Janinas Alltag auf dem zweiten Arbeitsmarkt

Janinas Alltag auf dem zweiten Arbeitsmarkt

Arbeit in Deutschland kennt viele Formen und Facetten. Die einen arbeiten als Kanalarbeiter*innen, die anderen als Freiberufler*innen und wieder andere als Angestellte im öffentlichen Dienst. Trotz unterschiedlicher Gehälter, ungleicher Bedingungen und verschiedener Steuersätze gibt es eine Gemeinsamkeit: Sie alle befinden sich im System des ersten Arbeitsmarktes. Für Menschen, die den Anforderungen nicht gerecht werden können, existiert noch eine Parallelwelt. Dort arbeitet Janina.

von Ina Raterink

Aus einem Karton heraus lächelt Justin Bieber mit seinen strahlend weißen Hollywoodzähnen während ich Lieblings- CD’s und DVD’s in die Hand gedrückt bekomme. Mark Forster vs. Die Schöne und das Biest vs. 50 Shades of Grey.
„Justin Bieber ist nicht mehr so. Bald geh‘ ich auf ein Konzert von Vanessa Mai!“
„Ist das diese junge Schlagersängerin?“
„Ja.“
„Sehr gut. Das klingt für mich irgendwie nach Erwachsenwerden. Von Disney zu 50 Shades of Grey. Von Justin zu Vanessa. Ich erinnere mich noch sehr gut an das Justin Bieber Konzert damals vor sieben Jahren.“
„Ja, das war toll.“
„Das ist Ansichtssache. Auf jeden Fall ein Erlebnis.“
Wir grinsen. Sie umarmt mich.

 

„Ich weiß nicht, muss ja nun mal alles gemacht werden“

 

Die 26-jährige ist innerhalb ihrer WG umgezogen – in ein größeres Zimmer. Sie hat ein größeres Bett, einen größeren Schrank und viele Poster. Ein gewohnt buntes Chaos zieht sich durch ihr Interieur. Bastelmaterialien, halbfertige Mandalas und ein alter angemalter Schreibtisch. Hier und da in bunter Schrift liest man ihren Namen: Janina. Sie erzählt von ihrer Arbeit, ihrem Leben in der WG und davon, was alles passiert in den letzten Jahren passiert ist. Nicht alles war schön aber manches dafür umso schöner. Trauer, viel Beziehungschaos und schließlich doch eine gute Liebesgeschichte. Einige Praktika und die ständige Suche nach dem richtigen Job. Ihre Erzählungen klingen nach dem vielen Hin und Her einer Anfang 20-jährigen. Geschichten, wie sie viele erzählen könnten und doch gibt es einen kleinen Unterschied: Janina hat eine geistige Behinderung, sie wohnt in einer 24-stündig betreuten WG und arbeitet auf dem „zweiten Arbeitsmarkt“ in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.

„Freizeit oder Arbeit? Ich finde beides wichtig. Muss ja beides sein. Auch wenn ich ab und zu nicht so gerne zur Arbeit gehe, weil mich jemand geärgert hat oder so, ist die Arbeit ja wichtig.“

„Arbeit ist mir wichtig“

Wegpacken, neues Päckchen, neuer Aufkleber. „Gerade? Ja.“ Sorgfältig legt sie jede kleine Packung links in die Kiste. „Rechts sind die, die noch Preisschilder brauchen.“
Griff nach rechts, Preisschild von der Rolle ziehen, vorsichtig aufkleben, in die Kiste nach links wegpacken. Sind alle Packungen beklebt, werden sie am Nachbartisch in größere Kartons gepackt. „Immer zwölf kommen da rein.“ Dann packen ‚die Männer‘ alles auf Paletten, um den weiteren Transport vorzubereiten. Hinter ihr werden Pillen gedreht. „Das sind so Pillen mit lustigen Sprüchen. Die werden dann da eingerollt und kommen zu sechst in eine Packung“.
„Was machst du lieber… Pillen drehen oder Preisschilder?“
„Ich weiß nicht… Muss ja alles nun mal gemacht werden.“ Schulterzucken.
Weiter hinten werden in mehreren Schritten große Flaschen verpackt. Jeder hat hier eine Aufgabe. Verpacken, kleben, drehen, schneiden. Kleben, drehen, verpacken, schneiden.
Ein konstantes Lärmpegel ist zu hören: Rascheln, einige Gespräche und kleine Pillendosen, die aus einem Karton gekippt werden.
72 Menschen arbeiten in der Werkstatt. Früher war das Gebäude ein Lidl, man erkennt es am typischen Discounter-Bodenfliesen-Design.  Auch die blauen Türen erinnern noch an den alten Supermarkt. Heute befindet sich hier eine Außenstelle einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Der Raum hat Hallencharakter, getrennt wird er durch hohe graue Regale, in denen Materialien lagern, die noch bearbeitet, verpackt, verklebt oder zerschnitten werden.

„Das ist die Montage. Wir haben hier ziemlich viel Abwechslung. Man kriegt immer mal was Neues zu tun.“

Janina sitzt alleine an einem Tisch und erledigt ihre Arbeit. Stetig klebt sie die Preisschilder auf die Packungen. „Wenn ich mal was nicht so gut hinkriege, wird mir geholfen. Das ist ja so. Was ich halt auch besonders gut kann ist helfen. Wenn zum Beispiel jemand im Rollstuhl sitzt und nicht weiter kommt, dann helfe ich dem.“

Werkstattfähig oder nicht?

Sie hat schon ein paar Praktika hinter sich. Alle im Werkstattbereich.
Um in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten zu können, findet nach einem Praktikum zunächst das sogenannte Eingangsverfahren statt. Dort wird die Werkstattfähigkeit getestet: inwiefern ist die Person in der Lage, feinmotorische Tätigkeiten auszuführen oder für welche Arbeit ist die Konzentration und Motorik ausreichend? Darauf folgt der Berufsbildungsbereich, in dem für die Dauer von zwei Jahren eine Ausbildung erfolgt. In diesen Zeit kann sich die Person aussuchen, ob sie alle halbe Jahre wechselt oder in einer Gruppe bleibt. Janina hat diese zwei Jahre in der Küche gearbeitet. „Das war mir aber zu anstrengend, das war nichts für mich.“

Sie braucht Zeit für die Dinge, die sie macht oder lernt. Langsam aber gut erledigt sie dann alles, was ihr aufgetragen wird. Wenn es Abwechslung gibt, ist sie die erste, die dabei sein will. Janina möchte ständig Neues lernen und ausprobieren, überlegt sich Praktikumsmöglichkeiten und nimmt jeden Dienstag an einer pädagogischen Fördermaßnahme teil. Dort werden vielfältige Aufgabengebiete vermittelt. Heute hatten sie Mathe:
„Was habt ihr da gerechnet?“
„Weiß ich nicht mehr.“

Ein Praktikum im Kindergarten – fast unmöglich

Auch über ein Praktikum im Kindergarten oder im Altersheim hat sie schon nachgedacht. Die Chancen einen Praktikumsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, sind allerdings gering. Die Anforderungen scheinen zu hoch für jemanden, der ein bisschen mehr Zeit und Verständnis braucht.

In ihrer WG wird der Geburtstag ihrer Mitbewohnerin gefeiert. Viele Gäste sind da, das Haus ist voll. Eine junge, freundliche Frau im Rollstuhl ist auch zu Besuch. Sie spricht nicht besonders gut, aber Janina versteht alles. Sofort ist sie da, hilft ihr beim Ausziehen der Jacke, setzt sich selbstverständlich neben sie, um sie beim Kuchenessen zu unterstützen. Sie hilft ihr beim Toilettengang, beim Anziehen der Jacke und wartet mit ihr draußen in der Kälte auf den Fahrdienst. Eine Rolle, in der sie aufgeht.

„Wie sieht das mit einem Praktikum im Seniorenheim aus? War davon nicht mal die Rede?“
„Ich weiß nicht, ob das geht. Ich denke mal nicht.“

Einen passenden integrativen Praktikumsplatz zu finden ist nicht leicht. Einmal die Woche spricht Janina mit einer Integrationsbegleiterin der Werkstatt über ihre Perspektiven. Ihre Wünsche wechseln oft. Sie scheint nicht so richtig zu wissen, was sie möchte. Den Wunsch in einer Kita zu arbeiten äußert sie allerdings häufiger. Das Seniorenheim war früher Janinas eigentliches Ziel, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie nicht damit umgehen könnte, dass Menschen dort auch sterben. 

Kitas lehnen die Praktikumsanfragen der Integrationsbegleiterin grundsätzlich ab. Es wäre zu viel Verantwortung. Menschen mit Behinderung werden wie ein zusätzliches Kind betrachtet, weil sie nicht mit den Kleinen alleine gelassen werden könnten. Eine Möglichkeit für ein Praktikum außerhalb des Werkstatt-Rahmens wäre die Kita-Küche. Dort könnte sie eingebunden werden, wäre eine Hilfe und hätte eine reale Chance übernommen zu werden.

Die Sache mit der Integration

Integration funktioniert nur selten reibungslos. Schafft eine beschäftigte Person den Sprung aus der Werkstatt, läuft der Arbeitsvertrag trotzdem noch über diese. Im Prinzip ist als ausgelagerter Arbeitsplatz zu werten; die neue Firma zahlt für die Leistung der integrierten Person einen Obulus an die Werkstatt. Das Gehalt von durchschnittlich 180 Euro im Monat bleibt, die Ansprüche steigen jedoch. 

Regelmäßige Begleitung vom Werkstattpersonal ist nötig, um bei Problemen vermittelnd zur Seite zu stehen. Das passende Umfeld stellt eine der wichtigsten Faktoren bei der Integration dar. Der Mensch mit Behinderung muss zeitweise von Kollegen aufgefangen und begleitet werden. Eine intensivere Einarbeitung ist unumgänglich.

Janina arbeitet Montags bis Freitags. 7:30 – 14:30 Uhr, es gibt vier Pausen und mittags ein Essen. Dafür zahlt sie monatlich 22 Euro. „Das ist ok. Manchmal schmeckt das echt gar nicht, aber ist ok.“
Da Menschen mit Behinderung nur einen gewissen Betrag verdienen oder sparen dürfen, hat die Werkstatt ein internes Belohnungssystem eingeführt. Neben dem Grundgehalt, das allen zusteht, gibt es dort zwei weitere Möglichkeiten Boni zu erhalten. Beispielsweise werden von den jeweiligen Gruppenleitern Punkte für gutes Sozial- oder Arbeitsverhalten vergeben. Ab einer bestimmten Anzahl an Punkten werden dann Gutscheine für Elektronikmärkte oder für andere Einkaufsmöglichkeiten verteilt. Das soll auch Menschen motivieren, die langsamer sind. Ein sogenannter Leistungslohn wird darüber hinaus an Mitarbeiter*innen ausgezahlt, die eine besonders hohe Stückzahl schaffen. Also besonders schnell und gut arbeiten. Janina zählt eher zu denen, die Gutscheine statt Leistungslohn bekommen.

Sie bringt einen Schwung fertiger Verpackungen zum Nachbartisch. Ein kurzes Geplänkel mit den Kollegen. Es geht darum, welche Arbeiten sie gerne erledigt. „Und wer mault am meisten?“ stichelt sie ein Kollege. „Heeeey.“ Sie grinst.

Behindert oder nicht – die Arbeitsatmosphäre zählt

Janina ist eine sensible Person, die viel Verständnis und unbedingt viel Zeit braucht. Ein stabiler Rahmen, ein Umfeld, das sie unterstützt wäre für eine Integration auf den ersten Arbeitsmarkt nötig. Ob das unbedingt an der Behinderung liegt, lässt sich nur mutmaßen. Schließlich brauchen viele Menschen ein angenehmes Arbeitsklima, um gut zu funktionieren.
Es scheint, als biete die Werkstatt eine Art Schutzraum für Menschen mit Behinderung. Viele, die das Leben auf dem ersten Arbeitsmarkt „erschnuppern“ konnten, kommen zurück.

Dies wirft die Frage auf, ob wir diese Art des Schutzes für Menschen mit Einschränkungen benötigen, oder ob es dem Rest der Gesellschaft an Kraft fehlt, um Schwächere mit einzubeziehen?

Das Recht auf einen Platz in der Mitte der Gesellschaft

Offiziell haben Menschen mit Behinderung seit zehn Jahren ein Recht auf einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt. Firmen sind dazu verpflichtet, mindestens 5%  an Mitarbeiter*innen mit Behinderung einzustellen. Sie können sich allerdings „freikaufen“, indem sie Produktionsprozesse an Werkstätten für Menschen mit Behinderungen übergeben. Das ist für die Firmen lukrativ, da es äußerst günstig ist, in Werkstätten zu produzieren. Sie verhindern damit außerdem eine Strafe. Viele Institutionen nehmen jedoch ein Bußgeld von knapp 300 Euro monatlich hin.

Theoretisch werden vom Bund sogar Gelder für Umbaumaßnahmen in den Firmen bereitgestellt. Dies gilt für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Eine Lösung, wie genau Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung integriert werden könnten, gibt es bisher nicht. Dafür bräuchte es Geduld, Empathie und ein hohes Maß an sozialer Kompetenz von allen Seiten.

Ein passender Rahmen

In den letzten Jahren hat sich Janina zum Positiven entwickelt. Sie ist ehrgeiziger geworden, traut sich mehr zu und gibt nicht mehr so schnell auf. Oftmals scheint es, als wisse sie nicht, was sie will. Aber manchmal zeigt sie dann doch sehr klar wo sie steht und was sie möchte. Vor circa 8 Jahren ging es darum einen passenden Ausbildungsbereich für sie zu finden. Berlin hat im Gegensatz zu anderen Gebieten relativ viel Auswahl. Es gibt integrative oder anthroposophische Bereiche. In Pankow konnte Janina beispielsweise ein Praktikum in einer Werkstatt machen, die eine Kerzenzieherei hatte.
„Das habe ich gerne gemacht mit den Kerzen. Aber da konnte ich irgendwie dann nicht weiterarbeiten, weil das mit dem Fahrdienst nicht geklappt hat.“ Da sie in Hellersdorf wohnt, wäre der Weg zu weit gewesen. Theoretisch kommt Janina nach einiger Trainingszeit alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurecht. Der Weg nach Pankow wäre zu weit gewesen, vielleicht auch zu kompliziert. Einen Fahrdienst bekommt sie aufgrund ihrer Fähigkeiten nicht bezahlt. Also entschied sie sich vor acht Jahren für genau diese Werkstatt, in der sie bis heute arbeitet. Der Weg war nicht zu weit, die Menschen dort kannte sie teilweise schon. Dennoch blieb der ständige Wunsch nach Veränderung und Abwechslung.

Letzte Woche hat Janina sich beim Gespräch mit ihrer Integrationsbegleiterin ein wenig mit dem Gedanken angefreundet, doch ein Praktikum in der Kita-Küche zu machen. „Dann kann ich den Kindern wenigstens ab und zu beim Spielen zugucken.“


Ina Raterink studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politikwissenschaft. Sie hat vorher als Heilerziehungspflegerin im sozialen Bereich gearbeitet. Dieser Artikel ist die Schnittstelle zwischen ihrem alten Beruf und dem neuen Weg in den Journalismus.