einen Ort, wo sie sagen können: ‚Hier haben meine Vorfahren zuletzt glücklich und zufrieden gelebt.‘ Wir hatten auch Stolpersteinverlegungen, bei denen z.B. Nachkommen aus Israel, den USA und England dabei waren. Die Nachkommen kannten sich davor nicht. Sie haben erst durch diese Verlegung voneinander erfahren. Das sind dann solche Erlebnisse, bei denen man immer noch Gänsehaut bekommt.

MedienLabor: In Charlottenburg und Wilmersdorf haben vor dem zweiten Weltkrieg prozentual die meisten Menschen jüdischer Herkunft gewohnt. Deshalb liegen auch über 3.400 der ca. 8500 bereits verlegten Stolpersteine in Berlin hier im Bezirk. Inwiefern würden Sie sagen haben damals die Menschen hier im Bezirk ihren jüdischen Glauben ausgelebt?

Morel-Tiemann: Das stimmt, über 8 Prozent in Charlottenburg und fast 14 Prozent der Einwohner in Wilmersdorf damals waren jüdisch, jedoch dicht gefolgt von Schöneberg und Mitte. Sehr viele der Menschen jüdischer Herkunft in Charlottenburg und Wilmersdorf waren überhaupt nicht religiös. So wie viele Christen heute. Sie sind vielleicht einmal zum Rosch Haschana in die Synagoge gegangen, aber nicht jeden Samstag. Und wenn, dann waren sie überwiegend liberale Gemeindemitglieder, während in Mitte es eher überwiegend konservative bis erzkonservative Juden waren.

MedienLabor: Was waren die Unterschiede zwischen den konservativen bis erzkonservativen Menschen jüdischen Glaubens in Berlin Mitte und den eher liberalen Juden in Charlottenburg und Wilmersdorf?

Morel-Tiemann: In Charlottenburg und Wilmersdorf lebte vorwiegend ein gehobenes Bürgertum, Künstler, Akademiker, in Mitte lebten im Wesentlichen sogenannte „Ostjuden“. Bevölkerungsgruppen, die wenig oder gar nichts miteinander zu tun hatten. Auch heute ist das den Bürgern oftmals nicht bewusst. Beispielsweise werden Stolpersteinverlegungen auch gelegentlich von Musik begleitet. Da gibt es dann manchmal Hausbewohner, die unbedingt Klezmermusik haben wollen. Klezmer ist aber eher die Musik des Ostjudentums. Die jüdischen Menschen, die hier im Bezirk gewohnt haben, haben eher Bach, Mozart und Beethoven gehört, bestimmt nicht Klezmer. Menschen, die Stolpersteine verlegen lassen wollen und selbst recherchieren, lernen nicht nur viel über die Nazizeit einerseits, sondern auch über jüdisches Leben andererseits.

Stolpersteine

Die Stolpersteine sind ein Projekt des deutschen Künstler Gunter Demnig zum Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus: Menschen jüdischen Glaubens, Menschen im politischen oder kirchlichen Widerstand, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Sinti und Roma, oder Opfer des Euthanasieprogramms. Dabei werden 10×10 cm große Messingplatten vor den letzten freiwilligen Wohnadressen (nicht vor sogenannten „Judenhäusern“) der in der NS-Zeit verfolgten, deportierten und ermordeten Menschen verlegt. Das Motto des Künstlers ist ein Spruch aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Seit 1992 wurden über 75.000 Stolpersteine in mehr als 25 Ländern Europas verlegt.

MedienLabor: Wie schätzen Sie heute die Erinnerungskultur der Bewohner*innen in Charlottenburg-Wilmersdorf ein?

Morel-Tiemann: Puh, das ist eine schwierige Frage. Ich sehe die vielen Anträge, die wir für Stolpersteine bekommen. Da sage ich natürlich, dass das Interesse groß ist. Ich sehe aber auf der anderen Seite auch, dass nur die Leute, die an der Erinnerung an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft interessiert sind, sich bei uns melden. Wie viele sind das auf die Gesamtbevölkerung gerechnet? Wahrscheinlich ziemlich wenige. 

MedienLabor: Werden hier im Bezirk viele Stolpersteine ausgegraben oder anderweitig geschädigt?

Morel-Tiemann: Im Vergleich zu manchen anderen Bezirken haben wir nicht so viele Fälle, wo Stolpersteine ausgegraben oder geschädigt werden, obwohl es in Charlottenburg-Wilmersdorf auch Gegenden mit rechtsradikalen Clustern gibt. Da passiert dann schon mal was am 9. November oder 27. Januar. Aber es ist nicht zu vergleichen mit Bezirken, wo an solchen Daten 20 oder 30 Stolpersteine gestohlen werden. Hier im Bezirk wurde der letzte Stolperstein vor fünf Jahren gestohlen. Aber es kommt schon mal vor, dass Stolpersteine bei Bauarbeiten verloren gehen oder beschädigt werden. Diese werden dann auf unsere Kosten oder aus sogenannten freien Spenden ersetzt.

MedienLabor: Können Sie sich an eine Stolpersteinverlegung erinnern, die Ihnen besonders im Kopf geblieben ist?

Morel-Tiemann: Ja! Als wir bei mir in der Straße die Stolpersteine verlegt haben, kamen Bewohner*innen des Hauses zur Verlegung. Nummer sieben war das. Unter anderem auch ein kleines Mädchen, es war wohl so zwölf Jahre alt. Sie schaute sich die Stolpersteine an, las die Inschriften und bemerkte, dass ein Junge dabei war, der mit zehn Jahren von seinen Eltern nach Holland geschickt worden ist. Der Name des Jungen war Heinz Joachim. Die Eltern wollten dadurch sein Leben retten. Er wurde aber nicht gerettet. Er wurde mit 14 Jahren in der Tötungsstätte Sobibor ermordet. Und dieses Mädchen las die Inschrift und las die Zahlen auf dem Stolperstein und sagte entsetzt: ‚Der war ja fast genau so alt wie ich. Für den möchte ich gerne die Rose legen‘. Das sind so Momente, da muss man dreimal schlucken.

MedienLabor: Was ist bei dem Projekt der Stolpersteine der Unterschied zu einer Gedenkstätte oder einem Museum?

Morel-Tiemann: Ein Besuch in einer Gedenkstätte oder in einem Museum ist eine bewusste Entscheidung. Man muss dorthin gehen wollen. Wohingegen man bei einem Stolperstein durch eine Straße geht, man sieht so einen Stein und er weckt die Aufmerksamkeit, ohne dass man selbst etwas dafür tun muss. Man stolpert geistig darüber. Zudem sind Gedenkstätten, Museen etc. immer Projekte, bei denen der Staat eine wesentliche Rolle spielt. Stolpersteine sind ein gesellschaftliches Projekt. Ein Projekt, das von unten her aufgebaut ist und nicht von oben herab. Es ist nicht nur ein Kultur- und Gedenkprojekt, sondern es ist auch eine soziale Skulptur, die ständig erweitert wird.

MedienLabor: Welche Bedeutung schreiben Sie den Stolpersteinen als größtes dezentrales Denkmal der Welt zu?

Morel-Tiemann: Es waren sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen jüdische Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Wenn man alle anderen Nazi-Opfer mitrechnet – und auch die Kriegstoten – das kann man sich nicht vorstellen. Aber eine einzelne Person, ein Individuum, das gibt eine ganz andere Möglichkeit sich damit zu identifizieren. Eine Adresse, sechs Menschen wohnten dort. Vater, Mutter und vier Kinder, das jüngste Kind gerade mal ein Jahr alt. Das geht einem dann schon anders unter die Haut, als wenn man hört, sechs Millionen. Denn sechs Millionen ist so unvorstellbar, dass man es schnell ausblendet. Man blendet aus, dass immer wieder ein Leben eines Mannes, einer Frau, eines Kindes erloschen wurde, dass sechs Millionen mal einzelne Menschen ermordet wurden.

MedienLabor: Welchen Beitrag würden Sie sagen können die Einwohner*innen aus Charlottenburg-Wilmersdorf als die nachfolgende Generation leisten, um die Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten?

Morel-Tiemann: Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an den Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden. Aber wir sind verantwortlich dafür, dass sie nicht vergessen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass sich solche menschenverachtenden Ideologien nicht nochmal in den Köpfen der Menschen festsetzen können. Antisemitismus, Rassismus waren ja nie weg aus der deutschen Gesellschaft und sind es heute immer noch nicht – im Gegenteil. Die aktuelle politische Situation macht mir Angst.  Insofern muss man, wo immer man kann, auch etwas gegen das Vergessen tun. Und eine Sache, die man dagegen tun kann, sind die Stolpersteine.

Eine kleine Facette, aber immerhin.

                                                                                                                                                   


Kristin Thimsen studiert im sechsten Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft. Sie träumt davon, nach ihrem Studium über den ganzen Globus verteilt Geschichten von den Menschen erzählen zu dürfen, die sonst nicht gehört oder gesehen werden.