Wie arbeiten die Straßenzeitungsverkäufer*innen in Berlin? Wir geben euch einen Einblick in den Alltag der Motz-Verkäuferin Karin E., die die Motz nun schon seit fast 25 Jahren verkauft.
von Anna-Lena Töpfer
Langsam und beschwerlich bewegt sich Karin E. mit ihrem Rollator auf den Wohnwagen am Nollendorfplatz zu. Das ist die Ausgabestelle der „motz”. Hier holt sich die 57-Jährige seit fast 25 Jahren wöchentlich Ausgaben der Berliner Straßenzeitung ab. Der Wohnwagen ist noch geschlossen, also setzt sie sich auf ihren Rollator und wartet: „Ick hab doch Zeit, auf mich wartet doch keener“, sagt sie im unverkennbaren Berliner Dialekt. Seit den 90er-Jahren arbeitet Karin E. als Verkäuferin der „motz“, um damit über die Runden zu kommen. Jeden Mittwoch fährt sie zur Ausgabestelle am Nollendorfplatz und erwirbt für einen Unkostenbeitrag von je 40 Cent zehn Zeitungen. Diese kann sie später für 1,20 Euro weiterverkaufen. „Jeder kann sich so viele Zeitungen holen, wie man sie braucht. Aber ohne Geld kriegste keene.“ Der gemeinnützige Verein motz & Co e.V. ist seit seiner Gründung 1995 Herausgeber des Straßenmagazins. Er verzichtet auf staatliche Unterstützung und finanziert sich ausschließlich durch Sach- und Geldspenden sowie Eigenleistungen. Der größte Bestandteil ist der Verkauf der Straßenzeitung.
Karin E. sitzt auf ihrem Rollator, zündet sich eine Zigarette an und pafft den Rauch in die warme Mittagsluft. Links hat sie einen Aschenbecher befestigt, rechts einen Becher für Geld. Stolz erzählt sie von ihrem Stammplatz, an dem sie seit Jahrzehnten die Straßenzeitung verkauft: „Ick steh immer am gleichen Ort, vor Penny am Klausnerplatz. Jeden Tag von 8-11 Uhr verkauf ick dort die Zeitung.“
Mittlerweile hat sie viele Stammkund*innen, hauptsächlich ältere Menschen. Wenn sich andere an ihren Platz stellen wollen, werden sie weggeschickt. Dafür sorgen ihre Stammkund*innen oder der Leiter der Penny-Filiale, den Karin E. inzwischen gut kennt. Mit erhobenem Kopf und glänzenden Augen berichtet sie: „Hier nicht, sagen sie dann. Der Platz bleibt frei und sauber für die Zeitungsfrau.“
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsalltag
Derweil wartet die Zeitungsverkäuferin immer noch auf die Öffnung des Wohnwagens. Verärgert schaut sich die 57-Jährige nach allen Seiten um und klagt: „Wo bleibt der denn heute?“ Nach anderthalb Stunden Verspätung kommt ein Mitarbeiter der „motz“ mit den Zeitungen. Peter arbeitet seit drei Jahren in der Ausgabestelle am Nollendorfplatz. Der Wohnwagen steht dort seit 26 Jahren und ist mittlerweile der einzige Vertriebsstandort geworden. Seit einiger Zeit kommen immer weniger Motz-Verkäufer*innen, um sich Zeitungen abzuholen. „Das liegt an der Konkurrenz“, erzählt Peter. „Andere Zeitungen sind umsonst. Die will zwar niemand haben, aber die Verkäufer müssen sie nicht bezahlen und das ist für viele attraktiver. Gerade jetzt in Zeiten von Corona, wo sowieso weniger Leute unterwegs sind, die dir eine Zeitung abkaufen könnten, überlegen sich die Verkäufer dreimal, wofür sie ihr Geld ausgeben“.
Als Peter endlich den Wohnwagen aufschließt ist Karin E. bereits empört und genervt. Nachdem sie herausgefunden hat, dass es keine neue Ausgabe der „motz“ gibt, wird sie wütend: „Das gibt’s ja gar nicht. Was soll das?!“ schimpft sie. „Spät uffmachen und dann noch mit alten Zeitungen, die will doch keener mehr.“ Durch die Covid-19 Pandemie haben sich die Öffnungszeiten der Ausgabestelle nach hinten verschoben. Dadurch haben die Verkäufer*innen weniger Zeit ihre Zeitungen zu vertreiben und somit geringere Einnahmen. Durch die Pandemie wird auch seltener publiziert. Früher wurde alle 14-Tage eine Ausgabe herausgegeben. Jedoch ist in der letzten Zeit die Nachfrage gesunken, weshalb aktuell nur noch alle sechs bis acht Wochen neue Zeitungen gedruckt werden. Die Verkäufer*innen müssen lange Zeit mit einer Ausgabe auskommen, was ihre Arbeit zusätzlich erschwert: „Sechs Wochen ist zu lang für die Leute. Meine Kunden wollen nur die neuen Zeitungen. Die fragen mich schon immer wann es endlich so weit ist.“, klagt die Verkäuferin.
Warum es wichtig ist, Straßenzeitungen zu kaufen
Die „motz“ berichtet über sozial- und stadtpolitische Themen. Damit will der Verein eigenen Angaben zufolge aufklären, informieren und Verständnis für die Belange wohnungsloser, einkommensarmer und benachteiligter Menschen schaffen. Zeitungen zu kaufen, unterstützt diese Anliegen.
Mit dem Geld, welches Karin E. durch den Verkauf der Zeitungen verdient, geht die 57-Jährige Lebensmittel einkaufen. Ohne diese Einnahmen würde sie nicht auskommen. „Manchmal geben mir die Menschen auch so Geld, ohne eine Zeitung zu kaufen. Aber die meisten nehmen eine mit. Mir ist beides recht.“. Während ihre Blicke in der Gegend herumwandern und sie sich eine weitere Zigarette anzündet, erzählt Karin E. stockend, dass sie 10 Jahre lang auf der Straße gelebt hat. 2008 konnte sie eine Wohnung in Charlottenburg beziehen, in welcher sie bis heute allein wohnt. Der „motz“ ist sie all die Jahre treu geblieben. „Ick hab mal hier mal da geschlafen. Aber egal wo ick war, die Zeitungen hab ick mir dennoch jede Woche geholt und verkauft.“ Die 57-Jährige schildert, wie froh sie über ihre Tätigkeit ist. „Ick kann nicht den ganzen Tag in der Bude hocken.“ Die Arbeit gebe ihr eine klare Tagesstruktur und soziale Begegnungen. Zufrieden bemerkt sie: „Ick bin hier wirklich gut aufgenommen worden bei der Motz, ick will auch gar keene andere“.
Straßenmagazine wie die „motz“ geben Menschen wie Karin E. eine finanzielle Soforthilfe und unterstützen sie dabei, ihre aktuelle Situation zu verbessern. Mit nur 1,20 Euro kann man den Verkäufer*innen auf viele verschiedene Weisen helfen.
Anna-Lena Töpfer studiert Sozial- und Kulturanthropologie sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im vierten Semester. Mit ihrem Beitrag möchte sie auf die Menschen, die Straßenzeitungen verkaufen und ihre Belange aufmerksam machen.