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[Die Philospóphie einer Voll-Universität]

Die Zerschlagung unserer Medizin nimmt der Freien Universität den Charakter einer „Voll-Universität“. Die Zerschlagung unserer Medizin negiert zwei Jahrtausende europäischer Bildungsgeschichte. Warum?

„Universitas“ meint seit dem Altertum die Gesamtheit der Dinge. Zu dieser Gesamtheit gehörte schon in der griechischen Antike die Medizin als Bestandteil der Philosophie. So unterschied Platon zwischen der Medizin und der Rhetorik.
Die Medizin untersucht die Natur des Körpers, die Rhetorik die Erforschung der Seele. Am Anfang des abendländischen Denkens geht es also immer darum, dass Wissenschaft sich mit dem Ganzen beschäftigt. Auf diese Weise sollte sicher gestellt werden, dass der Arzt auch die Krankheit als Bestandteil des menschlichen Ganzen betrachtet. Deswegen verlangt das Mittelalter von den Ärzten die Kenntnis aller freien Künste, der „septem artes liberales“.

Die Medizin heißt „zweite Philosophie“. Sie ist mit der Theologie eng verknüpft. Bis zum 17. Jahrhundert etabliert sie sich als akademisches Fach an den Universitäten. Auch für die Aufklärung ist der Arzt „Philosophus“, wenn er im wahren Sinne gebildet ist. Das entspricht dem Bildungsideal der europäischen Universität. So heißt es in einem Handbuch des 19. Jahrhunderts: „Universität ist eine Unterrichtsanstalt, welche alle Wissenschaften oder das ganze Gebiet der Gelehrsamkeit umfasst; weshalb man sie auch zum Unterschiede von den beschränkteren, bloß vorbereitenden Lehranstalten eine hohe oder Hochschule nennt...“

Eine „beschränktere Lehranstalt“ scheint nun genau das Ziel rot-roter Politik zu sein. Sie unterstützt damit eine Fehlentwicklung, die für das 20. Jahrhundert typisch war.
Das Ganze wird in viele Ein-zelheiten zerlegt. Der Blick der Wissenschaftler auf das Ganze geht – zum Schaden der Menschen – verloren.

In den letzten 30 Jahren haben die Wissenschaften eine Lektion gelernt: Die immer fortschreitende Spezialisierung auch der Medizin kann sich gegen die Interessen der Menschen richten. Deshalb fordern viele Wissenschaftler, seien es Mediziner, Sozial- oder Geisteswissenschaftler, Transdisziplinarität.

Das bedeutet, dass auch der menschliche Körper aus der Sicht vieler Wissenschaften betrachtet werden muss. Aus diesem Grunde arbeiten Mediziner, Naturwissenschaftler, Sozial- und Geisteswissenschaftler in vielen Fragestellungen zusammen. Medizinsoziologie, Evolutionstheorie, Sozialanthropologie, medizinische Anthropologie, medizinische Psychologie, Biomedi-zin, medizinische Physik – diese und viele andere Verbindungen sind der Ausdruck für einen engen Zusammenhang zwischen der Medizin und der übrigen Universität.

In diesem Augenblick handeln Berliner Politiker gegen wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten. Ignorant, informations- und belehrungsresistent und ohne Folgenabschätzung praktiziert eine Handvoll Akteure einen Politikstil, der in seiner Einfachheit erschreckt. Die Beseitigung von komplexen Systemen wie der Humanmedizin an der Freien Universität ist die ratloseste und damit primitivste Form politischen Handelns. Sie wendet den Blick ab von den Notwendigkeiten des Ganzen und schaut in eine fiskalische Tunnelröhre.

Weil die Freie Universität aber auf Universitas bestehen muss, ist der Kampf um die Hoch-schulmedizin identisch mit dem Kampf um die Lehre aus einer Wissenschaftsgeschichte, in der wir es uns nicht leisten können, auf wechselseitiges Wissen und Verstehen zu verzichten. Sei es das Verständnis psychischer Bedingungen des Krankseins, sei es das medizinische Grundverständnis für künftige Lehrkräfte bei der Diagnose kindlicher Lernschwierigkeiten, sei es die Biochemie als Basis des Verstehens neuronaler Prozesse.

Eine Gesellschaft, die über sich hinaus wachsen will, wird nicht zulassen, dass Provinzpolitiker mit drei Sätzen einer Koalitionsvereinbarung abendländische Kulturgeschichte negieren. Schon gar nicht in Berlin, das nicht zum ersten Mal Schauplatz ignoranter Politik ist.

Prof. Dr. Dieter Lenzen
Erster Vize präsident der Freien Universität Berlin

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