„Die Mauer fiel uns auf die Köpfe“ – Wie türkische Migranten die Wende erlebten

„Die Mauer fiel uns auf die Köpfe“ – Wie türkische Migranten die Wende erlebten

Wir verbinden mit dem Mauerfall ganz besonders den ersten Schritt zur Wiedervereinigung der deutschen Bevölkerung, den Beginn vom Ende des Unrechtsstaates DDR, die gelungene europäische, friedliche Revolution. In dieser Perspektive bleibt jedoch eine Gruppe außen vor: Die Migranten in Deutschland. Welche Erfahrungen haben sie im neuen Deutschland nach der Wende gemacht?

Von Lydia Zeßin

Dezember 1992. Hatice* rennt. Sie rennt vorbei am Laden mit den schreiend bunten Brautkleidern, vorbei am Döner-Verkauf, vorbei am Secondhandshop, immer weiter die Karl-Marx-Straße lang, um nur endlich den U-Bahnhof Hermannplatz zu erreichen, um wieder unter Menschen zu sein und sich verstecken zu können. Hinter ihr kommen ihre Verfolger immer näher. „Bleib stehen, du hässliche Türkenschlampe!“, schreien sie, „Wir zeigen dir, wo du wirklich hingehörst!“. Die acht Glatzen mit den schwarzen Bomberjacken sind nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt, als Hatice sich unter eine Gruppe von quasselnden Teenagern mischen kann, die gerade die Treppen hinunter zum Bahnsteig gehen.

Zur gleichen Zeit sitzt Ömur am Küchentisch seiner kleinen Mietwohnung am Columbiadamm und runzelt die Stirn. Vor ihm liegt ein Stapel Rechnungen. Nebenan im Bad streiten sich Cem und Sibel darum, wer beim Zähneputzen auf dem Toiletten-Deckel sitzen darf. Ömur würde ihnen am liebsten sagen, dass sie gerade viel größere Probleme haben, dass er nicht weiß, wie er ohne Arbeit alles bezahlen soll: die Reparatur der Toilette, von der sich Cem und Sibel gerade abwechselnd wegschubsen, die Geburtstagsgeschenke, die neuen Winterjacken – an die Miete am Ende des Monats will er erst gar nicht denken. Wieder muss er an die Worte seiner Frau denken: „Ömur, wenn die uns hier sowieso nicht wollen, wenn die lieber den Ossis die Jobs für die Hälfte des Stundenlohns geben, dann müssen wir wohl in die Türkei ziehen.“

Jubel vorm Reichstagsgebäude 1990

Jubel über die Wiedervereinigung. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-1003-400 von Grimm, Peer / CC-BY-SA

Hatice und Ömurs Familie sind keine Ausnahmefälle. Während nach dem Jubel um Mauerfall und Wiedervereinigung Ost und West auf dem Weg waren, wieder zu einem geeinten Deutschland zusammen zu wachsen, bahnte sich eine Abgrenzung an anderer Stelle an: Das neue deutsche Nationalgefühl erstarkte und dessen Auswüchse reduzierten alle Gesellschaftsteile auf ihre Ethnie und Herkunft. So erfuhren Einwanderer und ihre Nachkommen verstärkt Ausschluss und Fremdenfeindlichkeit. Sie verloren ihre Arbeit und das Gefühl, Teil dieses Deutschlands zu sein.

In Berlin leben heute 170.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Sie bilden – heute wie damals – die größte Zuwanderungsgruppe in der ehemals geteilten Stadt. Auch für sie bedeutete der Mauerfall einen entscheidenden Einschnitt für ihre Integration, die vor 1989 endlich voranzugehen schienen.

Enttäuschte Hoffnung auf ein offeneres Deutschland: Erstarken des Nationalgefühls

Nachdem das Ende des Wirtschaftsbooms zu einem Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt zwischen Einwanderern und Deutschen sowie zu verbreiteten Ressentiments gegen erstere geführt hatte, gab es Ende der 1980er Jahre Anzeichen für eine beginnende positive Entwicklung hin zu mehr Integration und Teilhabe. Es herrschte eine breite Diskussion um die Einführung eines kommunalen Wahlrechtes für Ausländer. Zudem stand die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft im Raum, mit der sich beispielsweise die Einwanderer und ihre Nachkommen nicht gegen ihre Herkunft entscheiden müssen, um sich für Deutschland auszusprechen. Ein offeneres Deutschland mit mehr sozialer und politischer Partizipation schien erreichbar.

Doch als 1989 die Mauer fiel und im Jahr darauf die DDR Teil der Bundesrepublik wurde, wurden diese Hoffnungen enttäuscht. In den Wendewirren war die deutsche Gesellschaft auf der Suche nach Einheit stiftenden Elementen – was sie dabei fand, war oft die gemeinsame ethnische und kulturelle Herkunft. So definierte sich Zugehörigkeit nicht mehr durch Bekenntnis und Aufenthalt, sondern nach dem Prinzip des ius sanguinis, nach dem Blut. Damit verfestigte sich der schon vorher herrschende Ausschluss von Einwanderern. Geschichten von fremdenfeindlicher Ausgrenzuung und sogar Verfolgung wie die von Hatice gehörten zum Alltag vieler Migranten in Berlin.

Gewalt gegen Migranten: Die Mordanschläge von Solingen und Mölln

Mai 1993, Berlin. Eine türkische Familie sitzt im Wohnzimmer und verfolgt fassungslos die Nachrichten im Fernsehen. Bilder eines ausgebrannten Hauses, von aufgebrachten Menschen und Leichensäcken flimmern über den Bildschirm. „Sechs Monate nach den Morden von Mölln sind jetzt in Solingen fünf Menschen umgebracht worden. Bei den Opfern handelt es sich um zwei türkische Frauen und drei Mädchen im Alter von vier bis dreizehn Jahren. Ein rechtsextremer Hintergrund wird vermutet.“

Gemeinsame Demonstration von Deutschen und Türken am Tatort des Brandanschlages von Solingen, Juni 1993. Foto: Sir James, Wikimedia Commons

Gemeinsame Demonstration von Deutschen und Türken in Solingen, Juni 1993. Foto: Sir James / CC BY-SA

Anfang der 1990er Jahre fand die latente Ausländerfeindlichkeit ihren Ausdruck in brutalen Brandanschlägen, die im wiedervereinten Deutschland Angst und Schrecken verbreiteten. Die fremdenfeindlich motivierten Mordanschläge hatten ihren Anfang in Ostdeutschland genommen, sie erreichten später aber auch den Westteil der Republik. Die Anschläge in Mölln vom 23.11.1992 und in Solingen vom 29.05.1993 waren gegen alteingesessene türkische Familien gerichtet. Sie forderten acht Todesopfer und verletzten 28 Menschen, manche unter ihnen lebensgefährlich.

Die Angst, selbst Opfer zu werden, wurde auch bei den türkischen Einwanderern und ihren Nachkommen in der Hauptstadt immer präsenter. So erzählt Nesrin Tekin, die in der Türkei geboren und in Berlin aufgewachsen ist, von den Schrecken dieser Attacken und den Überlegungen ihrer Familie und Bekannten: „Verständlicherweise haben die Anschläge bei vielen Ängste ausgelöst. Das war furchtbar! Meine Eltern, ihre Bekannten, alle haben sich gefragt: ‚Warum? Wir sind doch hierher geholt worden!‘ Viele haben dann überlegt, zurück in die Türkei zu gehen.“

Die Ausgrenzungen fanden auch in den Medien ihre Fortschreibung. Themen wie der angeblich „ungehemmte, ungezügelte Zustrom von Asylsuchenden“ und das Bild vom „überfüllten Boot“ prägten die Berichterstattung. Gleichzeitig zeigte sich auch auf juristischer Ebene eine komplizierte Beziehung zu Ausländern: der Verschärfung des Ausländergesetzes von 1991 folgte zwei Jahre später die Aufhebung des sogenannten „Asylartikels“, Artikel 16 des Grundgesetzes.

Arbeitslosigkeit als prägende Folge der Wende

Ein noch viel akuteres Problem für die Migranten, besonders auch für die Türken in Berlin, war die stark zunehmende Arbeitslosigkeit. Die Statistiken der damaligen Ausländerbeauftragten zeigen: Während die Arbeitslosenquote bei Ausländern zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung noch bei etwa 11 Prozent lag, stieg sie in den nächsten zwei Jahren auf über 20 Prozent an.

Für Nesrin Tekin ist die verbreitete Arbeitslosigkeit eine der einschneidensten Veränderungen infolge der Wende. Foto: privat

Für Nesrin Tekin ist die verbreitete Arbeitslosigkeit eine der wichtigsten Folgen der Wende. Foto: privat

Der Hauptgrund für den rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Ausländern liegt in einem grundlegenden Strukturwandel, den die Hauptstadt nach der Wende durchlief. Bereits kurz nach dem Mauerfall verlegten viele Westberliner Industrie-Unternehmen ihre Standorte in den Osten, wo sie zu ungleich preiswerteren Konditionen produzieren konnten. Verstärkt wurde diese Entwicklung in den Folgejahren durch den schnellen Abbau der Berlinförderung im Westteil der Stadt. So zählte die Berliner Industrie laut Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung 2007 nur noch knapp 100.000 Beschäftigte – 1989 waren es fast viermal so viele gewesen.

Entlassungen und Arbeitslosigkeit waren demzufolge ein weit verbreitetes Phänomen. Die Migrationsforscherin Nevim Çil hat in 16 ausführlichen Interviews mit Einwanderern und ihren Nachkommen über ihre Erfahrungen nach der Wende in Berlin gesprochen. Jeder ihrer Interviewpartner, die aus den verschiedensten Altersgruppen, Familienstrukturen und Bildungsgeschichten stammten, berichtete von Arbeitslosigkeit in der Familie und im Bekanntenkreis. Sie erzählten, dass einige Migranten gezielt entlassen worden seien, um stattdessen Ostdeutsche einzustellen, die zur Hälfte des Lohns arbeiteten. Viele der entlassenen Migranten konnten als ungelernte Arbeitskräfte danach lange Zeit keine Arbeit mehr finden.

Verschiedene Generationen – verschiedene Sichtweisen

Sommer 1991, Arbeitsamt in Berlin Kreuzberg. Die 55-jährige Semiha* schüttelt verzweifelt den Kopf. Sie möchte unbedingt wieder einen Job. Aber jeden Tag um vier Uhr morgens aufstehen, um in Leipzig pünktlich am Fließband zu stehen – für die Hälfte des bisherigen Lohnes? Das schafft sie einfach nicht. Die Sachbearbeiterin kann das nicht verstehen. „Wollen Sie nun arbeiten oder nicht? Vom Staat zu leben ist natürlich bequemer.“

Die plötzliche Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende Herabsetzung durch das soziale Umfeld empfindet auch Nesrin Tekin als die wichtigsten Veränderungen nach dem Mauerfall: Beide Eltern wurden Anfang der 1990er Jahre arbeitslos, ihr Vater fand danach keine Anstellung mehr. „Sie haben dann immer wieder zu hören bekommen: ‚Naja, wenn du nicht für diesen Preis arbeiten willst, dann geh doch in deine Heimat.‘ Dabei haben sie bis dahin noch nie Arbeitslosengeld bezogen, noch nie. Sozialhilfe kannten sie überhaupt nicht. Da haben sie jahrzehntelang hier gearbeitet und plötzlich so eine Abwertung erfahren.“

türkische Gastarbeiter 1970

Türkische Gastarbeiter 1970: Gekommen, um zu arbeiten. Foto: ‚Berlin 1970: Stadtbilder‘ von Heinrich Klaffs / CC BY-NC-SA

Nevim Çil stellt in ihrer Dissertation „Topographie des Außenseiters“ (erschienen 2007 im Verlag Schiler) heraus, dass die Arbeitslosigkeit gerade für die erste Generation der türkischen Einwanderer nicht nur eine finanzielle Notlage hervorbrachte. Ihre gesamte Position in der Gesellschaft war in Gefahr. Sie hatten Angst, den sich selbst gegenüber gerechtfertigten Status zu verlieren. Denn ihr einziger Status in der Gesellschaft war es, Arbeiter zu sein. Sie, die überhaupt nur zum Arbeiten nach Deutschland gekommen waren, sahen Deutschland zuallererst als Arbeitswelt an, nicht als ein Ort der Identifikation, sondern als ein Land, das Arbeitsplätze bietet und damit eine bessere Zukunft ermöglicht. Nun war dieses Migrationsziel gefährdet. Diese Generation der türkischen Einwanderer sah sich in ihrer Position als Arbeiter ausgegrenzt, nicht aufgrund ihrer Ethnie.

Nesrin Tekin schildert, wie ausgenutzt sich die Generation ihrer Eltern angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt gefühlt hat. „Die Anwerbung war ja so: Die sind in der Türkei bis auf die Zähne untersucht worden, ob sie gesund sind. Nur die Gesunden wurden übernommen. Und dann, nach der Wende, haben sie sich ausgelutscht gefühlt wie eine zerdrückte Zitrone. Dann konnten sie abserviert werden.“

Einen anderen Blickwinkel auf die erlebte Ausgrenzung zeigten in Çils Dissertation die Befragten der Nachkommengeneration. Auch sie fanden verbreitet keine Beschäftigung, weil deutschstämmige Mitarbeiter vorgezogen wurden. Die Wiederentdeckung des deutschen Nationalgefühls nahmen sie als Kehrtwende im Verhältnis zwischen der deutschen etablierten Umwelt und den Einwanderern wahr. Sie erlebten Gefühle von starker Enttäuschung bis zu Schamgefühl aufgrund ihrer eigenen Position in der Gesellschaft. Ihre Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, sowie ihre Eigenleistung zur Integration sahen sie in Frage gestellt. Einige Interviewpartner berichten, vor der Wende hätten sie sich auf dem Weg zum Deutschsein gefühlt. Nach 1989 seien sie aber auf ihr Türkischsein reduziert worden, wodurch sie sich in ihrer Position als Außenseiter bekräftigt gefühlt hätten. Somit ergab sich eine neue Gruppenzugehörigkeit anhand ihres Selbstbildes als Außenseiter. Ein Rückzug bzw. die Rückkehr in die Türkei erschien zumindest zeitweise nötig. Auch „Enklaven“, d. h. Viertel mit hohen Migrantenanteil, wurden attraktiver, weil sie Schutz vor Angriffen und Vorurteilen boten.

Im Gegensatz zur ersten Generation der türkischen Einwanderer, die eine auf ihre Arbeitswelt beschränkte Veränderung erlebten, hatte sich mit der Wiedervereinigung für die Nachkommengeneration ein umfassender Wandel ihrer gesellschaftlichen Position hin zum Außenseiter vollzogen. Aus einem versteckten, nicht sichtbaren Außenseitertum wurde ein offensichtliches.

Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe nach der Wende

Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für unser Deutschland heute, 25 Jahre nach dem Mauerfall? Was haben wir gelernt? Häufig werden rechtsextreme Einstellungen speziell Ostdeutschen zugeschrieben. Die Erfahrungen zeigen aber, dass in Westberlin genauso Migranten ausgegrenzt wurden. Die Wiedervereinigung ist bis heute das Sinnbild für eine gelungene friedliche Revolution gegen den Unrechtsstaat DDR und eine große Erfolgsgeschichte der deutschen Politik. Neben vielen anderen Schwierigkeiten, die der Prozess des Zusammenwachsens mit sich bringt, darf dabei aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die Wende auch einen herben Rückschlag für die Integrationsbemühungen von Einwanderern und ihren Nachkommen hervorgerufen hat. Oder wie es ein Interviewpartner von Nevim Çil formuliert hat: „Die Mauer fiel uns auf die Köpfe“.

*Die folgenden Personen sind fiktiv und stellen einen Typus dar.

Titelbild: ‚Berlin 1989, Fall der Mauer, Chute du mur‘ von Raphaël Thiémard / CC BY 2.0


LydiaLydia Zeßin studiert im fünften Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Im Wendejahr geboren, hatte die Wiedervereinigung für sie persönlich nur positive Folgen. Die Recherche für diesen Artikel hat sie dazu gebracht, den Wendejubel mehr zu hinterfragen.