Das queere Mitmenschen im Alltag ein Doppelleben führen müssen, wird keinem ein Geheimnis sein. Doch wie verhält es sich in der Nacht in der Hauptstadt, die berühmtberüchtigt ist für ihr Nachtleben?
Damun Bastani
Von A nach B, aber mit C und ohne D
Zweites Outfit in die Tasche packen, das Uber bestellen, die Alibi-Mütze auf und raus dem Geschäft. „Hoffentlich komme ich heute unbemerkt durch, ich bin so müde“, sagt Jesper Lindgren, der auf dem Weg zu seinem Zweitjob ist: Drag. Von seiner Vollzeitbeschäftigung als Kosmetik Experte im Salon Schwarzkopf in Berlin-Mitte geht es abends im Dunklen direkt weiter zur Tipsy Bear Bar in den hippen Bezirk Prenzlauer Berg. Zeit für das Auftragen des aufwendigen Drag Make-Ups in der schlecht belichteten Bar gibt es nicht, also schminkt sich Jesper bereits im Kosmetik Salon, zieht sich dann das Basecap auf und hofft auf einen sicheren und stressfreien Transport mit seinem Uber.
Erst im Sicheren angekommen, in der Tipsy Bear Bar die als „Safe Space“ für die queere Community gilt, findet die restliche Transformation in das Drag-Alter-Ego noch statt. Sicherheit durch ein Transportgeschäft: Das ist nicht immer eine Gegebenheit, denn es kommt immer wieder zu homo- und queerphoben Übergriffen in den Beförderungsmitteln, wie der Nachrichtendienst „queer.de“ die dpa zitiert. Die Angst vor Übergriffen mit PMK Hintergrund, als politisch motivierte Kriminalität, sitzt tief in den Herzen der queeren Szene, in der „Queermunity“. Doch ist es sicher für offen queere Personen quer durch die Stadt zu fahren, insbesondere im Dunkeln und bei Nacht, und ist eine Angst berechtigt?
Was sagen die Zahlen, können sie ein besseres Bild malen?
Im Zuge der Vergabe des „Respekt Preises“ 2021 hat Dr. Barbara Slowik, Polizeipräsidentin Berlins, die Kriminalstatistik zu queerfeindlichen Übergriffen in Berlin veröffentlicht.
Evaluiert man die Fallzahlen der letzten 4 Jahre, so wird ein offensichtlicher Trend klar: Die Zahlen steigen von Jahr zu Jahr drastisch an. Wo im Jahre 2017 die Berliner Polizei Delikte in der Kategorie „Hasskriminalität gegen die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität“ auf 171 gezählt hat, waren es 2018 bereits 225 Fälle. Vor drei Jahren noch, im Jahr 2019, wurden dann bereits 559 Fälle bei Maneo* registriert. Es handelt sich hierbei um einen Anstieg von 32 Prozent, verglichen zum Vorjahr.
*Das im Jahre 1990 gegründete „Schwule Anti-Gewalt-Projekt Berlin“, Maneo, ist das älteste und bekannteste Projekt seiner Art. Hier können Opfer und Zeugen von Gewaltakten und Hasskriminalität gegen Mitglieder der queeren Community Rat suchen und über Folgemaßnahmen informiert werden. Auch kann mithilfe von Maneo eine anonyme Anzeige gegen die Straftäter erstellt werden und auch die therapeutische Unterstützung ist eine angebotene Dienstleistung.
Die Statistik von Maneo zum Jahr 2020 erfasste 510 Delikte. Laut des Berliner Innensenators wurden in der Hauptstadt Berlin hingegen „nur“ 341 Fälle registriert, die in die Kategorie PMK gegen die LGBTQIA+ Community fallen – unter dem Vorbehalt, dass diese Zahl stimmt, liegt Berlin dennoch mit 60 % der bundesweit erfassten Fälle weit vorne in der Statistik. Für das Jahr 2021 gibt es einen bundesweiten Anstieg der Übergriffe von 36 %.
Doch nicht jeder Akt, jede Beleidigung, jeder Übergriff und Zurschaustellung von Trans – und Homophobie wird gemeldet, die Dunkelziffer liegt in einem ganz anderen Spektrum, denn schätzungsweise 80 – 90 % der Taten werden nicht gemeldet, so der MANEO-Leiter Bastian Finke. Doch die „Regenbogenhauptstadt Berlin“, wie sie der Senator Dr. Dirk Behrendt in einer Pressemitteilung vom 15. Mai 2018 nannte, liegt in vielerlei Aspekten weit vor anderen deutschen Städten. Schon im Jahre 1992, vor über 20 Jahren, schaffte die Berliner Polizei als erste in ganz Deutschland eigenständig die Abteilung für die LGBT Bevölkerung unter dem Namen „Ansprechpersonen für die LSBTI bei der Berliner Polizei“ die zudem an das Berliner Landeskriminalamt angebunden ist, um somit der Strafverfolgung LGBT-bezogener Straftaten schneller und effizienter nachgehen zu können. Und all dies geschah zu einer Zeit, in der der 120 Jahre alte § 175StGB noch in Kraft war. Zwei Jahre, bevor der Paragraf gestrichen wurde, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte und selbst die Verfolgung Homosexueller ermöglichte. Ein weiterer Grund für die Schaffung der Abteilung ist und war das Zögern und die Berührungsangst mit der Polizei, die viele queere Menschen, die in homophoben Attacken involviert waren, stets in sich tragen. Auch wurde seit je her aktiv auf die Einstellung von Polizeibeamten mit LGBT Hintergrund geachtet, sodass eine Diversität auch in den eigenen Reihen herrschen sollte, wie zum Beispiel die Polizeihauptkommisarin Anne von Knoblauch. Einen weiteren Meilenstein setze die Berliner Staatsanwaltschaft, die dem Beispiel der Polizei folgte und im Jahre 2012 als europaweit einzige Strafverfolgungsbehörde „eine Sonderzuständigkeit für die spezialisierte, konzentrierte und opferorientierte Verfolgung homophober und transphober Hasskriminalität“ schuf. Auch sind die Abteilungsleiter, Frau Oberstaatsanwältin Karl und Herr Staatsanwalt Oswald im Dienst als Ansprechpartner für LSBTI, also Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle.
Das Interview
Die Zahlen und Statistiken sind aber nur ein Aspekt dieser tiefergehenden Thematik. Als erster Bezirk in Berlin hat Tempelhof-Schöneberg Beauftragte für queere Lebensweisen im Rathaus Schöneberg im Auftrag. Frau Svetlana Linberg ist hierbei die Ansprechpartnerin für Anfragen zu diesem Fragenkomplex, in ihrer Abwesenheit kann Dr. Ann-Kathrin Biewener, die stellvertretende Ansprechperson, für Fragen zur Verfügung stehen. Kaum hingesetzt geht es auch schon los.
Besonders im Pride Monat scheinen die Angriffe auf Mitglieder der queeren Community zu steigen – insbesondere für Berufstätige, die in der Nacht arbeiten, z.B. Sexarbeiter, Performer etc., wie es den Tagesblättern zu entnehmen ist.
Dr. Biewener entgegnet, dass Sie erst vor Kurzem ein Interview zum Thema „Queere Stadtentwicklung“ geführt hat und da einen Satz erwähnt, der Ihrer Meinung auch hier zutreffen würde: „Und zwar akkumulieren sich die Angriffe und Gewalttaten besonders in Bezirken, wo die Repräsentanz der queeren Szene besonders hoch ist. Damit gemeint sind Menschen, die der Heteronormativität nicht entsprechen, z.B. Trans-Personen.“
Sie führt fort, dass dies auch auf den Regenbogenkiez, also dem Bülowkiez in Schöneberg, zutrifft.
Erleichterung bringt ihr jedoch, dass es hier keinen Gewaltschwerpunkt gibt, weil hier viel Präventionsarbeit geleistet und viel Arbeit investiert wird, sodass solche Angriffe nicht mehr in der Mehrheit sind und tendenziell zu den Ausnahmen gehören, selbst wenn es dann genau diese sind, die es in die Zeitungen schaffen, wie jetzt im Pride Monat.
Von der Dichte der queeren Szene abgesehen, sind auch die Randbezirke vermehrt betroffen von fehlender Akzeptanz, führt Dr. Biewener fort. Angsträumen entgegen zu wirken, sei nun wichtig, denn davon betroffen ist nicht nur die queere Szene, sondern auch Frauen und auch Flüchtlinge.
Als nächsten Punkt bringt sie die Stigmatisierung ins Spiel: „Wir haben Personen, die mehrfach stigmatisiert werden, z.B. Trans-Sexarbeiter, die im besten Fall dann auch aus dem Ausland sind und auch noch Fluchterfahrung haben und eventuell auch noch eine Behinderung – dann merkt man natürlich auch die immense Vulnerabilität der Gruppen.“
Eigene Erfahrungen, die man hier als Repräsentantin für eine der verletzlichsten sozialen Gruppen unserer Gesellschaft hat, helfen Perspektive zu schaffen. Dr. Biewener selbst wird auch zum Opfer von Cat-Calling, was sie zurückführt auf ihre Kleidung, ihre Aufmachung, ihr Geschlecht. Ab einem gewissen Punkt, so Dr. Biewener, „reimt man sich die Intentionen der Aggressoren natürlich selbst zusammen.“
In einem Punkt sind sich die Beauftrage und Opfer von Hasstaten einig: „Wichtig ist zu erwähnen, dass die Problematiken meist von einer einzigen Gruppe ausgehen, nämlich Männern, die der cis-Norm entsprechen und sich in ihrem Wesen angegriffen fühlen.“
Ansätze zur Dämmung solch eines Gedankenguts sieht sie in der Jugendarbeit. Hier kann man den Fokus auf das Lehren von Toleranz legen und Diskriminierung von Anfang an nicht entstehen lassen.
„Ich glaube leider, die wenigsten Frauen und Mitglieder der queeren Szene können von sich behaupten, noch nie eine solche Erfahrung gemacht zu haben.“, wahre Worte, wie auch unser Drag Künstler und auch der Verfasser dieses Berichtes bestätigen.
Der Weg zur Polizei wird nicht oft aufgesucht von Opfern von Gewalttaten. Lösungsansätze hat man mit Trägern in der Trägerlandschaft vorgenommen, die Beratungen vornehmen. „Wenn ich z.B. nach dem Küssen meines Partners aufgrund meiner Homosexualität angegriffen werde, melden sich viele beim Manometer und geben dies dort an (…)“. Angeboten werden auch psychologische Beratungen, auch bei Übergriffen auf lesbische Mitmenschen durch „L-Support“ und bei „Trick“, wenn es um transfeindliche Übergriffe geht.
Der Kriminalitätsschwerpunkt wird nur dadurch ermittelt, dass dort viele Fälle gemeldet werden und die Fälle müssen bei der Polizei registriert sein – ein Schritt, der laut MANEO-Leiter Bastian Finke, von vielen nicht gegangen wird.
Es gibt zudem LGBTQIA+ Beauftragte bei der Polizei, die polizeilichem Fehlverhalten direkt nachgehen und es untersuchen.
„Wir haben zudem auch Präventionsteams im Regenbogenkiez, die darauf geschult sind für die Community Schutzräume zu schaffen und in zivil dann patroulieren.“, eine Dienstleistung, die speziell für die Nacht geschaffen wurde, um ein normales Leben für die Zugehörigen der LGBTQIA+ Gemeinschaft anvisieren zu können.
Im Zuge all dieser Informationen fragt man sich, wie ein perfektes Szenario für ein friedliches und auch sicheres Miteinander aussehen könnte. Die Tageszeit muss nicht ausschlaggebend sein hierbei, die Indifferenz von (gewissen) Menschen am Tage erlebt in der Nacht lediglich eine Fortsetzung, jedoch dann auch in Gruppen, gegebenenfalls auch unter alkoholischem Einfluss.
Zwischen zwei Punkten müsse man unterscheiden, so die Biewener. Zum einen muss man Schutzräume schaffen, zum anderen muss man den Ansatz für die Prävention solcher Situationen bereits in der Stadtgesellschaft setzen. „Da geht es darum, dass wir schon bei den Kindern anfangen müssen in der Schule aufzuklären. Auch bei der ganz klassischen Aufklärung über die Sexualität von Anfang an zu sagen: Übrigens, es gibt neben Mann und Frau auch Mann und Mann und Frau und Frau, sodass man es gleich von Anfang an richtig macht, denn Kinder sind völlig vorurteilsfrei. Da hat man auch die Chance auf ein Umdenken in der Gesellschaft, was bei Jugendlichen und Erwachsenen leider zu spät ist.
Mein anderer Punkt ist, was ich direkt vor Ort machen kann. Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht mit den Nachtlichtern im Bülowkiez, Konfliktlöser ganz in weiß gekleidet greifen hier präventiv und niederschwellig in Situationen ein, die hitzig werden können. Dann gibt es noch den Nachtbürgermeister, von denen ich gerne noch mehr im Einsatz hätte, jedoch mangelt es da am Geld. Richtig tolle Ansprechpersonen für Informationssuchende bei Nacht, zum Beispiel Touristen oder Menschen, die potentiell gefährliche Erfahrungen gesammelt haben und nun Rat suchen.
Was wir uns schon lange wünschen, wobei leider die Räumlichkeiten arg fehlen, sind Nacht-Cafés. Die sind dafür gedacht, dass man bei Nacht dort einfach hinkommen kann, ob es nun für einen Kaffee ist oder eine Beratung, die dann auch nachts angeboten wird.“
Die Lichter gehen aus, die Show geht los!
So, die Perücke auf, das Kleidchen an. „Funktionieren die Lichter wie geplant?“, fragt Jesper den Lightjokey und wird geflutet von rotem, einnehmendem Licht des Scheinwerfers. Passend zu den roten Netz-Strumpfhosen und dem grau-karierten Blazer.
Die Bar füllt sich, es wird noch einmal mit einem Sekt auf Eis angestoßen und mit einem Grinsen zieht es Jesper … oder in diesem Fall, Santana Sexmachine, das Alter-Ego des Drag-Künstlers, auf die Bühne. Geschlossene Eingangstür, verschlossene Jalousie, Sicherheit: die Show kann losgehen! Und der Heimweg, mit offensichtlichen Überbleibseln der Travestieaufmachung wird gemeistert, indem die Zuschauer allesamt am Ende der Show Trinkgelder in einen Trinkgeld-Eimer werfen, beim „Trinkgeld-Tanz“, der dafür dient die Performer sicher mit einem Taxi nach Hause zu bringen.
Ist nun die Angst von Queers bei Nacht unterwegs zu sein eine legitime? Keine Zahlen oder Statistiken können diese These Uhrzeit-spezifisch eindeutig bestätigen. Doch scheint es klar, dass der Schutz der Dunkelheit nicht nur den verletzlichen Minderheiten unserer Gesellschaft dient, sondern auch den Jägern, die sich bei der Dämmerung, im Gruppendrang und unter alkoholischem Einfluss, mobilisieren und sich an ihre Beutetiere heranpirschen.
Damun Bastani (29) Studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, an der FU-Berlin. Damun ist ein Berliner multidisziplinärer Künstler, der neben dem Studium als Performer, Fotograf und queerer Aktivist tätig ist.