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[In memoriam Pierre Bourdieu]

Am 23. Januar 2002 starb der Soziologe Pierre Bourdieu, der seit Herbst 1989 Ehrendoktor des Fachbereichs Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sportwissenschaft der FU ist. Prof. Gunter Gebauer würdigt dessen Lebensleistung in diesem Nachruf.

Wer Pierre Bourdieu aus der Nähe gekannt hat, wusste, wie sehr es ihm um die Sache ging, um Erkenntnis der Gesellschaft und der Menschen, die sie machen und von ihr gemacht werden. Er wollte das Wissen über diese Prozesse, in denen wir selbst entstehen, so weit wie möglich vorantreiben, bis an die Grenze, wo die Wahrheit beginnt. In seinen, nur gelegentlichen, pathetischen Momenten äußerte er sich als ein Wissenschaftler, der jenseits seiner relationalen und differentiellen Soziologie nach der Wahrheit strebte. Angesichts seines Ziels und Ideals war ihm jede Pose verhasst.

Nichts ist falscher, als ihm, der lebenslang militant für die Benachteiligten in der Gesellschaft arbeitete, sein aktives Engagement gegen den neuen Liberalismus und die Globalisierung als Attitüde auszulegen.

Er war zu ernst, um neue Moden zu kreieren, Wissenschaft in Poesie übergehen zu lassen oder den Philosophen zu spielen. Er war ein Intellektueller, d.h. ein politischer und gewissenhafter Mann mit seiner ganzen Leidenschaft. Er wusste, dass er sich bei jeder Gelegenheit zu Zorn und Ärger hinreißen lassen würde. Am wohlsten fühlte er sich im kleinen Kreis, wo er ohne Vorsicht sprechen und seinem Talent, andere zu verstehen und zu schätzen, freien Lauf lassen konnte.

Nach seinem Tod wurde auch seinen Kollegen, die oft mit Neid und Ignoranz auf ihn gezielt hatten, klar, dass nicht irgendein bedeutender Soziologe gestorben war, sondern ein theoretischer Denker und empirischer Forscher, der wie kein anderer das Ineinandergreifen von sozialer Struktur und individuellem Handeln durchdrungen und zur Erkenntnis von Gesellschaft und Individuum beigetragen hatte.
Pierre Bourdieu war ein Philosoph, der in die Soziologie ging, aber nicht aus Zufall: Die Unzufriedenheit mit den Spielen der Philosophie ließ ihn die Probleme von gesellschaftlicher Ungleichheit, Herrschaft, sozialer Praxis, Körperlichkeit, Politik und Geschmack angehen.

Aber der Mangel an Philosophie, den er in der Soziologie feststellte, ließ ihn immer wieder zur Philosophie zurückkehren, um dort die reflexive Distanz zu seiner Disziplin zu gewinnen.

Mit dieser Verbindung von reflektierender Vernunft und in der Gesellschaft tätiger Forschung hat er seine beiden Disziplinen um einen bedeutenden Schritt vorangebracht.

Prof. Gunter Gebauer


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