Revenge Bedtime Procrastination – Warum wir nicht wie angedacht ins Bett gehen.

Bereits im Bett liegen, aber versuchen die letzten paar Minuten des Tages zu nutzen. Doch das bleibt nicht ungestraft. Foto: cottonbro / CC BY-SA 2.0

Revenge Bedtime Procrastination – Warum wir nicht wie angedacht ins Bett gehen.

Später ins Bett gehen und am nächsten Tag unerholt aufwachen: Die Revenge Bedtime Procrastination ist ein neues Phänomen, welches auf schlechte Selbstregulierung zurückzuführen ist. Zwei Studierende berichten über ihre Erfahrungen.

von Jan Czogalla

01:34 Uhr – sie schaut kurz auf die Zeitangabe links oben am Bildschirmrand des strahlenden Handydisplays: Noch 5 Stunden und 26 Minuten, bis sie aufstehen muss, um sich für die Uni fertig zu machen. In letzter Zeit kommt es öfter vor, dass sie bis spät noch an ihrem Handy hängt und das Gefühl hat, dass der Sog von Social Media oder Netflix sie durch die Nacht zieht.
Am nächsten Tag unausgeschlafen und unkonzentriert, gehen ihr die meisten Aktivitäten langsamer von der Hand; und so liegt sie abends erschöpft wieder auf dem Bett und lenkt sich mit bunten Bildchen und spannenden Geschichten ab, um wenigstens etwas vom Tag mitnehmen zu können. Dieses Phänomen nennt sich Revenge Bedtime Procrastination oder ungelenk auf Deutsch: Aus Rache die Schlafenszeit aufschieben.
Mara studiert Medizin in Vollzeit im fünften Semester und muss jeden Tag viel Zeit investieren, um im Unterricht am Ball zu bleiben. So muss sie ihre Zeit täglich nach den Vorlesungen für Abgaben und das Lernen für die nächsten Prüfungen freihalten. Abends, nach dem erschöpfenden Tag, hat sie nicht das Gefühl, als hätte sie einen Moment für die Dinge gehabt, welche ihr Ruhe und Spaß bringen. Die Schlussfolgerung: Die Schlafenszeit aufschieben und erschöpft noch die Zeit in der Nacht “nutzen”.
In dieser Situation haben sich sicher die meisten schon mal befunden. Grundsätzlich scheint dies ein modernes Phänomen zu sein und auch die Wissenschaft steht noch recht am Anfang. Eine Studie von 2014 aus Utrecht (Niederlande) war eine der ersten Berührungspunkte mit der Revenge Bedtime Procrastination, bei welcher der Zusammenhang zwischen der Prokrastination mit der Ausprägung von Selbstkontrolle und den negativen Konsequenzen beschrieben wird.
Die Forscher*innen fanden heraus, dass das Phänomen weiter verbreitet ist als zuvor angenommen wurde. Jede dritte Person gab an, weniger als sechs Stunden Schlaf zu bekommen und die Prokrastination vor dem Schlafengehen scheint ebenfalls oft aufzutreten. Letztlich konnte eine Verbindung zwischen der Prokrastination vor dem Zubettgehen, eines kürzeren Schlafes und damit eine darauf folgende Tagesmüdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten festgestellt werden. Kurz: Wer die eigenen Schlafenszeiten nicht einhält, leidet am nächsten Tag darunter.

Eine lange Zeit am Handy hängen, obwohl längst Schlafenszeit ist. “Gibt schon Tage wo ich bis 1 Uhr TikTok scrolle” – Steven. | Foto: Ravi Kant / CC BY-SA 2.0

Ein Tag, an dem das Energielevel generell schon niedrig ist, ist noch schwerer zu überstehen. Es ist naheliegend, dass darunter die Aufgaben leiden, welche man sich vorgenommen hat. Das bedeutet längere Arbeitsphasen, weniger Erholung und damit mutmaßlich am Ende des Tages: erneute Prokrastination vor dem Schlafengehen. Ein Kreislauf, unter dem viele Personen leiden.

Dazu zwei Einblicke in die Sichtweise von einer Studentin und einem Vollzeit Videoeditor:

Wann tritt die Prokrastination auf?

Mara: „Naja, bis jetzt hab ich das gar nicht so gesehen. Aber wo du erzählst, was das ist, beobachte ich das schon so drei bis viermal in der Woche. Ich lerne, esse und dann ist die Luft raus.“

Steven: „Gerade an stressigen Tagen auf der Arbeit. Ich komme nach Hause und komme schon fast gar nicht mehr dazu, was zu essen. Dann liege ich auf dem Bett und beriesele mich mit meinem Handy. Aber auch, wenn ich mal was Wichtiges am nächsten Tag erledigen muss, worauf ich gar keinen Bock habe.“

Wie lange prokrastiniert ihr und was macht ihr währenddessen?

Mara: „Oh Gott, wahrscheinlich viel zu lange. Manchmal binge ich schon ‘ne Serie durch. Dann so 15 Folgen á…das will ich jetzt nicht sagen (“lacht”). Aber dafür fange ich manchmal früher an als ich zugeben will (“lacht”).”

Steven: „Gibt schon Tage, an denen ich bis 1 Uhr TikTok scrolle. Dann noch mal was Essen, am besten Reste und dann schauen, ob man müde genug ist. Neben TikTok ansonsten halt Netflix, YouTube, Twitch, such dir was aus. Manchmal auch Visual Novels.“

Der flimmernde Bildschirm unserer Endgeräte in der Nacht. Wie stark sind wir, dem zu widerstehen? | Foto: Nikolaos Dimou / CC BY-SA 2.0

Wie fühlst du dich am nächsten Tag?

Mara: „Taub, Kopfschmerzen? Hilft natürlich nicht besonders früh aufzustehen und zur Uni zu gehen oder zu Lernen, keine Frage. Je nach Wetter oder meinem Zyklus kannst du mich echt gar nicht gebrauchen. Kopfschmerztablette und los geht es.”

Steven: „Ja scheiße. Aber Energy Drinks regeln halt. Am Wochenende penne ich dann ewig lange, weil wir am Freitag Abend eh noch was unternehmen. Gibt Wochenenden, an denen nichts passiert…eigentlich auch komisch. Sollte die Zeit sein, wo ich eben nicht (!) prokrastiniere.”

Würdest du sagen, du hast eine gute Selbstkontrolle?

Mara: „Wenn ich die nicht hätte, würde ich das Studium nicht schaffen (Haha). Aber nein – manchmal denke ich, das geht alles für das Lernen drauf und in meiner Freizeit will ich dann nur einfach alles laufen lassen. Vielleicht hängt das dann damit zusammen, dass ich nach dem Tag einfach keine Regeln mehr befolgen will.”

Steven: „Ne, nicht wirklich. Ich schaue, dass ich gut esse und auch manchmal Sport mache. Aber sonst nicht so. Vielleicht ist das der Fluch des Künstlers. Ich verkopfe mich schon gerne in Dinge. Auch wenn das eigentlich gar nicht so sinnvoll ist.“

“Ich studiere ja nicht seit gestern und hab’ das Gefühl, dass diese Phase schon ewig anhält.” – Mara

Wo liegt deiner Meinung nach die Ursache für die Prokrastination?

Mara: „Klar das Studium und fehlende Hobbies. Wenn ich schon ein Hobby mache, dann will ich das auch ganz embracen. Nicht nur so nebenher. Aber vielleicht würde ich dann besser zur Ruhe kommen. Habe auch Meditation versucht. Aber denke, das muss man länger durchziehen und nicht nur sporadisch angehen.”

Steven: „Perfektionismus und keine geregelten Pausen, schätze ich. Das nächste Projekt muss halt krasser sein und schneller abgeschlossen werden. Man will ja auch besser werden. Da bin ich, und das beobachte ich auch bei Anderen, einfach ungeduldig.”

Könnt ihr aktiv etwas dagegen tun?

Mara: „Nein, nicht wirklich. Ich studiere ja nicht seit gestern und hab’ das Gefühl, dass diese Phase schon ewig anhält. Ich habe mich dran gewöhnt. Aber es gibt eben Phasen, wo ich denke, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen. Daran muss oft mein Umfeld leiden. Aber so geht es vielen meiner Kommilitonen.”

Steve: „Nur mit meinem Partner. Wenn er bei mir ist, komme ich zur Ruhe und dann entspanne ich mich. Ich merke dann, wie ich sehr unter Strom stehe und kann aber dann schnell einschlafen. Wenn ich so nachdenke, glaube ich aber, dass ich am Ende der Woche oft denke, dass ich nichts erlebt habe und dann bin ich sauer auf mich selber, dass ich in Berlin wohne und keinen Moment für Freizeit hatte.”

Wie können wir den Kreislauf durchbrechen, welcher uns Nachts wach hält?

Eine einfache und universelle Lösung für die beschriebenen Abläufe gibt es nicht, da jede Situation individuell ist. Grobe Ideen und Herangehensweisen gibt es dennoch. Die Selbstkontrolle ist Dreh und Angelpunkt hinter den selbst auferlegten Zielen und Regeln unseres Tages. Wenn es an dieser mangelt, können schon kleine Rituale wie “eine halbe vor dem Schlafengehen die technischen Geräte ausschalten” oder routinierte Meditation helfen.
Auch Wecker und dedizierte Apps machen auf Deadlines für den Tag aufmerksam. Sich „Ziele” zu setzen, bereitet den Körper vor und markieren einen klaren Schlussstrich. Auch die „Fünf-Sekunden Regel”, bei welcher man im Kopf von fünf herunter zählt, um dann aufzustehen, kann schon kurzfristig helfen.

Auch Mara und Steven bleiben oft bis in die Nacht wach. Doch wir können stärkere Selbstkontrolle erlernen. | Foto: cottonbro / CC BY-SA 2.0

Für längerfristige Lösungen wird empfohlen, das Bett und den Schlaf mit positiven und beruhigenden Gefühlen zu verbinden: Meditation, Reflektion des Tages, der Verzicht auf neue Inhalte und Informationen (zB. durch Media Apps) sind ein Teil. Auch das Bett selber kann von einem „notwendigen Übel” in einen Ort der Ruhe verwandelt werden. Ein gemütlicher Rückzugsort, welcher auch nur für diesen Sinn benutzt wird.
Es gibt weitere Faktoren, die den Schlaf zu einem unschönen Umstand des Tages machen können. Eine unpassende Matratze oder Kissen; eine helle oder geräuschvolle Umgebung; oder Unwohlsein durch spätes Abendessen können die Schlafhygiene stark beeinflussen, die Erholung mindern und damit den Schlaf als “negative Erfahrung” framen. Hier hilft nur die Auseinandersetzung mit all diesen Themen, um sich einer erholsamen und beruhigenden Nacht zu nähern und dann aktiv und regeneriert in den nächsten Tag zu starten.


Jan Czogalla studiert im 4. Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, sowie Management und Chinesisch an der FU Berlin. Es ist ihm ein Anliegen, Infos rund um Themen wie Schlafhygiene und gesunde Ernährung zu teilen und Perspektiven zu bieten.


2022-10-21T23:34:40+02:00 Kategorien: Gefühl + Glaube, Lesen|Tags: , , , |