Krisenberatung per Chat: Wie Kai Lanz mit seinem Team Kindern und Jugendlichen in der Pandemie hilft

Krisenberatung per Chat: Wie Kai Lanz mit seinem Team Kindern und Jugendlichen in der Pandemie hilft

Wie geht es Kindern und Jugendlichen in der Pandemie? An wen können sie sich wenden in dieser schweren Zeit, in der viele sich einsam und zurückgelassen fühlen? Kai Lanz, einer der Gründer des gemeinnützigen Unternehmens Krisenchat aus Berlin, erklärt wie er und sein Team jungen Menschen in Not helfen.

von Alina Tigli

Seit März 2020 wechseln Kinder und Jugendliche ständig zwischen Home-Schooling, Präsenzunterricht oder dem Wechselmodell. Neben der Schule fielen auch Freizeitangebote wie Sportvereine lange weg. Mit diesem runtergefahrenen Sozialleben, dem Mangel an Entwicklungsräumen und dem Anstieg häuslicher Gewalt gehen schwere physische und psychische Folgen einher. Kinder werden zunehmend verhaltensauffällig, erkranken häufiger an Depressionen und leiden unter Angststörungen.

Hamburger Studie zeigt: Kinder und Jugendliche leiden immer mehr unter Ängsten und Sorgen

Die COPSY-Studie (COrona und PSYche) der Uniklinik Hamburg-Eppendorf hat erstmals alarmierende Ergebnisse vorgelegt: Hatten während des ersten Lockdowns noch 15% der befragten Kinder und Jugendlichen Ängste und Sorgen, stieg die Zahl Anfang des Jahres 2021 bereits auf 30%. Wer hilft ihnen in dieser schweren Zeit? Sich an die Eltern oder Vertrauenspersonen zu wenden, fällt Betroffenen häufig sehr schwer, denn offen über sein seelisches Befinden zu reden, ist oft mit Scham verbunden. Hinzu kommen fehlende Therapieplätze in überlasteten Praxen und Kliniken, die ellenlange Wartelisten zu verzeichnen haben.

Welche Möglichkeiten sich Hilfe zu suchen gibt es für einen jungen Menschen, der sich in dieser
Krise einsam und zurückgelassen fühlt? Eine erste Anlaufstelle bietet der Krisenchat. Das junge gemeinnützige Berliner Unternehmen wurde zur Zeit des ersten Lockdowns gegründet und hat es sich zum Ziel gemacht, jungen Menschen in Not eine Ersthilfe zu leisten. Kindern und Jugendlichen bis 25 Jahren ist es möglich,
kostenlos per Whatsapp-Chat mit professionellen Hilfskräften in Kontakt zu treten und über ihre
Probleme anonym zu schreiben. Dabei ist das Angebot rund um die Uhr an sieben Tagen der
Woche verfügbar. Mit Kai Lanz habe ich über diese Arbeit gesprochen.

Hilfe per WhatsApp: Kai Lanz im Interview über den Krisenchat

Kai, wie kam es zur Gründung des Krisenchats?

Kai Lanz, Mitgründer von Krisenchat.de. Foto: Alina Tigli

Der Krisenchat ist während der Corona-Zeit entstanden. Wir haben bei einem Vorgängerprojekt ‚exclamo‘ mit Schulen zusammengearbeitet, als die dann aber auf einmal alle geschlossen waren, konnten wir dort nicht mehr helfen, da die anderes zu tun hatten. Gleichzeitig haben wir viele Berichte aus anderen Ländern gesehen, in denen es bereits zum Lockdown kam und da hat man gesehen, dass es viel mehr Fälle von häuslicher Gewalt und sexueller Gewalt an Kindern und Frauen gab. Dann haben wir gesagt, wir müssen jetzt irgendwas machen, wir können nicht zulassen, dass das in Deutschland auch so passiert. Wir müssen irgendwie eine niederschwellige Möglichkeit finden für junge Menschen, wie sie sich Hilfe holen können, um über Probleme zu sprechen.

Innerhalb von wirklich kurzer Zeit hat es sich bestätigt, dass es funktioniert und dass Leute das wollen. Wir hatten in den ersten 15 Minuten, seit es das Angebot gab, schon den ersten Chat. Seit dem 2. Mai 2020 sind wir jetzt rund um die Uhr erreichbar.

Wie ist der Krisenchat denn genau aufgebaut und was sind deine Aufgaben als Mitgründer?

Der Krisenchat hilft Kindern und Jugendlichen in Not. Die Beratung machen inzwischen etwa 300 ehrenamtliche Krisenberater*innen. Das sind alles ausgebildete Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen oder andere Expert*innen aus den Bereichen. Wir bilden zusätzlich weiter aus, das heißt da gehen viele unserer Kapazitäten rein, damit diese eine gute Beratung abliefern können. Außerdem motivieren wir sie natürlich kontinuierlich, um sie am Ball zu halten. Wichtig ist nämlich, dass sie nachhaltig beraten und nicht nach ein paar Wochen ausgebrannt sind. Ich persönlich bin einerseits für unsere ganze Kommunikation und das Marketing verantwortlich zusammen mit dem Team. Gleichzeitig bin ich mit einem meiner Mitgründer für das Fundraising zuständig. Wir versuchen kontinuierlich weitere Unterstützer*innen zu gewinnen, die mit uns auch an die Vision glauben.

Die ehrenamtlich arbeitenden Psychologen*innen und Psychotherapeut*innen hast du bereits erwähnt. Mich interessiert wie ihr zu diesen Kontakt aufbaut, beziehungsweise sie „anwerbt“. Welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen?

Das ist eine unserer Kernaufgaben, wie wir es schaffen können, die Ehrenamtlichen zu begeistern und zu erreichen. Am Anfang ging viel über Ausbildungsinstitute, die Werbung beispielsweise in ihren Newsletter getan haben. Auch über die Presse, die von Anfang an eine tragenden Rolle gespielt hat. Radio, Zeitungen und das Fernsehen helfen. Facebookgruppen nicht zu vergessen, die dann ‚Suche Psychotherapeut*innen in Berlin’ oder sowas geteilt haben und so haben sich einige gemeldet. Inzwischen kommt ein sehr signifikanter Teil über Freunde und Bekannte, das sind dann Personen die bei uns schon aktiv sind und die ihre anderen
Psycholog*innen-Freunde anwerben ‚schau mal ich mach hier dieses Ehrenamt, das macht super viel Spaß und man kann Leuten helfen und es ist gleichzeitig eine tolle Nebenbeschäftigung. Willst du nicht auch mit machen?‘

Bei uns arbeiten nur professionelle Fachkräfte. Alle Berater*innen müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Mindestens ein abgeschlossenes Bachelor-Studium in Psychologie, Soziale Arbeit oder Sozialpädagogik haben. Am besten noch einen abgeschlossenen Master. Es gibt auch einige, die ihr Pflichtpraktikum für den Master bei uns machen. Wenn man nicht aus diesen Bereichen kommt, dann sollte man langjährige Beratungserfahrungen mit Kindern und Jugendlichen haben.

Das Angebot hat eine Altersgrenze bis 25 Jahre. Gibt es ein bestimmtes Alter, das sich schwerpunktmäßig bei euch meldet?

Ja, wir haben das Ganze erstmal auf 25 Jahre begrenzt, weil das wirklich die Gruppe ist, die am meisten Hilfe braucht, und für diese Generation gibt es wirklich wenig Angebote bis jetzt. Mit unseren limitierten Ressourcen müssen wir uns einfach beschränken. Es fängt so ab 10 Jahren an, unter diesem Alter gibt es sehr wenige, die uns schreiben. Der Kern ist so zwischen 12 und 19 Jahren. Es gibt natürlich vereinzelt auch Hilfesuchende, die dieses Alter überschreiten.

Mit welchen Problemen kommen die Kinder und Jugendlichen am häufigsten zu euch?

Die Themen sind wirklich eine totale Bandbreite von allem was so in der Gesellschaft existiert. Wir sehen sehr viele mit einer depressiven Symptomatik, die oft auch verbunden mit Suizid-Gedanken ist. Das sind so 20% der Chats. Sexuelle Gewalt spielt auch eine große Rolle und generell häusliche Gewalt. Ab und zu sind aber auch leichtere Themen dabei, wie Liebeskummer oder Einsamkeit.

Warum habt ihr euch speziell für die Chat-Funktion entschieden? Sind nicht Textnachrichten ein bisschen kurz, um Nutzern eine ausreichende Unterstützung zu geben?

Das Gründerteam, v.l.n.r. Hans Raffauf, Iris Lanz, Melanie Eckert, Kai Lanz, Jan Wilhelm. Foto: krisenchat.de

Ich glaube, dass der Chat zwei Vorteile hat. Das eine ist, dass es wirklich sehr niederschwellig ist, so dass die Leute sich trauen darüber zu sprechen, sich trauen wirklich erstmal die erste Hilfe zu holen. Neulich hatte ich erst wieder mit meinen Freunden die Situation, wo es darum ging bei einer Bar anzurufen, um zu fragen, ob die noch geöffnet hat und die haben sich dann total gedrückt, da anzurufen. Da hab ich dann auch zu denen gesagt: ‚Genau das ist der Grund warum wir die Chat-Funktion nutzen. Also wenn es jetzt darum ginge denen eine WhatsApp zu schreiben, hättet ihr euch nicht gedrückt’. Genau so geht es denke ich vielen Kindern und
Jugendlichen, besonders bei schambesetzten Themen. Über 50% der Leute, die sich bei uns melden, haben explizit gesagt, dass sie das erste Mal überhaupt über ihr Problem reden.

Ein weiterer Vorteil ist, dass die Chatfunktion in der Beratung hilft. Viele der Berater*innen, die zu uns kommen sagen ‚Am Anfang war ich ein bisschen skeptisch und wusste nicht, kann man jetzt überhaupt so gut über den Chat beraten. Ich war dann aber total begeistert wie viel da geht’. Ich denke gerade wenn es darum geht weitere Hilfe zu empfehlen, ist textbasierter Kontakt oft besser, weil man sich einerseits auch viel mehr Zeit nehmen kann. Zwischen den Nachrichten kann man sich auch mal zwei bis drei Minuten Pause nehmen für beide Seiten. Zusätzlich kann man natürlich auch mal einen Link verschicken oder eine Übung empfehlen ‚Mach doch mal diese Übung, dann meldest du dich wieder und wir sprechen darüber, wie die Erfahrung für dich war’.

Eure Nutzer bleiben während der Beratung anonym. Was macht ihr, wenn es zu einem Akut-Fall kommt, bei dem ein Kind beispielsweise stark suizidal ist oder Gewalt erfährt?

Bei solchen Extremfällen haben wir ein fest angestelltes Bereitschaftsteam und ein Team für Kindeswohlgefährdung, das genau dann eingreift. Dieses Team übernimmt dann auch den Chat von den ehrenamtlichen Beratern und kümmert sich darum. Ich würde allerdings da jetzt nicht weiter in die Tiefe gehen, weil es einfach ein sehr sensibles Thema ist, es geht dabei teilweise um Leben und Tod.

Verständlich! Immer mehr junge Menschen leiden unter den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus, das zeigt zum Beispiel die COPSY-Studie der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf. Steigert sich dadurch auch die Zahl der Hilfesuchenden in eurem Chat oder gab es eine Zeit in der die Nachfrage besonders groß war?

Also man muss natürlich sagen, dass wir uns erst während des ersten Lockdowns gegründet haben, da kann man jetzt nicht so den Vorher-Nachher-Effekt sehen. Gleichzeitig haben wir während der Zeit der Gründung auch einfach mehr Bekanntheit erlangt, deswegen können wir jetzt natürlich keine bereinigten Daten darlegen, die einen Gesamttrend zeigen. Was sich schon ziemlich deutlich gezeigt hat ist, dass es gerade Anfang Januar 2021 angefangen hat hoch zu gehen, vor allem so bis April. Man kann aber sagen, dass der Trend seit der Gründung schon darin liegt, dass die Zahl kontinuierlich ansteigt. Wir denken auch, dass der Bedarf nochmal 100 bis 500 mal so groß ist, als das, was wir bis jetzt abdecken können.

Du sagst, dass der Bedarf nach Hilfe noch deutlich höher ist, als ihr ihn abdecken könnt. Muss sich da nicht was in der Politik ändern? In Deutschland hat diese gerade wegen der langen Schulschließungen, die Probleme von jungen Menschen verschlimmert haben, viel Kritik geerntet. Konnte das Krisenchat-Team schon mal mit der Politik in Kontakt treten?

Ja! Ich glaube für unser Thema ist es extrem wichtig, dass man auch politisch aktiv ist. Neben der Beratung wollen wir eine Veränderung im Mindset, also wie man über psychische Probleme und die psychosoziale Gesundheit spricht, bewirken. Es ist ein grundgesellschaftliches Thema was wir verändern wollen, da spielt natürlich die Politik auch mit rein. Wir waren leider ein bisschen frustriert, dass wir es bisher nicht geschafft haben, mit dem Familienministerium eine Kooperation aufzubauen. Mit der Politik und den Ministerien haben wir uns schon viel ausgetauscht und bleiben weiter am Ball. Gerade im Hinblick auf die kommende Wahl tauschen wir uns mit Politiker*innen aus. Die Politik sollte gerade jetzt sehen, wie man Kinder und Jugendliche stützen kann.

Zum Abschluss: Was wünschst du dir von der Politik in Bezug auf euer psychisches Hilfsangebot den Krisenchat?

Wir würden uns natürlich über Unterstützung freuen, vor allem mit dem einzigartigen 24/7 Ansatz. Damit wir es schaffen, die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Generell ist glaube ich wichtig, dass das Problem mehr anerkannt wird. Dass neben physischer Gesundheit besonders auch über die psychische Gesundheit geredet wird. Ich bin aber immer ein bisschen vorsichtig mit Aussagen wie ‚Das muss jetzt in den Lehrplan reingehen’, aber ich glaube gerade Fähigkeiten der Achtsamkeit, der Selbstregulation und Resilienzstärkung sind extrem wichtig und helfen jedem Menschen weiter. Deswegen fände ich es schon super, wenn zumindest Initiativen unterstützt werden, die das vielleicht auch vor Ort fördern.

 


Alina Tigli studiert im 4. Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin.