Jung, frei, selbstständig?

Jung, frei, selbstständig?

Ob freischaffender Filmemacher oder selbstständiger Eventdienstleister –Berlin bietet als innovative und vielfältige Stadt einen erfolgsversprechenden Nährboden für selbstständige Arbeit. Doch Freiheit kann auch Unsicherheit bedeuten. 

von Sandra Berke

Der eigene Chef sein, sich seine Arbeitszeiten frei einteilen und Urlaub machen, wann man will – das sind die Bilder, die viele Menschen mit der Selbstständigkeit in Verbindung bringen. Immerhin gehen rund 4,2 Millionen Menschen in Deutschland einer selbstständigen Arbeit nach. Das entspricht 9,4 Prozent der Erwerbstätigen bundesweit. In Berlin sind es sogar 11,4 Prozent, die sich den Traum der Selbstständigkeit erfüllt zu haben scheinen. Neugründungen gelten aufgrund ihres Innovationspotenzials als wichtig und gewinnbringend für die Volkswirtschaft. Freischaffende tragen durch neuartige Ideen und unabhängige Arbeitsweisen zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung bei.

Auch Solo-Klettertouren scheut Johannes für bestmögliche Ergebnisse nicht. Foto: Henry-Martin Klemt

Dennoch verzeichnen sowohl das Statistische Bundesamt als auch die Stadt Berlin in den letzten Jahren rückläufige Zahlen. Es gibt weniger Gewerbeanmeldungen und eine sinkende Anzahl Selbstständiger. Das legt die Vermutung nahe, dass sich hinter den versprochenen Wunschbildern von Freiheit und Flexibilität auch eine Kehrseite der Selbstständigkeit verbirgt.

Zeitliche Flexibilität hat ihren Preis

Während ein Bürojob zumeist geregelte Arbeitszeiten verspricht, muss sich Daniel an die Wünsche seiner Auftraggeber anpassen. Seit 2009 ist er im Bereich der Veranstaltungs- und Messedienstleistungen tätig. Lange Arbeitstage sind keine Ausnahme. Häufig betritt Daniel das Messegelände am frühen Morgen und verlässt den Veranstaltungsort oft erst nach zehn, elf oder gerne auch zwölf Stunden wieder. „Das muss man halt in Kauf nehmen“, findet Daniel. Im Gegenzug muss er als Selbstständiger keinen Urlaubsantrag einreichen, wenn die Großmutter zum 80. Geburtstag einlädt. Heiraten in demselben Monat auch noch die besten Freunde und der Kollege hat seinen Familienurlaub angemeldet, wird es für viele mit Festangestellte schon schwierig. „Da muss man Kompromisse eingehen“, erklärt Daniel. „In diese Situation möchte ich eigentlich nie kommen. Ich möchte immer selbst entscheiden, was mir wichtig ist und das ist auch möglich, wenn du selbstständig bist.“

Dennoch ist die Auftragslage für viele Selbstständige sehr dynamisch, sodass die flexible Zeiteinteilung und die freie Auswahl der Geschäftspartner oftmals Idealvorstellungen bleiben. „Es gibt Zeiten, da muss ich quasi alles annehmen, was reinkommt.“ Daher ist auch Johannes als selbstständiger Filmemacher nicht frei von äußeren Bedingungen. Dennoch kann er sich Freiheiten erlauben, die für viele Festangestellte nicht in Frage kämen. „Ich bestimme meinen Kundenstamm selbst. Ich entscheide, wem ich meine Visitenkarte gebe und wem nicht.“ Allerdings muss Johannes sich als sogenannter Solo-Selbstständiger allein um die Akquise von Neukunden kümmern. Er hat keine weiteren Mitarbeiter, die im Zweifelsfall einspringen können. „Eigentlich habe ich mir immer geschworen, nicht selbstständig zu arbeiten, weil ich das ganz gruselig fand, dass man die Steuererklärung, die ganze Buchhaltung und auch die Akquise selber machen muss. Da ist immer ein großer Faktor der Unsicherheit dabei.“

Sicherheit bleibt auf der Strecke

Doch nicht nur im Arbeitsalltag sind viele Selbstständige auf sich allein gestellt. Auch hinsichtlich der Sozialversicherung sowie der Absicherung für die Rente können sie sich nicht auf einen Arbeitgeber und staatliche Regelungen verlassen. Pflichtbeiträge für die Kranken- und die Pflegeversicherung gibt es zwar, doch auch diese müssen in die Stundenlöhne und Honorare einkalkuliert werden. Auch im Krankheitsfall können sich Freischaffende zumeist nicht auf eine Lohnfortzahlung verlassen. Jeder versäumte Arbeitstag hat unmittelbare finanzielle Folgen. Die Absage eines Auftrags führt außerdem dazu, dass der Kunde sich nach einem Ersatz umsehen muss und die künftige Zusammenarbeit unter Umständen eingeschränkt oder nicht fortgesetzt wird.

In Berlin arbeiten 76,5 Prozent der Selbstständigen im Dienstleistungssektor. Das Angebot ist groß und vielfältig, ebenso die Konkurrenz. Berlin ist ein beliebter Messestandort und bietet zahlreiche Eventlocations. Viele Unternehmen und Organisationen legen großen Wert auf eine Repräsentanz in der Hauptstadt. Zugleich ist der Anteil der Selbstständigen so hoch wie in fast keinem anderen Bundesland. Wer kreativ und freischaffend tätig sein möchte, den zieht es nach Berlin. Das führt mitunter zu einem Überangebot und einem harten Kampf auf dem Arbeitsmarkt. Wichtig ist daher nicht nur, gut und zuverlässig zu arbeiten und eine persönliche Kundenbindung aufzubauen. Im Bestfall hat man ein Alleinstellungsmerkmal. Etwas, das nur wenige andere genauso gut können. In jedem Fall sollten Selbstständige eine gute Selbsteinschätzung ihrer Fähigkeiten mitbringen sowie die eigenen Schwächen und Stärken kennen.

Zusammenhalt als Rezept gegen Unsicherheit

Ein bisschen Spaß muss sein: Daniel bei der Arbeit im Berlinale Palast. Foto: Sandra Berke

„Manchmal muss man sich auch trauen, zu sagen, dass man für etwas nicht der Richtige ist.“ In diesem Fall setzt Johannes auf kollegiale Zusammenarbeit und Solidarität. „Man kann auch versuchen, sich im Meer der Ellenbogenkämpfer gegen alle anderen durchsetzen zu wollen, aber dann ist man sehr alleine.“ Viel gewinnbringender sei es, sich gegenseitig bei Auftraggebern zu empfehlen und auch Angebote weiterzureichen, wenn man jemanden kennt, der die Aufgabe aufgrund zeitlicher Kapazitäten oder beruflicher Qualifikation besser erfüllen kann. Das funktioniert nicht nur im Kollektiv von Medienschaffenden. Auch Daniel schätzt an seiner Arbeit, dass es viele zwischenmenschliche Kontakte gibt. Auch er kann im Zweifelsfall auf die Unterstützung der Kollegen zählen kann. „Wenn man Glück hat, hat man bei einzigartigen Veranstaltungen – wie der Berlinale – auch die Möglichkeit, das ein bisschen zu genießen.“


Sandra Berke steht kurz vor dem Abschluss ihres Bachelorstudiums, in welchem sie sich mit kommunikations- und politikwissenschaftlichen Themen auseinandergesetzt hat. Erste journalistische Erfahrungen konnte sie durch ihre Arbeit im Berliner Korrespondenzbüro einer großen japanischen Tageszeitung sammeln. Nebenbei ist auch die Autorin selbstständig tätig.