Steigende Schülerzahlen: Wustermark unter Druck

Steigende Schülerzahlen: Wustermark unter Druck

Wustermark im Berliner Umland verzeichnet seit Jahren steigende Einwohnerzahlen. Vor allem junge Familien zieht es ins östliche Havelland. Doch worüber sich die Gemeinde freuen könnte, stellt sie auch vor Herausforderungen. Schulen und Kitas geraten an ihre Kapazitätsgrenze. Ein Ausbau ist in Planung. Die Kommune wünscht sich Unterstützung.

Von Romy Wagner und Friederike Deichsler

390 Schüler strömen aus den Räumen der Grundschule „Otto Lilienthal“ in Wustermark auf den Hof, als an diesem sonnigen Montagmittag um kurz nach elf die große Pause beginnt. Stimmengewirr und Lachen hallen in den Gängen wieder. Nachdem die Gemeinde vor einigen Jahren noch um den Schulstandort kämpfen musste, hat sich hier einiges getan. Viele Flure sind erst vor Kurzem renoviert worden, die Schließfächer glänzen neu und es riecht nach frischer Farbe. Doch mit reinen Umbauarbeiten ist es bald nicht mehr getan, denn die Schülerzahlen steigen stetig. Schulleiter Michael Heinrich, der selbst erst im Sommer 2015 an die Wustermarker Einrichtung wechselte, berichtet: „Als ich begonnen habe, waren es 15 Klassen, dieses Jahr 17 Klassen, nächstes Schuljahr werden wir 18 Klassen haben.“

Vor allem junge Familien zieht es nach Wustermark

An der Grundschule zeigt sich im Kleinen, was im Großen für ganz Wustermark gilt: Der Zuzug reißt nicht ab. Dass es eine Bewegung von Berlin in Kommunen im Umland gibt, beobachten Demografie-Forscher schon seit Jahrzehnten. Hoffnung auf günstigere Mieten, Wohnen im Grünen und trotzdem in der Nähe zur Großstadt sind nur einige der Gründe, die Menschen in den sogenannten „Speckgürtel“ ziehen lassen. Auch in Wustermark wächst die Bevölkerung seit Langem, zunächst geschah das relativ gleichmäßig. Doch 2014 setzte eine Entwicklung ein, die laut Bürgermeister Holger Schreiber „so niemand vorhersehen konnte.“ Allein in den letzten drei Jahren verzeichnete die Gemeinde ein Plus von fast 9%. Aktuell leben hier über 9000 Menschen. „In Wustermark fällt besonders auf, dass der Zuzug der jungen Bevölkerungsgruppe, der 18-23-Jährigen ungewöhnlich hoch ist“, erklärt Theresa Damm, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Wohl weil gerade junge Menschen nach Wustermark kommen, wachse die Gemeinde als eine der wenigen in Brandenburg auch noch aus sich selbst heraus. Das zeige sich an einem positiven Saldo aus Geburten- und Sterberate.

Mit dem Bevölkerungswachstum steigen die Schülerzahlen im gesamten Landkreis. Auch Wustermark bekommt das zu spüren. Quelle: Landkreis Havelland, Schulentwicklungsplanung 2017/2018 bis 2021/2022, entnommen aus: ratsinfo.havelland.de

„Wir wollen und müssen aufnehmen“

So erfreulich diese Entwicklung für Wustermark auch ist: „Bei Schulen und Kitas schlägt das ein“, so Bürgermeister Schreiber. Im Frühjahr konnte keine Kita mehr Kinder aufnehmen, die Grundschule wird bald zu klein sein und auch die Oberschule ist voll ausgelastet. Uwe Schollän, der in der Gemeinde für Schulentwicklung und Bauleitplanung verantwortlich ist, bestätigt: „Die Bevölkerungsentwicklung hat auf jeden Fall direkte Auswirkungen auf die Grundschulen. Dort gibt es keine Wahlfreiheit, das heißt, alle Kinder in unserer Gemeinde besuchen bis auf wenige Ausnahmen unsere Grundschule.“ Schulleiter Michael Heinrich stimmt ihm zu und widerspricht damit dem aktuellen Schulentwicklungsplan des Landkreises, nach dem viele Schüler nicht die örtliche Grundschule besuchen würden. Sowohl die Wahl von Schulen in freier Trägerschaft als auch Anträge für den Schulbesuch in anderen Gemeinden seien rückläufig. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Wustermarker Einrichtung seit diesem Schuljahr verlässliche Halbtagsgrundschule ist. Das heißt, sie kann eine durchgehende Betreuung von 7.30 bis 13.30 gewährleisten. Für Heinrich bedeutet das: „Wir wollen und müssen aufnehmen.“

Bisher konnte seine Grundschule das, unbegrenzt ist es jedoch nicht möglich. So bestehen die derzeitigen dritten Klassen aus bis zu 28 Schülern, viel Luft nach oben ist da nicht mehr. Nun wird der Weg zu kleineren Klassen über mehr Züge eingeschlagen. Überdimensional soll die Grundschule aber auch nicht werden. „Aus meiner Sicht ist eine 3-zügige Grundschule perfekt. Das ist keine kleine Grundschule, aber überschaubar und ich denke, das ist für alle Beteiligten von Vorteil“, erklärt Heinrich und fügt hinzu: „Ich vertrete da den pädagogischen Ansatz und finde, dass eine Stärke von 23-25 Kindern besser für die Lernatmosphäre ist und das vermitteln wir auch dem Schulträger.“ In dieser Position steht die Gemeinde jetzt in der Bringpflicht.

Infokasten

Der Begriff Züge bezeichnet bei Schulen die Anzahl der Klassen pro Stufe.
Das Schulgesetz des Bundeslandes Brandenburg enthält empfohlene Richtwerte für die Anzahl der Schüler pro Klasse. Es legt ebenfalls Ober- und Untergrenzen fest. Für Grundschulen liegt die Obergrenze derzeit bei 28 Kindern, das heißt ab 29 Schülern muss die Klasse geteilt werden.

Träger von öffentlichen Schulen und Kitas ist immer die Stadt oder Gemeinde. Die Aufgabe des Trägers ist es, für die materielle Sicherheit zu sorgen, also für die Kosten von Betrieb, Instandhaltung, Renovierung und Ausbau aufzukommen. Für das Personal an Schulen sowie für dessen Bezahlung ist das jeweilige Schulamt zuständig. Dieses ist dem Bundesland unterstellt.
Der Landkreis entwickelt auf Basis von Bevölkerungsprognosen und in Absprache mit den Trägern einen Schulentwicklungsplan sowie einen Bedarfsplan für die Kindertagesbetreuung. Darin steht, wo voraussichtlich Erweiterungen oder neue Einrichtungen benötigt werden. Die Kommunen müssen sich bei ihrer Planung daran orientieren

Pläne oft noch wenig konkret

Wustermark hat das Problem erkannt. „Wir wissen wo der Schuh drückt“, gesteht Bürgermeister Schreiber. Ein Erweiterungsbau für die Grundschule ist bereits seit einiger Zeit geplant. Schreiber bestätigt, dass das Projekt gesichert sei und nun mit den Ausschreibungen begonnen werde. Baustart soll bereits Ende September sein. Die Kosten belaufen sich auf rund 10 Mio. Euro. Dennoch ist schon jetzt klar, dass bis 2024 noch zwei weitere Grundschulbauten benötigt werden. Eine mögliche Lösung: Ein Schulzentrum am Standort der Oberschule im Ortsteil Elstal. Derartige Kombinationen werden vom Landkreis befürwortet, außerdem leben nicht wenige der jetzigen Grundschüler in dieser Gegend. Genügend Fläche stünde der Gemeinde zur Verfügung, die Planungen hierfür stehen jedoch noch ganz am Anfang. Sie könnten sich auch noch drei bis vier Jahre hinziehen, erklärt Schollän, schließlich müsse das Vorhaben mit Bebauungs- und Flächennutzungsplan abgestimmt werden. Ähnlich sieht es im Kitabereich aus, auch hier gibt es laut Schollän bisher nur „Gedankenspiele“. Schreiber erwähnt zwei mögliche neue Einrichtungen in den nächsten fünf Jahren. Gerade liegt das Problem allerdings weniger an fehlenden Räumlichkeiten als an Personalmangel. Trotz einiger Neueinstellungen bleibe die Situation angespannt, so Schreiber.

Zurückgeworfen wurde Wustermark in seiner Planung auch durch eine Abfuhr in Bezug auf die Oberschule. Diese würde die Gemeinde gern in eine Gesamtschule umwandeln und rechnete sich zunächst gute Chancen aus, da auch der Schulentwicklungsplan eine weitere Gesamtschule im östlichen Havelland vorsieht. Der Landkreis entschied sich jedoch für Brieselang als Standort. Die Gemeinde will sich die Option auf eine Gesamtschule zwar weiterhin vorbehalten, trotzdem muss jetzt erst einmal umgedacht und Prioritäten neu gesetzt werden.

Gemeinde fordert Unterstützung von Bund und Land

Das gilt auch für die Verteilung von Ressourcen. Denn Erweiterungen und Neubauten sind nicht nur eine Frage des Bedarfs, sondern auch des Haushalts. Und die Gemeinde sitzt noch immer auf einem Schuldenberg von etwa 8 Mio. Euro. Schreiber ist zuversichtlich, diesen Rückstand bis 2020 abarbeiten zu können, er gibt jedoch auch zu, dass er noch nicht weiß, wie er das geplante Schulzentrum finanzieren soll. Außerdem seien andere Bereiche genau so wichtig und verdienten Investitionen. Bei Schulen und Kitas sei der Entwicklungsdruck aber momentan so groß, dass er keinen Aufschub dulde. Schließlich haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. „Es kommt durchaus vor, dass Eltern mit ihren Sorgen oder Beschwerden direkt zu mir kommen“, erzählt Schreiber. Dafür seien die kurzen Kommunikationswege und flachen Hierarchien in einer kleinen Gemeinde auch ein Vorteil. Nach außen allerdings hält sich das Rathaus sehr bedeckt, was mögliche Defizite in der Bildungsinfrastruktur angeht.

Dabei gibt es von Seiten der Einrichtungen kaum Kritik am Träger. Schulleiter Heinrich fühlt sich ausreichend unterstützt: „Es wird viel für die Grundschule getan, auch wenn die finanziellen Mittel begrenzt sind.“ Den Zuzug an sich sieht er nicht als Problem: „Wir freuen uns über jedes Kind, das wir aufnehmen können und dürfen.“ Petra Zemke, Leiterin der Kindertagesstätte „Spatzennest“ teilt diese Ansicht:„Wir bekommen nur die positiven Aspekte mit“, erzählt sie, „die Gruppen sind durchmischter, Kinder aus ganz unterschiedlichen Teilen Wustermarks oder auch Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund kommen zusammen.“ Vom zusätzlichen Verwaltungsaufwand bekomme sie wenig mit. Auf die Zuteilung der Betreuungsplätze hat sie keinen Einfluss, dafür ist die Gemeinde zuständig.

Die Gemeinde selbst fühlt sich mit den Herausforderungen allein gelassen. „Der Speckgürtel kommt mir wie eine Art ungeliebtes Kind vor“, meint Uwe Schollän. Strukturschwache Gegenden, sogenannte „notleidende Gemeinden“ würden stärker gefördert. Dies kritisiert auch Bürgermeister Schreiber und fordert, dass sich Bund und Länder eindeutiger positionieren: „In gewisser Weise sind wir auch eine notleidende Gemeinde. Wir sind in der Not, zu viel soziale Infrastruktur in zu kurzer Zeit schaffen zu müssen.“ Gleichzeitig bestehe die Gefahr, dass viele der Einrichtungen in einigen Jahrzehnten gar nicht mehr gebraucht würden. Die Gemeinde versucht deshalb zunächst, ihre Bevölkerungsstruktur zu steuern und dem überproportionalen Zuzug junger Familien entgegenzuwirken. Möglich ist dies über Bebauungspläne, die statt Reihenhausgebieten nun vermehrt Geschosswohnungen und barrierefreie Wohnprojekte ausweisen. So sollen auch Einzelpersonen und Senioren angesprochen werden.

Dennoch wünscht sich Schreiber Unterstützung von oben. „Wenn da nichts kommt, werden wir irgendwann keine neuen Baugebiete mehr ausweisen, um das Wachstum zu stoppen. Das kann nicht gewollt sein.“


Friederike Deichsler schreibt dieses Semester ihre Bachelorarbeit. Bei der Recherche für diesen Artikel hat sie gelernt, wie man Ausweichstrategien von Verwaltungsinstanzen umgehen kann.


Romy Wagner studiert Filmwissenschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft im 4. Semester. Dieser Artikel über ihren Heimatort ist ihr erster journalistischer Beitrag.