Görli: Warum Polizei allein keine Ängste vertreibt

Görli: Warum Polizei allein keine Ängste vertreibt

Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg gilt als „gefährlicher Ort“ und Drogenumschlagplatz. Etwa 700 bis 1000 Straftaten werden im „Görli“ jährlich verübt. Ein guter Grund, Angst zu haben, finden viele Parkbesucher und Anwohner. Seit November letzten Jahres herrscht deshalb dort die „Taskforce“ mit einem polizeilichen Großaufgebot. Denn Angsträume bekämpft man doch immer noch am besten mit der Polizei. Oder macht das alles vielleicht nur noch schlimmer?

Von Sarah Näher

Amadou ist unzufrieden mit dem Platz, der ihm heute zugewiesen wurde. In den ruhigeren Teil des Görlitzer Parks hinter dem von hohen Zäunen umgebenen Sportplatz verirrt sich nur selten ein Parkbesucher. Schon gar nicht bei Nieselregen. Kein guter Tag für das Geschäft. Amadou und die jungen Männer zwischen 20 und 25 Jahren auf der Bank neben ihm sind Dealer. Hier im „Görli“, der mittlerweile in jedem zweiten Reiseführer als Drogenumschlagplatz und buntes Kreuzberger Kiez-Erlebnis beschrieben wird, verkauft der Westafrikaner weiche Drogen wie Marihuana für ein paar Euro.  Es sei ihm peinlich hier zu stehen und den vorbeischlendernden Leuten „Hey, how are you doing?“ zuzurufen, sagt er. Aber von irgendwas müsse er ja schließlich leben. Arbeiten dürfen Amadou und seine Kollegen als Flüchtlinge, die meist über Libyen und Lampedusa hierher kamen, ohne gültige Papiere oder eine Aufenthaltsgenehmigung nicht. Also stehen sie hier. Tagein, tagaus über Stunden, um am Ende mit zwanzig bis dreißig Euro nach Hause zu gehen. Ständiger Begleiter: Die Angst vor der nächsten Razzia der Polizei. Und davon gibt es viele seit der Messerstecherei am 15.November letzten Jahres zwischen zwei jungen aus Guinea stammenden Dealern und dem Betreiber einer Shisha Bar hier im Kiez. Der Park, der einst für ein friedliches, multikulturelles Miteinander stand, mutierte in den vergangenen Jahren zunehmend zum „Park der Ängste“ und steht damit stellvertretend für ein Phänomen, dass in der Justiz gerne als zunehmende Entstehung von „Angsträumen“ oder „gefährlichen Orten“ bezeichnet wird. Und die bekämpft man am Einfachsten mit viel Polizei. Das Paradoxe: Ganz so einfach ist es eben leider doch nicht. Zu heterogen und individuell sind die Ängste der Menschen, als dass es die eine perfekte Maßnahme geben könnte. Schon gar nicht an einem Ort wie Kreuzberg.

Photo: Sarah Näher

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Während sich Amadou und seine Kollegen vor Polizeikontrollen, Abschiebung und Gefängnisstrafen fürchten, sind gerade die jungen, dealenden Schwarzafrikaner der Grund dafür, dass viele Anwohner und Parkbesucher Angst haben, wenn sie im „Görli“ unterwegs sind. Die an den Eingängen und den Hauptwegen des Parks herumlungernden bis zu hundert dealenden Kleinhändler treten meist in Gruppen auf. Das schüchtert ein. Besonders Frauen und Familien mit kleinen Kindern. Viele empfinden die aufdringlichen Sprüche der Männer als sexistisch und unangenehm. Auch dass die Dealer häufig selbst die ganz Jungen ansprechen, stört die Menschen im Görlitzer Park. Spätestens, wenn die eigenen Kinder beim Spielen kleine Plastikbeutel mit Gras im Gebüsch finden, hört der Spaß auf. Viele betreten den „Görli“ nur noch in Begleitung, einige bleiben einfach gleich ganz weg. Kein Wunder: Jährlich werden etwa siebenhundert bis tausend Straftaten im Görlitzer Park verübt, ein Großteil davon  Drogendelikte und Beschaffungskriminalität.

Mit Kanonen auf Spatzen – Die Gründung der Taskforce

Neben der wachsenden Kriminalitätsrate im Park und der steigenden Zahl der Beschwerden von genervten Anwohnern, Gastronomen oder Parkbesuchern bei der Polizei, war es wohl auch der mediale Druck, der den Senat schließlich zwang zu handeln. Seit dem 25.11.2014 gibt es die „Taskforce Görlitzer Park“, die die erst im Mai gegründete „Soko Görli“ ersetzt und unter der Schirmherrschaft von Innensenator Frank Henkel (CDU) steht. In drei Arbeitsgruppen sollen Innen-, Justizverwaltung, Polizei, Staatsanwaltschaft und Bezirk eng zusammenarbeiten, um den „Angstraum Görlitzer Park“ wieder zu einem Ort zu machen, der für jeden attraktiv ist, der sich legal in Berlin aufhält und die Gesetze achtet. Die angesetzten Ziele: die effektive Strafverfolgung von Dealern, präventive Maßnahmen im Park und die striktere Anwendung des Ausländerrechts bei den aus Afrika stammenden Drogenhändlern. Vor allem das bereitet Amadou Sorge. Die Pläne der Taskforce sehen vor, die im Park dealenden Flüchtlinge in die Bundesländer zurückzuschicken, in denen sie registriert sind oder gleich ganz auszuweisen. Dass ein Großteil der Leute hier gar nicht dealen will, sondern schlichtweg nicht anders kann als illegalen Tätigkeiten nachzugehen, wird dabei außer Acht gelassen.

Photo: Sarah Näher

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Statt die zunehmenden Forderungen der Arbeitgeberverbände nach einer schnelleren Eingliederung von Flüchtlingen in die Arbeitswelt näher zu betrachten, bevorzugte Innensenator Henkel die schnelle, öffentlichkeitswirksame Lösung: sicherheitsarchitektonische Maßnahmen wie die Schließung von Parkeingängen, das radikale Zurückschneiden von Sträuchern und Bäumen, die Schaffung von Sichtachsen, eine Erneuerung der Beleuchtung und der medienwirksame, nahezu tägliche Einsatz eines Großaufgebots an Polizisten.

In den ersten fünf Monaten nach Gründung der Taskforce leistete die Berliner Polizei nach eigenen Angaben im „Görli“ satte 41.521 Einsatzstunden. Im Vergleich zu den Monaten Januar bis November 2014 hat sich die Polizeipräsenz im Park somit sogar verdreifacht. Neben normalen Streifen fanden monatlich vierzig bis fünfzig Razzien statt. Insgesamt wurden in dieser Zeit 4.879 Personen überprüft, 1.708 Platzverweise erteilt und 2.031 Anzeigen gestellt – mehr als die Hälfte aufgrund von Drogendelikten und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Seit Anfang des Jahres arbeitet man außerdem in der für den Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain zuständigen Polizei-Direktion 5 mit einem neuen Konzept. Als flexible Brennpunktstreifen sind nahezu täglich fünfzig Polizisten im und rund um den Görlitzer Park sowie auf dem RAW-Gelände in der Revaler Straße und in der Hasenheide unterwegs, um Verdrängungseffekte des illegalen Handels auf andere Gebiete vorzubeugen. Fünfzig weitere Polizisten wurden zusätzlich als Sonderermittlungsgruppe aufgestellt.

Lorenz Rollhäuser von der „Anwohnerinitiative Görlitzer Park“ betrachtet dies als ein Armutszeugnis. Die Taskforce ist in seinen Augen ein Ausdruck großer Hilflosigkeit. Ein Resultat dessen, dass sich die Kreuzberger untereinander nicht darüber einig werden können, wie eine Lösung aussehen könnte, die allen Beteiligten gerecht wird. Denn das ist für Rollhäuser klar: Park und Kiez sind für alle da. Hier prallt reich auf arm, extravagant auf 08/15. Genau deswegen kämen die Leute ja hierher. Genau wegen dieser gemischten Szene. Und dazu gehören eben auch die Dealer. Eigentlich. Denn zu so einem bunten Zusammenleben in öffentlichen Räumen wie dem Görlitzer Park gehören Regeln und genau die fehlen hier völlig, erklärt Rollhäuser.

Der Görlitzer Park als subjektiver Angstraum

Der Rechtswissenschaftler Christoph Gusy hat den öffentlichen Raum 2009 aus juristischer Sicht als jenen Raum definiert, welcher „allen zur freien und gleichen Benutzung offensteht. Er ist zugleich derjenige Raum, in welchem Nutzungsrechte und Nutzungsformen aller unmittelbar konkurrieren und kollidieren“. Jedem stünde somit frei, den öffentlichen Raum zu betreten und ihn nach eigenem Belieben zu nutzen. Wo unterschiedlichste Lebensentwürfe aufeinandertreffen, würde der öffentliche Raum unter Umständen auch zum „Raum der Zumutung“. Oder eben wie im Fall des Görlitzer Parks zum „Raum der Unsicherheit“. Hier stelle sich laut Gusy insbesondere die Frage der subjektiv empfundenen Sicherheit. Entscheidend sei also nicht, was gefährlich wäre, sondern das, was gefährlich erscheine. Je unübersichtlicher, fremder und somit weniger kontrollierbarer die Umwelt sei, desto eher erscheine einem ein Ort risikobehaftet. Öffentliche, schwer überschaubare oder stark frequentierte Räume wie der „Görli“ könnten die eigene Wahrnehmungs-, Deutungs- und Vertrauensfähigkeit sogar verringern und Angst erzeugen. Kriminalitätsfurcht sei dagegen dort schwächer ausgeprägt, wo man sich auskenne – selbst dann, wenn die tatsächliche Kriminalitätsrate durchaus Grund zur Furcht biete.

Der Soziologe Karl-Heinz Reuband fand 1992 in einer Studie außerdem heraus, dass der Grad der objektiven Kriminalitätsbelastung und –entwicklung nicht zwingend mit dem Maß der subjektiven Kriminalitätsfurcht Hand in Hand geht. Auf der Ebene der kognitiven Informationsverarbeitung seien insbesondere Effekte der Mediennutzung bei der wahrgenommenen Kriminalitätsentwicklung nicht zu unterschätzen. Tatsächlich beobachteten Soziologen, Kriminologen und Medienwissenschaftler wie Michael Windzio, Julia Simonson, Christian Pfeiffer und Matthias Kleimann in ihrer Studie „Kriminalitätswahrnehmung in der Bevölkerung“, dass Medien – ob beabsichtigt oder nicht – eine zunehmende Tendenz zum „Infotainment“ in ihrer Berichterstattung über Kriminalität aufweisen. Wo Unterhaltung und Information sich immer mehr vermischen und Meinungsforscher oder Politiker Sachverständigengutachten ersetzen, würde der kleine Raubüberfall schnell zum dramatischen Großereignis. Bei dem Versuch, die Stimmung der Bevölkerung angesichts solcher Geschehnisse abzubilden, würden die Medien laut der 2007 erschienenen Studie dazu neigen, selbstselektiv eben solche Meinungen von Nutzern einzuholen, die sich besonders betroffen fühlen. Eine mediale Generalisierung dieser Überzeugungen für die Gesamtgesellschaft biete der Entstehung von Ängsten und „gefährlichen Orten“ die perfekte Nahrung. Der Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Hans-Jörg Albrecht, beobachtete dieses Phänomen bereits 2004: „Die Politik reagiert heute stärker als früher auf Unsicherheitsgefühle und wird zum Instrument der Herstellung von Sicherheitsgefühlen“.

Im Fall vom Görlitzer Park mag es allerhöchste Zeit gewesen sein, dass auch der Senat eingriff, wie Henkel im November in einer Pressemitteilung zugab. Die Taskforce sei deshalb auch keine Gesprächsrunde, sondern ein Steuerungskreis, der das Ziel hätte „den Kriminellen das Geschäft so unattraktiv wie möglich zu machen“. Man würde nirgendwo in der Stadt rechtsfreie Räume dulden. Ein Plan, der nicht per se falsch ist. Die Selbstregulierung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, der angesichts der gnadenlosen Gentrifizierung ohnehin schon unter immensem Druck steht, scheint gescheitert. Zumindest im „Görli“. Dennoch ist fraglich, ob Polizei und Co. das richtige Mittel der Wahl sind. Studien wie die von Reuband zeigen, dass es keine Beweise dafür gibt, dass Polizeipräsenz das Sicherheitsgefühl des Einzelnen signifikant verbessert. Im Gegenteil: Die meisten Menschen würden sich häufig am Sichersten fühlen, wenn sie nie Polizei in ihrer Umgebung wahrnähmen. Ein Phänomen, das auch Stefan Oderberg* von der Initiative „Görli 4 All“ beobachtet hat: „In Deutschland vertrauen knapp 80% den Repressionskräften […] Wenn sie dann mitkriegen, dass da Polizisten durch den Park fahren, denken sie natürlich auch: Irgendwas muss hier ja faul sein“.

Photo: Sarah Näher

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Die perfekte Lösung als Illusion

Angst ist und bleibt ebenso wie das individuelle Sicherheitsgefühl eine zutiefst subjektive Empfindung, was es nahezu unmöglich macht, das persönliche Maß des Einzelnen an Schutzbedürfnis zu befriedigen. Wo sich der Eine durch erhöhte Polizeipräsenz geschützt und beruhigt fühlt, fürchtet der Andere angesichts der augenscheinlichen Überwachung um seine Freiheit. Auch die „sicherheitsarchitektonischen Maßnahmen“ der Taskforce verärgern viele Parkbesucher. So hatten Anwohner den Park erst im April 2014 mit gemeinschaftlichen Bepflanzungs-Aktionen wie „Obstbäume im Görli“ zu verschönern versucht. Dass viele der dabei gepflanzten Büsche und Bäume nun den neuen Sichtachsen und der geforderten Transparenz zum Opfer fielen, sorgt vielerorts für Unmut. Betonierte Freiflächen mögen zwar überschaubarer und leichter zu überwachen sein, einen Park stellt man sich jedoch in der Regel anders vor.

Speziell im Görlitzer Park spielt auch das Stichwort „Rassismus“ mit in die Ängste hinein. „Angst bedeutet hier in vielen Teilen ja auch einfach Rassismus, wobei Rassismus aus psychoanalytischer Perspektive eben auch die Angst vor dem Fremden oder vielmehr dem konstruierten Fremden ist“, erklärt Oderberg. Etwa Polizeikontrollen im Park würden häufig nach dem „Schema F“ erfolgen. Oderbergs Beobachtung nach steht die „Person of color“ im „Görli“ dadurch stets unter Generalverdacht – unabhängig davon, ob sie tatsächlich mit dem Drogenhandel zu tun hat oder nur einmal durch den Park läuft. Ein Problem, das auch Rollhäuser sieht: „Der schwarze Mann ist immer eine Angstprojektionsfläche. Da kommt natürlich ganz viel Irrationales mit rein. Angst vor dem Unbekannten. Allerdings muss man sich hier doch die Frage stellen: Muss dann der schwarze Mann weg oder muss ich vielleicht lernen mit meiner Angst anders umzugehen?“ Eine Überlegung, die die „Taskforce Görlitzer Park“ nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Die perfekte Lösung, die allen Beteiligten gerecht wird, kann und wird es nicht geben. Man kann nur versuchen Spielregeln zu schaffen, mit denen alle leben können, meint Rollhäuser. Dazu gehöre für ihn auch, dass man Angebote für die Dealer schafft. Kommunikation mag auch hier der Schlüssel sein. Das Fremde kennenlernen und so Ängste überwinden. „Wenn ein Bezirk wie Kreuzberg das nicht hinkriegt, ist das eine absolute Niederlage“, fügt er hinzu. Einfach mehr miteinander als gegeneinander.  Und solange das nicht gelingt, wird es Menschen ohne Perspektive und Alternative wie Amadou immer wieder geben. Menschen, die zur Angstprojektionsfläche für andere werden, obgleich sie eigentlich selbst genug zu befürchten haben.

*Name von der Redaktion geändert.


Sarah Näher studiert im 4.Semester Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Deutsche Philologie an der FU Berlin. Neben dem ausgeprägten Hang zur Wortschubserei, dem sie u.a. mehrere Jahre bei einem Musik- und Lifestyle-Magazin nachgehen konnte, treibt sie vor allem die Arbeit in der Musikbranche bei einem der größten, deutschen Rechteverwerter um. Hier absolvierte sie ihre Ausbildung und lernte das Urheberrechtsgesetz zu schätzen. Nebenher bloggt sie über Musik, Kunst, Kultur, Kaffee und Katzen.