Die Karriere für Menschen mit Behinderung ist meistens schon vorgezeichnet. Auch der Weg von Konstantin führt in eine Werkstatt für behinderte Menschen.
von Pia Kujat
Wie jeden Nachmittag wird der 24-jährige Konstantin mit seinem Fahrdienst von der Arbeit nach Hause in den Prenzlauer Berg gebracht. Mit geübten Handgriffen hebt ihn seine Mutter Regine aus dem Treppensteiger und in den Rollstuhl. Der junge Mann mit dem wilden Haar manövriert bedacht durch den schmalen Flur der Wohnung.
Konstantin arbeitet seit Mai 2018 für die Delphin-Werkstätten in der Abteilung Metall, einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) in Berlin Pankow. „Meistens mache ich Sortierarbeiten, momentan mit Bohrern von Bosch. Ich muss prüfen, ob die magnetisch sind. Ich hab‘ dafür so einen Stabmagneten und insgesamt drei Kisten. Eine für die unsortierten, eine für die magnetischen und eine für die nicht-magnetischen Bohrer“, erklärt er. Aufgrund seiner Spastik ist Konstantin feinmotorisch eingeschränkt. So fällt es ihm zum Beispiel leichter am Computer zu schreiben als mit der Hand. Neben seiner Arbeit spielt der leidenschaftliche Filmliebhaber in der Jugendgruppe des Ramba Zamba Theaters und produziert in einem Team Stop-Motion- und Kurzfilme.
Für Menschen mit Behinderung ist es schwierig, einen Job zu finden, der den persönlichen Interessen und Anf- orderungen so gut wie möglich entspricht. Es gibt verschiedene Einrichtungen, die bei der Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt helfen können. Auch größere Betriebe sollen inklusiv anstellen. Diese Umstände klingen zuerst vielversprechend – die Realität sieht jedoch anders aus. Eine Stelle in einer Werkstatt anzunehmen ist für viele Menschen mit Behinderung der einzige Weg in das Arbeitsleben. Dabei spielt auch die schwierige Kommunikation mit den Ämtern eine große Rolle. Die Erneuerung des Bundesteilhabegesetzes von 2020 bringt aber einige Verbesserungen.
Allgemeiner Arbeitsmarkt? Abgelehnt.
Als Konstantin mit der Schule fertig ist, begibt er sich motiviert auf Arbeitssuche. Um sich so selbstständig wie möglich auf eine passende Stelle bewerben zu können, möchte er von seinem Budget für Arbeit Gebrauch machen. Diese finanzielle Hilfe vom Arbeitsamt ist für den Arbeitgeber bestimmt, um Konstantin in den Berufsalltag einzugliedern. Jeder Mensch mit Behinderung hat das Recht auf Auszahlung dieses Betrags, um sich selbst einen Arbeitsplatz zu suchen – das Arbeitsamt hat in diesem Fall aber nicht kooperiert. Regine berichtet: „Wir sind da auch hingegangen. Die Dame vom Arbeitsamt hat aber nur gemeint: Ich sag Ihnen gleich, wir werden das ablehnen. Das hatten wir nie schriftlich, nur einmal mündlich in diesem Gespräch. Das Arbeitsamt hat komplett gemauert.“
Da Behinderungen besonders individuell sind und die Arbeitsleistung von Menschen mit Behinderung selten in vordefinierte Kategorien fallen, ist es normal, viele verschiedene Praktika auszuprobieren und Jobs anzufangen. Fehlschläge gehören dazu. Konstantin versucht es unter anderem mithilfe des Annedore-Leber-Berufsbildungswerkes. Die Anforderungen sind jedoch zu hoch – nach drei Wochen wird Konstantin kurzfristig von dem Vertrag entbunden. Es sei nicht das Richtige gewesen. Seine Mutter Regine berichtet von der plötzlichen Botschaft: „Sie haben gesagt, dass Konstantin ab nächster Woche nicht mehr dort sein kann. Und ich dachte mir nur: Wie soll ich das jetzt machen? Ich muss doch selbst arbeiten gehen.“
Ein durchschnittlicher Stundenlohn von 2,59 Euro
Jeder Betrieb, der seinen Sitz in Deutschland hat und über 20 Mitarbeiter beschäftigt, muss nach staatlicher Vorgabe eigentlich eine Beschäftigungsquote für Menschen mit Behinderung erfüllen. Trotzdem bieten viele Betriebe solche Arbeitsplätze nicht an. Das liegt an der Ausgleichsabgabe. Sie kann von dem Betrieb an den Staat gezahlt werden, wenn keine Person mit Behinderung angestellt wird. Das ist ein monatlicher Betrag zwischen 125 und 320 Euro – eine verschmerzbare Summe. Die Ausgleichsabgabe wird wiederum für die Finanzierung der Behindertenwerkstätten genutzt. Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung in Werkstätten wird vom Staat deutlich unterstützt, das liegt auch an ihrem wirtschaftlichen Nutzen.
Werkstätten für behinderte Menschen werden in den 1960er Jahren gegründet und sind seitdem fest im deutschen Wirtschaftssystem verankert. Die Beschäftigten haben keinen Arbeits- oder Tarifvertrag und werden stattdessen mit einem Arbeitsentgelt entlohnt. Nach einer Statistik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die den Zeitraum 2017 bis 2019 umfasst, beträgt das Werkstatt-Entgelt im Durchschnitt 207 Euro pro Monat. Bei einem sechsstündigen Arbeitstag an den Werktagen beträgt der durchschnittliche Stundenlohn also 2,59 Euro.
Das widersprüchliche System
Die Werkstätten haben zwei gesetzliche Aufträge: Zum Ersten sollen sie Menschen mit Behinderung individuell fördern, qualifizieren und beruflich rehabilitieren, damit sie möglichst schnell in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Zum Zweiten sind Behindertenwerkstätten dazu verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten. Hier zeigt sich der größte Widerspruch des Systems: die Vermittlungsquote auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt liegt nach Aussage der Langzeitkampagne JOBinklusive seit Jahren bei einem Durchschnitt von 1%, eine offizielle Quote gibt es nicht.
Großunternehmen wie Volkswagen oder Bosch lagern ihre Produktionen und Dienstleistungen an Werkstätten für Menschen mit Behinderung aus. Die Unternehmen zahlen dann einen verminderten Mehrwertsteuersatz von 7%. Auch der Staat profitiert: nach einer bundesweiten Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft WfbM aus dem Jahr 2014 fließen die staatlichen Investitionen zu 51% durch Steuer-, Sozialversicherungs- und Solidaritätsbeiträge sofort wieder in die öffentliche Hand zurück. Werkstattleistungen kosten also wenig und erzeugen finanzielle Mehrwerte.
In einer Stellungnahme aus dem April 2021 erklärt die Bundesarbeitsgemeinschaft, dass ihre Werkstätten selbst Non-Profit-Organisationen seien, deren Aufgabe darin bestünde, die Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen zu erhalten und auszubauen. Dabei sei zu berücksichtigen, dass viele ihrer Beschäftigten dauerhaft eingeschränkt seien und eine Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt in diesem Fall nicht das Ziel sein könne. Außerdem unterstütze die BAG WfbM alle Initiativen zur Erhöhung des Entgelts.
„Unser Chef hat angesprochen, dass wir jetzt mehr verdienen werden.“
Auch wenn Konstantin keinen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefunden hat, freut er sich darüber arbeiten zu können. Stolz erklärt er: „Durch meine Arbeit verdiene ich ja Geld, das habe ich mir erarbeitet. Und ich will auch weiterhin Geld verdienen, damit ich mich beteiligen kann.“ Seit der Erneuerung des Bundesteilhabegesetzes 2020 wird der Grundbetrag des Werkstattentgelts bis 2023 gestaffelt auf mindestens 119 Euro pro Monat erhöht.
Die Auswirkungen bemerkt Konstantin jetzt schon. „Unser Chef hat angesprochen, dass wir jetzt mehr verdienen werden. Und ich krieg‘ ja noch Grundsicherung“, erzählt er. Grundsicherung bekommen Menschen mit Behinderung neuerdings, wenn sie nicht mehr als 5.000 Euro Gesamtvermögen besitzen, vorher waren es 2.600 Euro. Alles, was über diesem Betrag liegt, muss dennoch an den Staat abgegeben werden. Regine gibt zu bedenken: „Mist ist eben diese Abhängigkeit, dass du nicht selbst ein bisschen Geld ansparen kannst. Du kommst aus diesem System nicht raus. 5.000 Euro sind ja auch keine Altersvorsorge.“
Ein Antrag für das Mittagessen
Die Beantragung der Hilfen und die Kommunikation mit dem Sozialamt bleiben Konstantin ein Dorn im Auge. Genervt zeigt er auf die vielen Briefe: „Ich weiß manchmal gar nicht was ich machen soll. Die werfen immer mit ihren Fachbegriffen um sich.“ Auch auf Anfrage hat Konstantin von den Ämtern noch nie einen Brief in leichter Sprache zugeschickt bekommen. Er muss ständig Anträge an das Sozialamt stellen, seien es Kostenvoranschläge für den Fahrdienst, die Grundsicherung oder seit Kurzem auch das Geld für das Mittagessen in der Werkstatt.
Eigentlich bestimmt das Bundesteilhabegesetz, dass das Mittagessen jetzt nicht mehr automatisch über die Werkstatt abgerechnet wird, sondern über das Sozialamt beantragt werden muss. In Konstantins Fall ist wegen der Corona-Pandemie jedoch niemand zu erreichen. „Die haben überhaupt nicht reagiert auf den Antrag. Ein Jahr lang nicht“, grummelt er in seinen Bart.
Insgesamt hat das neue Bundesteilhabegesetz viele Verbesserungen auf den Weg gebracht. Auch die vielen Anträge laufen im Fall von Konstantin nun ausschließlich über eine Stelle, das erleichtert die Organisation sehr. Das Arbeitsentgelt in der Werkstatt erhöht sich bis 2023 jährlich um 10 Euro und die Grundsicherung ist nicht mehr von dem Einkommen der Eltern abhängig. Konstantin hat dem undurchsichtigen Bürokratie-Dschungel getrotzt und hat heute einen festen Arbeitsplatz. Der 24-Jährige versteht sich gut mit seinen Kollegen und Chefs, kann seinen Hobbys nachgehen und Zeit mit seiner Familie und seinen Freunden verbringen. Das sei ihm am wichtigsten, wie Konstantin mit einem strahlenden Lächeln erklärt.
Pia Kujat studiert im 5. Semester und Philosophie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Durch ihre Familie hat sie direkte Erfahrungen mit den Problemen, die Menschen mit Behinderung im Alltag begegnen. Deshalb möchte sie mehr Aufmerksamkeit für das Thema wecken.