Die Mauer in mir – ein Erfahrungsbericht

Die Mauer in mir – ein Erfahrungsbericht

Ich habe keine Ahnung von der Geschichte der DDR, des Mauerfalls und der BRD. Wie kommt es, dass so ein großes Stück Geschichte, nicht viel präsenter in meinem Allgemeinwissen verankert ist? Geht es nur mir so, oder handelt es sich sogar um ein Problem meiner Generation? Pünktlich zum 25 jährigen Jubiläum des Mauerfalls, möchte ich mich auf die Suche begeben nach etwas, wonach ich nie gefragt habe: Wie war das damals so? Und: Möchte ich mehr wissen?

Von Yasmin Polat

I’ve been looking for freedom

Ich war noch nie gut in Geschichte.

Zeitsträhle haben sich mir nie wirklich erschlossen, Jahreszahlen waren ungreifbar für mich.

Es ist Oktober 2014 und der Mauerfall jährt sich bald zum 25. Mal.

Zeitungen und Medien sind voll von Veranstaltungen, Sondersendungen und Interviews rund um das Thema Mauerfall, der Zeit davor und danach.

Und nun fliegt es mir um die Ohren, mein absolutes Desinteresse diesem Themengebiet gegenüber.

Nicht nur das, vor allem mein unzureichendes Wissen aus losen geschichtlichen Annahmen lässt mich innerlich frösteln. Ich gehe alles im Kopf durch und finde nicht viel. Dass David Hasselhoff dabei immer wieder durch die Gänge meiner Synapsen irrt, erwähne ich hier nur der Ehrlichkeit halber.

Generation Ahnungslos

Und ich scheine nicht die Einzige zu sein. Ich spreche mit Freunden und Bekannten.
Jeden, den ich treffe befrage ich nach seinem Wissen oder Zugang zu den Themen DDR und Mauerfall.

Bei durchweg allen sieht es so gähnend leer aus wie bei mir. Das mag daran liegen, dass man sich seine Freunde nach Ähnlichkeiten aussucht. Oder das Problem liegt tiefer und meine Generation hat einfach keinen blassen Schimmer von der Geschichte der BRD und auch nicht das erforderliche Interesse, um sie zu erfahren.

Da ich hierzu keine groß angelegte, empirische Studie anfertigen kann, bleibt es bei den Ergebnissen: „Nö, keine Ahnung.“ und „Was? Ja… Mauer halt, ne?“ und „Hmm…David Hasselhoff ?“ aus dem Freundes- und Bekanntenkreis.

Ich frage mich: Wie kann das sein? Ich bin genau 25 Jahre alt, so alt wie der Mauerfall, direkt am Checkpoint Charlie aufgewachsen und trotzdem hat mich weder Wissen noch Interesse bezüglich eines so relevanten Stückes Weltgeschichte je auf meinen Wegen begleitet. Nicht mal ein Stück weit.

Ich bin anscheinend nicht nur „Generation Y“ (englisch: Why) ich bin auch „Generation Ahnungslos“.

Zum Glück bringt es „Generation Y“ aber mit sich, alles zu hinterfragen und deswegen werde ich versuchen, meine stumpfe Ignoranz dem Thema DDR und Mauerfall gegenüber, abzulegen.

Ein Mauer-Stück

Die ersten Wikipedia-Artikel, die ich anfange zu lesen, langweilen mich allerdings schnell wieder und ich bemerke, wie ich unbewusst die Akkorde von I´ve been looking for freedom anstimme.

Ich brauche Gesichter und Geschichten.

Da sehe ich es: Ein Theaterstück, aus aktuellem Anlass, zum Thema DDR und Mauerfall.

„Berlin Friedrichstraße 20:53h“ soll es heißen, ist von Regisseur Marcus Lobbes und wird im Theater an der Parkaue in Berlin-Lichtenberg gezeigt.

Ich überfliege die Inhaltsangabe nur und reserviere mir direkt eine Karte für die Aufführung am 5. November.

Am Abend des Theaterstücks, bin ich aufgeregt. Ich verspreche mir viel von dem Stück, da Theater und Film mich oft schon an Themen herangeführt haben, die mich sonst kalt gelassen hätten.

Als ich ankomme, ist das erste, was ich sehe, eine überwältigende, lärmende Masse an jungen Menschen, ich schätze sie auf 12. Ich denke sofort: „Oh Gott. Schulklasse.“ Und nicht nur eine.
Da ich schon einige Jahre aus der Schule raus bin, weiß ich nicht, um wieviele es sich genau handelt. Es könnten zwei Schulklassen sein. Es könnte auch eine ganze Schule sein.
Ich fühle mich wie ein Außenseiter. Oder wie einer der Lehrer.

Immerhin bekomme ich auch eine Ermäßigung mit meinem Studentenausweis an der Abendkasse.

Es klingelt und wir alle ziehen los zur Bühne 1, dem Ort des Geschehens. Angekommen, sitzt eines der Kinder auf meinem Platz. Da ich nicht spießig sein will, sage ich nichts und setze mich einfach auf einen anderen Platz. Zwei Minuten später spricht mich ein bebrillter Schüler an, dass ich auf seinem Platz säße. „Ja aber die da sitzt auf meinem“ erwidere ich erwachsen, denke: „Spießer.“ und setze mich beschämt um, auf einen Platz ganz am Rand.

Das Stück geht los und die sieben Schauspieler gehen interaktiv aus dem Publikum auf die Bühne. Die Bühne besteht, sehr minimalistisch, aus einer weißen Mauer vor der sieben weiße Stühle stehen. Auf diesen nehmen die Schauspieler in grauen Jogginganzügen Platz.

Die Schauspieler im Theater an der Parkaue

Die Schauspieler im Theater an der Parkaue, Quelle: www.parkaue.de

Das Stück habe ich nicht gänzlich verstanden. Es erzählt von einem Fluchtversuch von neun Schülern der Max-Planck-Oberschule im Jahre 1965. Von der Stasi und von Berlin. Die Geschichte wird teils chorisch vorgetragen (Die Kinder kichern), teils mit medialen Elementen erzählt, wie einem eigens angefertigten Videospiel, das die Flucht visuell darstellt. (Kinder lachen lauthals).

Die weiße Mauer dient hierzu als Projektionsfläche. Ich komme nicht umhin als hier und da mit den Kindern zu lachen. Alles in allem ist es ein Stück, bei dem man sich sehr konzentrieren muss, da die Geschichte nicht wirklich linear ist und fast ausschließlich erzählt wird. Am Ende des Stückes wird die weiße Mauer, die anscheinend aus Pappe besteht, von allen Schauspielern durchbrochen und ich bemerke endlich eine Emotion in mir: Erleichterung.

Das Gefühl der Erleichterung in mir scheint sich auf den gesamten Saal zu verteilen, als die Ansage für die anschließende, optionale Podiumsdiskussion kommt. „Geil, optional!“ sagt der Junge neben mir während alle hinausstürmen. Nach einer kurzen Pause kehre ich zurück in den Raum und sehe sechs verirrte Erwachsene verteilt im Raum sitzen. Auch die Dramaturgin, die die Diskussion leiten soll und drei verbliebene Schauspieler blicken ernüchtert auf die leeren Plätze.

„Irgendwelche Fragen? Irgendjemand?“ Unangenehme Stille. Es folgen zwei zaghafte Fragen zum Verständnis des Stückes. Dann traut sich jemand: „Wie ist es für sie als Schauspieler wenn die Kinder so laut sind?“ Schauspielerin Franziska Ritter merkt an, dass es schon schwierig sei für sie, gerade beim chorischen Sprechen, auf die Atmung des anderen zu achten um seinen Einsatz nicht zu verpassen. Also so, wie das heute Abend gewesen sei, sei es unmöglich. Ihre Kollegin Birgit Berthold hat etwas versöhnlichere Worte und merkt an, dass es schon schwierig sei, der Geschichte zu folgen, die nicht gradlinig sei und in der nur gesprochen würde. Hinzu kämen die medialen Reize, die die Kinder ablenken würden. Einstimmig sagen alle, dass so ein Theaterstück in keinem Fall eine Lehrstunde ersetzen kann und das nächste Mal wohl lieber keine zwölfjährigen Einlass finden sollten.

Die letzte Frage kommt von einem jungen Herren aus dem Publikum: „Was sind eigentlich die Aufgaben einer Dramaturgin?“

Zeit für mich, zu gehen.

„Na wie soll das schon gewesen sein?“

Enttäuscht rufe ich meine Mutter an. „Ja Yasmin, was willst du denn wissen?“ Es klingt genervt.

„Na, also wie war das denn damals so? Ich hab ja nichts mitbekommen, außer dass ihr öfter mal von den ‚Ossis‘ gesprochen habt, mit eher negativem Unterton.“ erwidere ich. „Na wie soll das schon gewesen sein? Warst du jetzt eigentlich schon beim Impfen?“.

Ich merke, das Gespräch kommt eher langsam in den Gang. „Mama, nein war ich noch nicht. Also wann bist du eigentlich nach Berlin gekommen?“ frage ich.

Meine Mutter fängt an, ihre Geschichte zu erzählen. Wie sie 1982 direkt nach Westberlin gekommen ist, aber noch Tanten „da drüben“ , in der DDR hatte. Wie man ständig Angst hatte bei der Einreise. Was für Visa es für wen gab. Und wie die Stimmung nicht sofort harmonisch war nach Öffnung der Mauer, sondern unruhig und angespannt.

Außer ein paar weiterer persönlicher Anekdoten bekomme ich allerdings auch hier nicht viel raus und ich fange an zu vermuten, dass meine Eltern möglicherweise einen beachtlichen Teil an meinem Unwissen der DDR gegenüber beigetragen haben. Der Apfel fällt eben doch nicht weit vom Stamm. Und Schuld sind immer die Anderen.

Die Mauer in mir muss weg

Zum Glück habe ich mir ein paar Dokumentationen herausgesucht rund um die Themen DDR und Mauerfall. Ernüchtert von Theater und Telefonat erhoffe ich mir hiervon am wenigsten.

Ich beginne mit der Dokumentation „Goodbye DDR“, einer vierteiligen Reihe, die auf Phoenix lief und alle politisch relevanten Ereignisse und Vorgänge schildert, die von Bau bis Fall der Mauer reichen. Sie ist gut gemacht, diese Dokumentation. Sie bebildert, was vor sich gegangen ist, nimmt mich mit auf eine Reise. Leider eine doch ziemlich langatmige und holprige Reise, nach Teil 2 der Doku-Reihe, kann ich mich nicht dazu überreden, den dritten Teil anzuklicken.

Ich mache lieber die Dokumentation „Von Schlange stehen bis selber nähen- wie die DDR wirklich war“ an. ZDFinfo hat 2013 diesen 42-minütigen Dokumentarfilm ausgestrahlt und jetzt packt es mich endlich. Da werden private Video-Aufnahmen gezeigt, mit O-Tönen unterbrochen und es geht um das ganz normale, alltägliche Leben in der DDR. Was für Lebensmittel gab es, was gab es nicht, was musste man sich selbst zusammenbauen oder nähen. Es ist ein Film, der nicht klagt und nicht verklärt – mir wird ein realistisches Bild gezeigt, das von dem „Wir hatten ja nix!“ – Gejammer, was ich so oft schon gehört hatte, abweicht.

Es scheint banal, und ich verstehe es selbst nicht ganz, aber das sind die Dinge, über die ich mehr erfahren möchte. Da sind sie, die Gesichter und Geschichten.

Die Mauer in mir beginnt zu bröckeln und endlich bemerke ich aufrichtiges Interesse.

Das große Finale

Pünktlich zu meinem erwachten Interesse, rüstet sich Berlin für eine seiner vielen Gründe zum Feiern.

In diesem Fall eine Ballonaktion, die als Höhepunkt der Feierlichkeiten zum Mauerfall symbolisch die Auflösung der Grenze symoblisieren soll. Rund 15km entlang der ehemaligen Mauer wurde mithilfe von beleuchteten Luftballons eine Lichtgrenze installiert, für die rund 8000 Menschen eine Patenschaft übernommen haben.

Am späten Nachmittag des 9. Novembers sollen diese dann in die Luft entlassen werden.

Ich bin an besagtem Abend in Prenzlauer Berg. Interessiert und diesbezüglich gebildet wie nie, laufe ich mit den Anderen zum Platz vor dem Mauerpark. Ich verspreche mir von diesem Abend ein Event, einen Moment, in dem endlich auch ich mal weiß, was genau es zu feiern gibt.

Ich bin zunächst beeindruckt, wie viele Menschen es auf die Straße gezogen hat. Schnell bemerke ich jedoch eine andere Stimmung, als ich mir vorgestellt habe. Sie ist ruhig, fast andächtig.

Von Feiern oder Ausgelassenheit keine Spur. Keine Musik, kein lautes Gelächter oder laute Gespräche. Bald frage ich mich, ob hier gefeiert oder sogar, man will es kaum sagen, an einigen Stellen getrauert wird.

Die Lichtergrenze im Mauerpark

Die Lichtergrenze im Mauerpark, Quelle: www.urbanpresents.net

Als dann die Ballons einzeln, ohne Musik oder sonstiger Inszenierung ruckelnd und wackelig nach und nach in die Luft fliegen, ist die Stimmung endgültig im Keller, scheint es. Auch ich stehe, wie die Anderen, doof da.

Kein großer Moment, kein Wow-Effekt, keine Freude. Zum Jubeln oder klatschen fühlt sich niemand berufen. Immerhin, denke ich mir, war ich nicht die Einzige.

Die Veranstalter schienen bei der Planung ähnlich desinteressiert gewesen zu sein.
Nach und nach gehen die Menschen wieder. Das war es also, das große Finale.
Auch ich räume ernüchtert den Platz, aber ganz entmutigen lasse ich mich nicht.

Nächste Woche gehe ich vielleicht mal ins DDR-Museum.


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Yasmin Polat kommt aus Berlin und studiert im Hauptfach Islamwissenschaft an der FU Berlin. In ihrer Freizeit singt und schreibt sie gern und geht den Fragen des Lebens nach.