Lebensweg einer Mauer

Lebensweg einer Mauer

Die Berliner Mauer lässt ihr Leben Revue passieren. Ein Versuch einer Autobiografie.

Von Henrike Krämer

Meine Geburt war die Geburt von etwas Großem, etwas vorher nie dagewesenen.

Ich wurde als Berliner Mauer geboren und ich werde, trotz meines lang zurückliegenden Lebensendes, immer die Berliner Mauer sein.

Nicht nur mein Leben ist hier aufgezeichnet, sondern das Leben einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu.

Geburt

In der Nacht vom 12.08. auf den 13.08.1961 erblickte ich das Licht der Welt.

Es war eine ruhige Nacht – 8,6 Grad, klarer Himmel. Die Ruhe vor dem Sturm?

Während alles um meine Erzeuger herum schlief, es war schließlich tiefe Nacht, machte ich mir den Weg frei in die mir bis dato unbekannte Welt. Zugegeben, von einer besonders einfachen Geburt kann hier nicht die Rede sein. Alles begann gegen 1 Uhr nachts; still und heimlich wurde ich mit Hilfe von Grenzpolizisten, Kampfgruppen und    Bauarbeitern in der Dunkelheit der Stadt zur Welt gebracht. Die Straßenlaternen waren ausgeschaltet worden; es sollte keine ungelegenen Zuschauer dieses wahrlich einmaligen Spektakels geben.

Innerhalb kürzester Zeit, noch vor Anbruch des Morgengrauens, war ich da. Es war noch dunkel, als man mir den

Namen „Pioniertechnische Absperrung“ gab. Meine Ausmaße waren riesig, schließlich bestand ich aus nicht weniger als 18200 Betonpfosten, 150 Tonnen Stacheldraht, 5 Tonnen Bindedraht und 2 Tonnen Krampen.

Nicht nur mein Umfang überschritt jedes normale Maß, auch die Auswirkungen meiner Geburt, meiner Erzeugung, meiner Entstehung waren kolossal und sollten für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben.

Leben

Da war ich also.

Ich, die pioniertechnische Absperrung.

Ich, der antifaschistische Schutzwall.

Ich, die Berliner Mauer.

Was war der Sinn und Zweck meines Lebens?

Wofür war ich da?

Mein ganzes Leben lang habe ich mir Gedanken über meine Lebensaufgabe gemacht. Erst kurz vor meinem Ableben sollte mir meine Funktion bewusst werden.

Im Laufe meines Lebens habe auch ich mich weiterentwickelt und verändert; ich wurde größer, mir wuchsen zusätzliche Gliedmaßen und auch mein Charakter vollzog einen Wandel.

Während meiner ersten Lebenstage erlebte ich bereits einiges. Viele menschliche Wesen hatten sich um mich herum versammelt, die einen auf der einen, die anderen auf der anderen Seite. Sie hatten geschrien, geweint, gerufen, oder hatten mich einfach nur in aller Stille in Augenschein genommen. Menschliche Wesen waren, aus mir unerfindlichen Gründen, über mich gehüpft, gesprungen, ja, sie hatten mich sogar mit Autos, in denen sie saßen, verwundet, indem sie damit durch mich hindurch fuhren. Kurz gesagt; ich war noch sehr klein, als ich mir bereits einige Wunden zuzog und mit dem Gefühl des Schmerzes bekannt gemacht wurde.

Ich war erst fünf Tage jung – ein Säugling – als ich in der Nacht des 18.08.1961, einem Freitag, einen ersten Wachstumsschub an mir vernahm.

Um 1:30 Uhr fuhren am Potsdamer Platz sechs Krankenwagen vor, aus denen innerhalb kürzester Zeit Betonplatten entladen wurden. 40 Minuten später trafen Feuerwehrzüge, Betonmischer und eine sog. Mauerbrigade hinzu.

Während ich zuvor aus Stacheldraht bestand, so war ein Teil meiner Selbst, und zwar der Teil, der zwischen dem Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor verlief, in dieser Nacht gegen 5:00 Uhr morgens zu einem massiven Bauwerk geworden. Als die Dämmerung anbrach, war von meinem alten Ich an dieser Stelle nicht mehr viel übrig. Ich sah nun anders aus. Wo vorher Stacheldraht gewesen war, stand ein anderes Ich, eine richtige Mauer – 1,60 Meter hoch, bestehend aus Betonplatten und zwei Reihen Hohlblocksteinen obenauf, mit eingemauerten Eisenstäben zur Befestigung von Stacheldraht. Meine Wunden waren geheilt, ich war stärker geworden, fühlte mich besser.

Von diesem Zeitpunkt an, wurde ich dem Namen „Berliner Mauer“ das erste Mal auch optisch gerecht.

1961: Luftbild des Brandenburger Tors und der Mauer (Foto: Bundesarchiv, Bild 145-P061246 / o.Ang. / CC-BY-SA)

1961: Luftbild des Brandenburger Tors und der Mauer (Foto: Bundesarchiv, Bild 145-P061246 / o.Ang. / CC-BY-SA)

An vielerlei Stellen bestand ich aber nach wie vor aus Stacheldraht, denn nur ungefähr 20% von mir entwickelten sich nach und nach bis zum Jahresende 1961 zu einer richtigen Mauer – es war ein langsamer Wachstumsschub.

Das Stadium, in dem ich mich zu dieser Zeit befand, nennt man heute die 1. Generation der Berliner Mauer. Ich habe diese Zeit, dieses Stadium, als meine Kindheit in Erinnerung.

Mein neues Gefühl der Stärke und der Vitalität hielt jedoch nicht lange an, denn nach wie vor spielten die Menschen ihre Spiele mit mir. Sie hüpften, sprangen, und taten mir wieder und wieder weh. Oder war das gar kein Spiel? Waren die Menschen böse auf mich? Wenn ja, so verstand ich nicht, warum – ich hatte ihnen ja schließlich nichts getan.

Im Jahre 1966, ich war nun schon fünf Jahre alt, kam meine Kindheit zu einem jähen Ende und ich wurde zum Teenager. Dieses Mal wuchs ich nicht nur in die Höhe, nein, ich nahm auch in der Breite eine andere Gestalt an. Auf meiner Rückseite wuchs mir ein 100 Meter breiter Streifen, der sog. Sperrstreifen. Hier bestand ich aus einem tief gestaffelten Sperrsystem. Hinter meinem Rücken trug ich nun einen Kfz-Sperrgraben, einen Kontrollstreifen, eine Lichttrasse, durch den ich, bzw. insbesondere mein Rücken, auch in der Nacht taghell erleuchtet war, einen Kolonnenweg, auf dem uniformierte und waffentragende Menschen auf und ab gingen, eine Flächensperre, einen Signalzaun, der bei der kleinsten Berührung der Menschen Alarm auslöste und schlussendlich eine weitere Mauer, die Hinterlandmauer, die meine Rückseite vollendete.

Bauplan der Mauer (Foto: Dipldoc. CC BY-SA)

Bauplan der Mauer (DipldocCC BY-SA)

Zeitgleich wuchs mir nicht nur eine Art Panzer auf dem Rücken, sondern auch in der Vertikalen gewann ich erneut an Größe. Meine Teenagerjahre werden heute als zweite Mauergeneration betitelt.

Mitte der 70er Jahre wurde ich schließlich erwachsen.

Äußerlich veränderte ich mich in dieser Zeit nochmals enorm. Von der einfachen Plattenmauer, wurde ich zur „Grenzmauer 75“ – mein Körper bestand von nun an aus industriell gefertigten stahlbewerten Betonplatten mit einem T-förmigen Fuß und einer Höhe von 3,60 Meter. Auf meinem Kopf, der Mauerkrone, wuchs mir eine runde Rohrauflage. Mein Rücken, der Sperrstreifen, bestand nun auch noch aus vielen Beobachtungstürmen und an einigen Stellen sogar aus Hundelaufanlagen, die aus parallel zum Signalzaun gespannten Drahtseilen bestanden, an denen entlang sich ein angebundener Kettenhund bewegen konnte.

Hinsichtlich Körpergröße, Kraft und Ausstrahlung hatte ich hiermit das Nonplusultra erreicht. Ich war größer und stärker als je zuvor. Wo zu Beginn meines Lebens ein kleiner Schwächling zu sehen gewesen war, stand nun ein vor Kraft und Stolz nur so strotzendes Ich.

In dieser Zeit begann ich mich mehr und mehr mit meinem Dasein zu beschäftigen. Erneut keimte die Sinnfrage in mir auf. Ich ließ die Ereignisse meines bisherigen Lebens Revue passieren, um mir über meine Funktion im klaren zu werden. Was ich in meiner Kindheit als Spiel interpretiert hatte, sah ich nun mit völlig anderen Augen. Niemand würde mir im Spiel absichtlich weh tun. Ich erkannte, dass die Menschen wegen mir weinten, wegen mir aus vollem Halse schrien oder gelähmt vor Wut und fassungslos auf beiden meiner Seiten standen. Die Gesichter dieser Menschen waren vor Angst, Hass, Wut und Trauer verzerrt gewesen.

Nun wurde mir klar, dass ich Menschen voneinander trennte; ich teilte ein Stadt entzwei. Die Stadt namens Berlin.

Treptow, Friedrichshain, Mitte, Prenzlauer Berg, Pankow – mit meiner Länge von 43,7 Kilometern führte ich durch all diese Stadtbezirke und bildete eine innerstädtische Grenze.

Durch mich wurden 68 der 81 Grenzübergangsstellen von meiner Geburt an verbarrikadiert. Durch mich wurden alle 193 grenzüberquerenden Straßen abgeriegelt.

Durch mich wurden 12 U- und S-Bahn-Linien unterbrochen und dutzende Bahnhöfe, die sich an der Grenze oder in Grenznähe befanden, gesperrt.

Durch mich wurden tausende Berliner Familien auseinandergerissen, Liebespaare getrennt, Freundschaften zerstört, Nachbarschaften beendet.

Durch meine Geburt war der östliche Teil der Stadt von dem westlichen Berlin getrennt worden.

Das Springen, Hüpfen und auch das Durchbrechen einiger meiner Körperteile mittels Autos war kein Spiel gewesen, sondern die Flucht aus dem Teil der Stadt, den ich umschloss und aus dem die Menschen auf legalem Wege nicht mehr entkommen konnten.

Schock, Wut, Hass, Mitleid, Hilflosigkeit.

Nachdem mir die Funktion meiner Geburt und meines Lebens klar geworden war, ekelte ich mich vor mir selbst. Ich hasste mich für meine Aufgabe, meinen Zweck. Ich verfluchte meine Erzeuger, die mich zu so einem Monster gemacht hatten. Die Menschen, die ich auseinandergerissen hatte und die seit Jahren darunter litten, taten mir Leid. Das aller Schlimmste war jedoch, dass ich daran nichts ändern konnte.

Sterben

In den 80er Jahren wurden die Stimmen gegen mich lauter und lauter.

Das Stadium der „Grenzmauer 75“ oder auch der dritten Mauergeneration, sollte mein letzter Lebensabschnitt sein. Durch Bemalungen der Menschen im Westen änderte ich zwar erneut mein Äußerliches, aber auch mein buntes Dasein und der Titel als längste Open Air Galerie der Welt, änderten nichts daran, dass es mit mir bergab ging.

Mehr und mehr Menschen sammelten sich auf beiden Seiten von mir, um gegen mich zu demonstrieren. Von Woche zu Woche wurden es mehr, die Stimmen wurden stärker, die Rufe der Demonstranten lauter.

Am Abend des 9. November 1989 wurden die Menschen schließlich erhört – einige Teile meines Körpers wurden geöffnet und den Leuten war es erlaubt, die Grenze, die ich gebildet hatte, zu passieren. Erst an einigen wenigen Grenzübergängen, ab Mitternacht dann überall.

Tausende Menschen vernahmen die frohe Botschaft und strömten in beiden Hälften der Stadt zu mir und durch mich hindurch.

Fremde, Freunde, Verwandte, Totgeglaubte. Alle lagen sich in den Armen. Freudentränen, Freudenschreie, glückliche Gesänge und tosendes Gejohle.

Freude auf Seiten der Menschen.

Mein Sterbeprozess hatte begonnen – der Beginn des Mauerfalls.

Noch in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1989 begannen die Menschen mit mitgebrachtem Werkzeug auf mich

Mauerspecht

Mauerspecht. Foto: ‚Berlin 1989, Fall der Mauer, Chute du mur‘ von Raphael Thiémard/CC BY-SA

einzuhämmern. Die sog. Mauerspechte wollten und konnten nicht länger warten, mich zu töten, mich einzureißen, mich zu zerstören. Und ich konnte sie verstehen.

Während die von nun an freien Berliner mich mit Hammer und Meißel bearbeiteten, begann auch die organisierte Zerstörung meiner Selbst.

Mein Körper, der aus 45.000 Elementen bestand, war mit der Zeit so groß und stark geworden, dass es nicht weniger als ein Jahr dauerte, mich endgültig zu töten und zu beseitigen. Ein Jahr, bis zum November 1990, in dem ich täglich die größten, wohl aber auch die erleichternsten Schmerzen an meinem Körper erfuhr, bis ich, in der Form und Funktion, für die ich geboren worden war, physisch nicht mehr existierte.

Danach

Nach 28 Jahren, zwei Monaten und 27 Tagen war ich tot. Ermordet. Zerstört.

Mittlerweile ist der „Mauerfall“, mein Tod, über 25 Jahre her, trotzdem lebe ich.

Zwar bin ich nicht mehr als menschentrennendes Bauwerk aktiv, so lebe ich aber doch auf unterschiedliche Art und Weisen weiter.

Die große Frage, die es unmittelbar nach meinem Tod zu klären gab: Wohin mit mir? Wohin mit den riesigen Resten von mir?

Meine Einzelteile, die 3,60 Meter hohen, 1,20 Meter breiten, 22 Zentimeter dicken und 3,6 Tonnen schweren

Die Mauer wird abgebaut (Foto: Raphael Thiémard)

Die Mauer wird abgebaut. Foto: ‚Berlin 1989, Fall der Mauer, Chute du mur‘ von Raphael Thiémard/CC BY-SA

Stahlbetonplatten mussten weggeschafft werden. Ich sollte so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwinden.

Für meinen Abriss bzw. meine Weiterverwendung wurde eine eigens konstruierte Maschine benötigt. Eine extra für meinen endgültigen Abriss gegründete Firma sorgte dann dafür, dass mich diese Maschine, ein Schlagwalzenbrecher oder auch das „grüne Ungeheuer“, ab dem Frühjahr des Jahres 1991, dem Erdboden gleichmachte. Bis 1993 war die Maschine Tag für Tag in Betrieb und hatte bis dahin 250000 Tonnen meines Körpers zu Kies verarbeitet. 6250 Lastwagenladungen.

Der Großteil dieser zerschredderten Teile von mir, 0,2 Millimeter kleine Bröckchen, wurden im Straßenbau als Aufschüttungsmaterial der Fahrbahnen genutzt. Der andere Teil wurde an Bauunternehmen verkauft – für 12 DM pro Tonne.

Aber auch als Denkmal, als Mahnmal, als Touristenattraktion, habe ich meinen Platz in der Welt gefunden.

In Berlin, meiner Heimatstadt, steht heute ein 212 Meter langer Körperteil meiner Selbst. Er soll an mein Leben und meine Auswirkungen, an meine Geschichte erinnern.

Ich hatte eine Stadt entzwei geteilt.

Ich hatte tausende Menschen jahrelang voneinander getrennt.

Mindestens 136 Menschen hatten meinetwegen ihr Leben verloren; darunter Flüchtlinge, Menschen ohne Fluchtabsichten und Grenzsoldaten.

Ich habe wahrlich keine weiße Weste – und das soll die ganze Welt wissen und im Gedächtnis behalten, damit es so etwas wie mich, nach Möglichkeit, nicht noch ein zweites Mal geben wird.

Mauerkunst (Foto: Florian Feldhaus)

Mauerkunst (Foto: Florian Feldhaus)

Teile von mir blieben somit nicht nur in Deutschland, sondern wurden quer über den Erdball verteilt. Ich wurde versteigert, verkauft, verschenkt.

Heute findet man mich in Albanien, Argentinien, Belgien, Bulgarien, England, Frankreich, Korea, Luxemburg, Monaco, Polynesien, Russland, Spanien, USA, Vatikan, um nur wenige meiner unterschiedlichen Standorte aufzuzählen. Ich stehe in privaten und öffentlichen Gärten, Parks, Museen.

Und wer für seine private Sammlung noch heute ein Stück von mir erstehen möchte, der findet mich im Internet. Bei eBay. Kleine Brocken gibt es ab 3,99 €, ganze Mauerelemente für zwischen 7.000 € und 26.500 €.

Für immer

Wir schreiben das Jahr 2015, ich bin seit über 25 Jahren tot, aber ich lebe immer noch und werde auch in Zukunft, egal, ob in Form von Denk- oder Mahnmälern, einer Touristenattraktion, oder Kunstwerken, in Geschichtsbüchern, oder Köpfen und Erzählungen der Menschen, immer weiterleben.

Ich wurde als Berliner Mauer geboren und ich werde, trotz meines lang zurückliegenden Lebensendes, immer die Berliner Mauer sein.

Ich bin unsterblich.

Titelbild: Dan Budnik, http://hdl.loc.gov/loc.pnp/cph.3c08561


Foto: Dennis Scholz

Foto: Dennis Scholz

Henrike Krämer ist 21, kommt aus Bielefeld und macht im Sommer 2015 an der FU Berlin ihren Bachelor in PuK und Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft. Nach ihrem Studium möchte sie am liebsten mal in die PR-Branche. In ihrer Freizeit spielt sie gerne Playstation3 (eine 4 kann sie sich noch nicht leisten), hört am liebsten Haftbefehl und Beyoncé, liest Haruki Murakami und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Babyhund oder ein Babyschwein.